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„T’ass nëmme wéinst den Doudesannoncen…“
Schenkt man dem volksmündlichen Lästermaul Glauben, dann bewährt sich in diesem Lande seit mehr als anderthalb Jahrhunderten ein publizistisch-ökonomisches Modell, das im weltweiten Vergleich als einzigartig dasteht: das Luxemburger Wort und seine Doudesannoncen, die der Zeitung, so wird behauptet, in der nationalen Presselandschaft ein De-facto-Monopol garantieren. Auch für 2015 bescheinigt TNS-Plurimedia dem erzbistümlichen Blatt – ob auf realem oder elektronischem Papier – eine tägliche Lesermasse von fast 40 Prozent der einheimischen Gesamtbevölkerung über 15 Jahre. Sprich: eine nahezu lückenlose Abdeckung im Segment der kulturell assimilierten Eingeborenen. Macht einen runden Zentner bedrucktes und zu entsorgendes Altpapier pro Jahresabonnement – und das, wie gesagt, allein aufgrund der Tatsache, dass auch wir Luxemburger sterblich sind und uns offenbar nichts so sehr interessiert wie die Namen der Toten vom Vortag.
„T’ass nëmme wéinst den Doudesannoncen“ lautet das geflügelte Wort, das den kommerziellen Erfolg des katholischen Flaggschiffs für alle Sehenden und Staunenden nachvollziehbar machen soll. Und tatsächlich vermag ein jeder in seinem näheren Umfeld eine Person zu benennen, deren Augenmerk, so glaubt man zu wissen, zuallererst und ausschließlich der Nekrologie gilt. Ein solch kurioses Leserprofil kennen die Oberliga-Leitmedien im Ausland nicht.
Im Carnet von Le Monde etwa sterben täglich nur ein knappes Dutzend Leute, darunter überdurchschnittlich viele Angehörige von Gelehrtengesellschaften oder Träger des Ordens der Ehrenlegion. Eine vollständige Auflistung aller Verstorbenen im Hexagon wäre schon allein aus Platzgründen nicht möglich, ansonsten die Pariser Zeitung, weil Frankreich rund 120 Mal mehr Einwohner zählt als Luxemburg, Tag für Tag um die 250 Seiten Todesanzeigen drucken müsste. In großen und mittelgroßen Ländern gehören diese folglich zur reservierten Domäne der Regional- und Lokalpresse, die, ihrer Verbreitung entsprechend, denn auch lediglich einen engen geographischen Ausschnitt der nationalen Sterbeaktualität abbildet. Den landesweiten Überblick mit Anspruch auf gefühlte Vollständigkeit gibt es nur in der Kleinstaaterei; sie ist die Spezialität von Reichweitenweltmeistern wie Luxemburger Wort, Liechtensteiner Vaterland oder Diari d’Andorra.
Wo jeder jeden kennt
Vergegenwärtigt man sich, dass die Familienanzeigen fester Bestandteil der täglichen Pflichtlektüre eines Großteils der sozial integrierten Luxemburger im Berufs- und Rentenalter sind, bekommt die Rede von einem Lande, in dem jeder jeden kennt, ihre ganz eigentümliche Bedeutung. Verhält es sich in der Tat nicht etwa so, dass, statistisch gesehen, mindestens einmal im Leben jeder Luxemburger den Namen jedes anderen Luxemburgers in der Zeitung liest – nämlich dann, wenn er oder sie gerade geboren oder soeben verstorben ist? Ja, da dämmert uns plötzlich, dass das Schlagwort vom Informationszeitalter, in dem personenbezogene Daten als Rohmaterial zur Produktion von wirtschaftlichem Mehrwert dienen, selbst auf die elementarsten, im Grunde
ur-menschlichsten Vorgänge wie Geburt und Tod zutrifft. Und dass der Lieferant dieses wertvollen Rohstoffs, nämlich der Anzeigenkunde, reichlich tief in die Tasche greifen muss (und neuerdings sogar eingeladen ist, seine Annonce doch bitteschön selbst online am Computer zu texten, zu gestalten, abzuschicken und dann die Rechnung – in klassischer Papierform – abzuwarten), obwohl es ja eigentlich angebracht wäre, ihn für seine Informationsware angemessen zu entlohnen.1
Hand aufs Herz: Zünftige Zeitungskriege sind in unserem Land zur Seltenheit geworden. Die einst heroisch ausgefochtenen ideologischen Grabenkämpfe zwischen Zentralorganen von „Klerikalen“ und „Antiklerikalen“ mittels samstäglichen Leitartikeln der Chefredakteure gebärden sich allenfalls noch als sporadische Kleinscharmützel. Eine der letzten großen Schlachten spielte im Jahr 2007, doch waren ihre Beweggründe keineswegs weltanschaulicher, dafür umso profanerer Natur. In der sogenannten Doudesannoncen-Knäip-Affär zwischen Saint-Paul und Editpress als respektivem Herausgeber von Luxemburger Wort und Tageblatt ging es um die ökonomisch handfeste, juristisch hingegen höchst delikate Frage, inwiefern die im LW veröffentlichten
Familienanzeigen – wobei der evidente Interessenschwerpunkt jener Gattung auf den Todesanzeigen liegt – mitsamt detaillierten Angaben über Trauerfeierlichkeiten und Gedenkspendenkonten ab dem Augenblick ihrer Publikation als frei verfügbare Informationen mit Dienstleistungscharakter im öffentlichen Raum zu betrachten sind oder aber, im Gegenteil, als geschützte Güter mit Exklusivwert, die nicht als solche von einer Drittperson kopiert werden dürfen. Im Klartext: Das Tageblatt hatte es sich zur komfortablen Angewohnheit gemacht, die im Wort erschienenen Annoncen mit 24-stündiger Verzögerung systematisch in den eigenen Spalten als „reine Information“ abzudrucken, infolgedessen das Wort, durch sinkende Auflagenzahlen und die drohende Konkurrenz der Gratismedien ohnehin in existentieller Alarmbereitschaft, eine der tragenden Säulen seines Businessmodells akut bedroht sah.
