Teilhaben können, aber nicht müssen

Interview mit Herbert Maly, Direktor von COOPERATIONS in Wiltz, über einen Ort für alle

In welchem Zusammenhang stehen der Begriff „Design for all“ und COOPERATIONS?

Herbert Maly: Der Ansatz bei COOPERATIONS war immer der, sich nicht ausschließlich auf Behinderung zu fokussieren, sondern ein Konzept anzubieten, das für eine breitere Bevölkerung geeignet ist. Trotzdem soll gewährleistet werden, dass auch behinderte Menschen dort Freizeit-, Kultur- und Kunstangebote sowie Arbeitsmöglichkeiten haben. Das beginnt jetzt richtig aufzugehen.

Worauf muss man bei einem Ort, der für alle geschaffen ist, besonders achten?

H.M.: Konzepte wie „Design for all“ sind gute Schlagworte, aber man darf durchaus auch differenziert darüber diskutieren. Zum einen lässt sich nicht alles für jeden vereinfachen. Zum anderen hat jeder ebenso das Recht darauf, teilzuhaben wie auch nicht notwendigerweise in alles inkludiert zu werden: Es geht darum, teilhaben zu können, aber nicht zu müssen. Das größte Glück ist, wenn alle teilhaben wollen und können. Als Geschichte des Gelingens würde ich unsere „Nuit des Lampions“ bezeichnen, zu der wirklich alle ohne Einschränkungen kommen.

Man muss sich bewusst machen, dass es trotzdem auch immer kulturelle Angebote geben wird, die z.B. geistig behinderte Menschen nicht interessieren werden. Wir bieten u.a. Workshops mit Künstlern an, an denen ausschließlich geistig behinderte Personen teilnehmen, weil sich manche so wohler fühlen. Es gibt ebenfalls Singletreffs, bei denen nur geistig behinderte Menschen zusammenkommen. Das ist legitim. Es geht nicht darum, irgendwen anders auszuschließen, aber jeder hat das Recht in einer/seiner sozialen Gruppe zu sein. Ein Ort für Viele erfordert große Aufmerksamkeit, da er die Bedürfnisse unterschiedlichster sozialer Gruppen erfüllen muss. Behinderte Menschen sollen sich bei uns ebenso wohlfühlen wie ein Bildungsbürgertum. Und das kann sich manchmal widersprechen.

In welchem Sinn?

H.M.: Dass die einen nicht kommen, wenn die anderen da sind.

Und wie geht man damit um?

H.M.: Einfach weiterarbeiten, indem ich darauf baue, dass Dinge sich langsam verändern und ein Selbstverständnis einzieht. Man muss also manchmal auch akzeptieren, dass ein Ort eine bestimmte Färbung bekommt. Mein atmosphärisch gefärbtes Bild einer Grundschule ist ein anderes als das einer Behinderteneinrichtung. Das heißt, meine Wahrnehmung des Ortes Schule ist eine andere als jene des Ortes Behinderteneinrichtung. Wir müssen bei COOPERATIONS darauf achten, dass die Außenwahrnehmung sich so entwickelt, dass die unterschiedlichsten Leute unser Zentrum als ihres empfinden – vom Gefühl, von der Atmosphäre her. Keine Gruppe sollte Dominanz dort bekommen.

Wie kann man Letzteres verhindern?

H.M.: Man kann es nicht immer verhindern. Man kann nur darauf achten, den Fokus öfter zu verlagern. Beim „Kannersummer“ stehen beispielsweise die Kinder im Mittelpunkt, da müssen sich dann andere Leute „unterordnen“. Wenn das Programm der kreativen Werkstatt stattfindet, in der mehr behinderte Leute sind, dann liegt der Fokus darauf. Wir organisieren auch Veranstaltungen des kulturellen Lebens, die zwar für alle zugänglich sind, aber nicht unbedingt Behinderung zum Thema haben und bei denen die Besucher, Gesprächspartner oder Nutzer nicht zwingend aus dem sozialen Bereich kommen. Die interessante Aufgabe dabei ist, dieses Miteinander immer wieder neu zu verhandeln und zu entscheiden: Stimmt’s oder stimmt’s nicht? Man hat außerdem auch Leute im Team, die für den Arbeitsbereich der Menschen, mit denen sie zu tun haben, sehr stark eintreten und da gibt’s halt eine ausgeprägte Streitkultur. (lacht) Die ist notwendig. Die ist auch nicht immer angenehm, aber es gehört eben dazu. Das sage ich trotz meines ausgesprochen harmoniebedürftigen Wesens.

Wo lauern die Herausforderungen?

H.M.: In sozialen Prozessen ist für mich wichtig, zu schauen, wer eine Stimme hat, wer was bestimmt. Es kommen Fragen auf wie: Wie lange braucht so ein Prozess? Läuft er vollkommen demokratisch? Wem nutzt der Prozess? Genau in diesen Spannungsfeldern bewegt sich unsere Arbeit. Zumal wir in Wiltz ja mit unserer Arbeit auch den öffentlichen Raum gestalten. Es gibt Leute, die unser Setting mögen und deswegen dorthin kommen. Es kann aber auch Konflikte geben, was wiederum bedeutet, dass man ab und an Klartext reden muss. Klarheit ist überhaupt das Um und Auf. Auch das gehört für mich zu einem Inklusions- und Partizipationsprozess dazu. Die Leute müssen wissen, was ihre Rolle ist, was genau ihre Aufgaben sind. Was ich damit sagen will: Es ist nicht immer nur Sonnenschein. Es kann durchaus sehr schwierig werden. Neben dem allgemeinen Verständnis von Kultur sind somit bei uns auch Diskussions-und Arbeitskultur ein kulturelles Thema. Manchmal ist es „mateneen an zesummen“, manchmal ist es ein Nebeneinander, manchmal ist es „einer dort und einer da“. Wichtig ist also, eine Diskurskultur aus- und durchzuhalten. Das Prinzip für mich lautet Stimmigkeit.

Welche Rolle spielt Geld in der Diskussion um Kulturangebote? Werden Menschen mit speziellen Bedürfnissen als potentielle Zielgruppe verkannt?

H.M.: Manche Veranstalter wollen den Aufwand nicht auf sich nehmen, weil das mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Andererseits handelt es sich um eine Zielgruppe, die man ansprechen kann, die durchaus auch ökonomisch interessant ist – wenn das entsprechende Angebot bzw. die notwendige Infrastruktur bestehen. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: Ich bin darauf gestoßen, dass ich ab einem gewissen Geräuschpegel beispielsweise in Restaurants nicht mehr gut höre. Tatsächlich hat mir mein Arzt eine Einschränkung diesbezüglich bestätigt. Das impliziert, dass ich bestimmte Lokale nicht mehr aufsuche, weil ich mich mit anderen Leuten unterhalten möchte. Wenn ich keinen Platz bekomme, an dem ich gut hören kann, geht das nicht auf. Somit verstehe ich auch behinderte Leute, die sich verschiedene Dinge nicht geben wollen.

Gerade wenn es um Behinderung, Arbeit und Kultur geht, steht in Luxemburg noch oft der Vorwurf der Ghettoisierung im Raum. Was sagen Sie dazu?

H.M.: Klar gibt’s noch Ghettoisierung. Luxemburg ist für mich ohnehin ein Phänomen, das teilweise die fortschrittlichsten Prozesse, z.B. in der Schule, nach vorne bringt und gleichzeitig erlaubt, an anderen Orten an konservativen und veralteten Modellen festzuhalten. Wobei ich aber sagen muss, dass innerhalb der letzten zwanzig Jahre im Bereich Behinderung unglaubliche Fortschritte gemacht worden sind. Behinderte Menschen in geschützten Werkstätten sind heute beispielsweise Angestellte, nicht mehr Sozialhilfeempfänger. Bei COOPERATIONS verhandeln wir auf Augenhöhe, denn unsere behinderten Mitarbeiter sind in der Personaldelegation vertreten. Mit allen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt. Da kommen ganz neue Fragen auf, die unsere Kultur (auch jene des Zusammenarbeitens) bestimmen. Somit müssen konkrete Modelle besprochen werden. Was geht und was geht nicht und wie muss man sich vielleicht in Zukunft anders aufstellen?

Inwiefern spielt Sprache im Sensibilsierungsprozess eine Rolle?