Bekam das Tageblatt noch in erster Instanz Recht, entschied das Berufungsgericht zugunsten der Wort-Macher, indem es dem Escher Haus unlauteren Wettbewerb vorwarf, der u.a. darauf gründe, dass die Gaspericher für die Produktion ihrer Avis mortuaires einen hohen technischen und personellen Aufwand betrieben, dafür entsprechende Fixkosten zu veranschlagen hätten und darüber hinaus auch die Kunden eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Zeitung träfen, was keinesfalls deren Einverständnis für das Erscheinen ihrer Anzeige in einer anderen Zeitung impliziere.
Rigidität und Pragmatismus
Tatsächlich begreift man die Doudesannoncen beim Luxemburger Wort seit jeher als eine Art nationale Identität stiftendes Kulturgut, mit dem sich allzu leichtfertiger Umgang nachgerade verbietet. Bis Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts etwa musste der Kunde, der am Anzeigenschalter bei einem der gleichermaßen geschulten wie gestrengen Mitarbeiter vorstellig wurde, mit einer engen Auswahl an fertig präparierten Text- und
Layout-Mustern vorliebnehmen. Es war im Prinzip nicht möglich, ein Inserat außerhalb oder jenseits der standardisierten Modelle zu schalten.
Vor allem durften keine Texte oder Grafiken erscheinen, die auf einen Lebenswandel des Verstorbenen abseits der gängigen katholischen Moralvorstellungen schließen lassen konnten. Ebenso ausgeschlossen waren Hinweise auf Bestattungsformen (Einäscherung, Zivilbegräbnis …), die laut damals geltendem kanonischen Recht für getaufte Katholiken nicht zulässig waren. Insistierte ein Kunde, dass es triftige, aus christlicher Barmherzigkeit nachvollziehbare Gründe gebe, eine von der Norm abweichende Anzeige zu veröffentlichen, verwies ihn der Schalterbeamte an die nächsthöhere hierarchische Ebene im Hause Sankt-Paulus. Sodann konnte es vorkommen, dass der Fall zur höchstinstanzlichen Entscheidung – bzw. Verhandlung – im Büro des Generaldirektor-Chefredakteurs landete. Dem Vernehmen nach fand sich dann aber allermeistens ein beidseitig gesichtswahrender Modus vivendi zwischen Hausdoktrin einerseits und Kundendesiderata andererseits.
Wer in den Tiefen des LW-Archivs stöbert und sich die Aufmachung der Todesanzeigen im Verlauf des vergangenen Vierteljahrhunderts zu Gemüte führt, wird eines evolutiven Spiegelbilds der stetigen Säkularisierung und Individualisierung der luxemburgischen Gesellschaft gewahr, die seitens der Zeitung von einer aus wirtschaftlicher Perspektive zweifellos empfehlenswerten Portion Pragmatismus begleitet war.
Was neben einer breiten Palette an optischen Elementen auffällt, ist vor allem eines: Die fatalistische Formel, wonach es dem Allmächtigen wohlgefällig war, dass ein Mensch aus dem Leben scheiden musste, ist eindeutig passé. „Il a plu au Tout-Puissant de rappeler à une meilleure vienotre cher et inoubliable (…)“ bzw. „Et huet eiser Härgott gefall, eise léiwen, onvergiesslechen (…) bei sech ze huelen“ war früher Standard; heute ist sie sowohl
theologisch wie anthropologisch nahe am No-Go. Der Tod wird nicht mehr als gottgewollter Akt, als unumgängliches und unausweichliches Sich-fügen-müssen in das ewig und geheimnisvoll Vorherbestimmte, sondern bestenfalls noch als Erlösung nach langem Leiden, schlimmstenfalls aber als bösartig-ungerechter, anonymer Schicksalsschlag wahrgenommen. Dies mag einerseits menschlich nachvollziehbar sein, weil in der Tat niemand einen Gott braucht, der nach eigenem Gutdünken und Pläsier die einen (lange und gut) leben und die anderen (früh und grausam) sterben lässt. Andererseits beschleicht uns das unsichere, ja unangenehme Gefühl, dass das Leben in seiner Eigenverantwortlichkeit noch lebensgefährlicher ist, als wir es gemeinhin zu realisieren bereit sind.
1 Vgl. Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? »Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr
Produkt.« Hoffmann und Campe, 2014.
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