H.M.: Man sollte die Dinge beim Namen nennen. Natürlich machen Begriffe etwas deutlich. „Behindert“ ist per se ein Begriff, der von Nicht-Behinderten definiert wird, ja sogar bis zum Prozentsatz der Behinderung. Wir tendieren dazu, nicht über die Fähigkeiten und das Potential von Menschen, sondern eher über deren Defizite zu sprechen. Das ist etwas, was ich der Behindertenarbeit lange vorgeworfen habe, aber ich glaube, auch das ändert sich. Zudem neigt man dazu, generalisierend über behinderte Menschen zu sprechen, was wiederum merkwürdig ist, weil behinderte Menschen eine Vielfalt an Möglichkeiten sowie Potentialen und ebenso auch Einschränkungen haben, wie Nicht-Behinderte auch. Bei COOPERATIONS ist es uns wichtig, unsere Mitarbeiter zu befähigen, Autoren ihrer eigenen Entwicklung, selbst ihr eigenes Sprachrohr zu werden. Damit sie ihre Bedürfnisse nicht nur artikulieren, sondern auch durchsetzen können. Letztendlich geht es um Teilhabe und Partizipation und da gibt’s Barrieren. Wir wollen aber eine Gesellschaft, die frei von Barrieren ist.

Was bedeutet für Sie „Teilhabe“ in diesem Zusammenhang? Ist sie im kulturellen Bereich besser möglich als in anderen?

H.M.: Teilhabe erfordert bestimmte Kompetenzen. Um es salopp auszudrücken: Es ist unangenehm, wenn jeder Ahnungslose überall mitquatscht. Diese Partizipation um jeden Preis ist etwas, das ich außerordentlich in Frage stelle. Ein extremes Beispiel sind die rezenten Abstimmungen im politischen Bereich. Der Brexit wurde nicht anhand einer ausgereiften Fragestellung und eines fundierten Wissens abgestimmt, sondern die Leute haben aus dem Bauch heraus ihr Unbehagen über alles Mögliche zum Ausdruck gebracht, das dann sehr geschickt in Europafeindlichkeit kanalisiert wurde. Halbwegs objektive Information richtig herüber zu bringen ist das Thema. Ich glaube überhaupt, dass die Herausforderung der nächsten Jahre sein wird, wie man welche Information vermittelt. Denn ich nehme an, dass Brexit-Szenarios, in denen Menschen gefährlich und gegen ihr Interesse manipuliert werden, weiter zunehmen. Wir müssen uns also fragen, wie man Information so konzipiert und transportiert, dass die Adressaten vernünftig damit umgehen können? Für eine sinnvolle Teilhabe ist beispielsweise Leichte Sprache ein wichtiges Instrument.Diese erlaubt es, Menschen, die hochkomplexe Inhalte nicht verstehen, trotzdem einen Einblick zu geben. Davon profitieren nicht nur behinderte Menschen. Ich wäre zum Beispiel froh, wenn mir bestimmte Sachverhalte in einfacher Sprache dargestellt würden. Umgekehrt gibt es Dinge, die sich nicht in ganz leichte Sprache übersetzen lassen. Für Menschen mit einer geistigen Behinderung wird es wohl kein essentielles Problem darstellen, wenn sie nicht jede Nuance des Werkes von Bruce Nauman verstehen; zumindest wird das ihre Lebensqualität nicht maßgeblich einschränken. Dies ist jedoch der Fall, wenn Basisdinge der Politik, des gesellschaftlichen Lebens und auch der Kultur, also alles das, was die Meisten wirklich interessiert, nicht verständlich kommuniziert werden.

Zum Kunstbereich – haben wir es hier nicht gerade mit elitären, geschlossenen Kreisen zu tun?

H.M.: Ich finde es spannend, wenn wir versuchen, unseren Mitarbeitern, also auch den behinderten, Dinge zu vermitteln, die eine Herausforderung für sie bedeuten. Denn wir alle benutzen Referenzen zum Erklären. Wie können Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen gemeinsam Referenzen erschaffen? Man muss dann schon versuchen, die Lebenswirklichkeit, die die Leute haben, sprachlich zu erfassen. Das ist nicht immer einfach, vor allen wenn wir so ehrlich sind, zuzugeben, dass sehr viele Leute nicht alles verstehen, was in der Kultur, aber ebenso in der Philosophie vermittelt wird. Da bleiben viele außen vor. Auch da wäre Leichte Sprache eine Wohltat, die weit über den Bereich Lernbehinderung hinausgeht.

Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt Behinderungen/Barrieren im künstlerischen Schaffen?

H.M.: Wir haben uns 1995 im Rahmen des Kulturjahres Gedanken darüber gemacht, welchen Stellenwert die Kunst von behinderten Menschen in der zeitgenössischen Kunst hat. Zum einen gibt es eine Tendenz, zu sagen, Kunst sei eben Kunst und da sei es ganz egal, ob jemand behindert ist oder nicht. Andererseits gibt es den Ansatz, den künstlerischen Ausdruck mit der Biografie des Einzelnen in Verbindung zu setzen. Die Erfahrungen eines Menschen mit Behinderung sind oft fundamental anders als die eines nicht-behinderten Menschen. Es ist durchaus legitim, dass diese Erfahrungen mit in die Arbeit einfließen. Das kann zum Beispiel durch die Art des Ausdrucks, der künstlerischen Sprache oder des Sujets geschehen. Es gibt geistig behinderte Künstler, bei denen man stark wahrnimmt, dass die Biografie und das Wesen sich in ihrer Kunst ausdrücken. Gleichzeitig gibt es natürlich auch Künstler mit Behinderung, bei denen man die Behinderung praktisch nicht in den Werken wahrnimmt.

Nicht selten werden Werke behinderter Künstler anonymisiert. Entzieht das Visibilität? Wie stehen Sie dazu?

H.M.: Einerseits wollen manche Angehörige nicht, dass der Name ihrer Kinder oder Angehörigen irgendwo auftaucht. Dies verdeutlicht, dass Behinderung nach wie vor nicht selbstverständlich ist. Andererseits bemühen wir uns sehr wohl dort, wo es Bedeutung hat, den Namen zu vermerken. Das Problem sind nicht die behinderten Menschen, sondern die nicht-behinderten Personen. Denn sie kreieren ja meist den Arbeitsrahmen, der entweder stumpfsinnig oder intelligent und interessant ist. Wenn Künstler arbeiten, tun sie das in der Regel nicht als Angestellte. Bei uns sind sie jedoch angestellt, mit einer 40 Stunden Woche, was mit sich bringt, dass die Firma das besitzt, was der Angestellte erschafft. Außerdem arbeiten diese Menschen selten komplett autonom, sie werden u.a. beraten oder es gibt Prozesse der Zusammenarbeit. Und in diesem Dialog etwas zusammen zu entwickeln, impliziert, dass schon mindestens zwei Personen beteiligt sind, die auch genannt werden wollen. Schon seit einigen Jahren spricht man deshalb von multipler Autorenschaft. Im Rahmen dieses Partizipationsprozesses arbeiten Personen mit, die den Rahmen vorgeben und geistig behinderten Menschen Möglichkeiten des Ausdrucks bieten. Je nach Art des Prozesses kommt es zu dieser multiplen Autorenschaft, die man kennzeichnen muss, was wir im Übrigen auch tun.

Luxemburg, Barrierefreiheit und Politik.Wie passen diese drei Begriffe für Sie zusammen?

H.M.: Ich muss schon sagen, dass sich in Luxemburg etwas getan hat. Dazu gehört die Öffnung der Psychiatrie, das Gesetz der behinderten Arbeiter und die ganze Politik des Familienministeriums mit allen ihren Einschränkungen. Die Barrieren im Kopf sind eigentlich eine bereits gelaufene Diskussion. Es geht vielmehr darum, Dinge im politischen Feld umzusetzen. Menschen verändern sich ja auch dadurch, dass die Realität so gestaltet ist, dass barrierefrei langsam zum Selbstverständnis wird. Da ist mittlerweile die Politik weiter als viele Menschen. Kultur oder Kunst funktionieren für mich wie ein Seismograph; der Ausdruck spiegelt das wider, was man um sich wahrnimmt. In dem Sinne verändert sich allmählich das Selbstverständnis, mit Behinderung –auch im kulturellen Bereich – anders umzugehen. Davon bin ich fest überzeugt.

Danke für das Gespräch!

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