„Gehen Sie einmal ins Krankenhaus nach Mont-Saint-Martin, dann sehen Sie, wie eine Region ohne Wachstum aussieht, und dann vergleichen Sie das mit den Dienstleistungen, die Sie hier genießen. Die Situation dort ist eine einzige Katastrophe, das ist Dritte Welt.“

Wirtschaftsminister Etienne Schneider Dezember 2017 in einem Interview mit der Zeitschrift forum.

Am Anfang dieses forum-Dossiers stand ein Zitat aus einem Interview, das wir letztes Jahr mit dem damaligen (und vielleicht zukünftigen) Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) geführt hatten. Er nannte dabei die Situation der öffentlichen Grundversorgung in Longwy/Mont Saint Martin eine „einzige Katastrophe“, vergleichbar mit der Dritten Welt. Fünf Kilometer von der luxemburgischen Grenze entfernt Zustände wie in Madagaskar? Wir sind sicherheitshalber hingefahren und haben nachgesehen. Der Zweckbau aus den 70er Jahren ist alles andere als gemütlich, Luxus sieht anders aus, aber der Standard der medizinischen Dienstleistungen auch in Provinzkrankenhäusern ist in Frankreich sehr hoch (und auf ein IRM wartet man nicht so lange wie in Luxemburg). Nicht die Kommunen, sondern der französische Zentralstaat und die Departements zahlen diese Einrichtungen, d.h. der Steuerzahler in Bordeaux, Paris und Montpellier kommt für die Grundversorgung der französischen, größtenteils in Luxemburg beschäftigten Arbeitnehmer und ihrer Familien auf.

Die Grenzgebiete im Norden Lothringens haben dagegen nur ein geringes Steueraufkommen. Der französische Zentralstaat hatte nach der Stahlkrise in den 70er/80er Jahren diese Territorien praktisch abgeschrieben und größere Infrastrukturprojekte vermieden. Die Standortvorteile Luxemburgs (günstigere Steuern und Lohnnebenkosten) taten ein Übriges und haben dazu geführt, dass die Kommunen außer Einzelhandel praktisch keine Betriebe beherbergen, die Gewerbesteuern zahlen. Für einen Handwerksbetrieb aus Longwy und dessen Angestellten ist es weit interessanter, sich fünf Kilometer nördlich im luxemburgischen Pétange niederzulassen und dort Steuern zu zahlen, selbst wenn er Kunden in Frankreich bedient.

Da der luxemburgische Staat die Lohnsteuern direkt über eine Quellensteuer einzieht, fehlen den französischen Kommunen nicht nur die Gewerbesteuern, sondern auch die Einkommenssteuern der Grenzgänger. An der französisch-Schweizer Grenze ist es – wie auch sonst überall in Europa – genau umgekehrt. Frankreich zieht dort die Lohnsteuern seiner Einwohner ein und überweist einen kleinen Teil davon zurück an die Schweizer Kantone. Zu allem Überfluss lassen die Grenzgänger auch noch einen guten Teil ihres Lohnes (knapp 20%, Quelle BCL) bei Einkäufen in Luxemburg zurück. Auch hier führen günstigere TVA-Sätze und Accisen dazu, dass ein wichtiger Teil des Steueraufkommens (und der Umsätze) in Luxemburg verbleibt.

Nach Aussage des Bürgermeisters von Villerupt (Konferenz IDEA, 11. September 2018) sind die Steuereinnahmen von 42 der 50 Kommunen im Umkreis von Longwy niedriger als im französischen Durchschnitt. Das führt dazu, dass vielleicht nicht die nationalen Krankenhäuser, dafür aber die kommunalen Infrastrukturen (Schulen und Schulkantinen, Schwimmbäder, Kultur- und Vereinszentren, Bibliotheken, gemeindeeigene Straßen und Wege, und, und, und) auf einem Niveau sind, das nicht viel mit Luxemburger Standards zu tun hat. Die Grenzgänger, die in Luxemburg arbeiten (bis zu 70% der aktiven Bevölkerung dieser Kommunen), können sich von ihrem Gehalt dann womöglich ein schönes Haus bauen, doch wer sein Einkommen lokal und nicht auf der anderen Seite der Grenze verdient, kann schon den Eindruck gewinnen, in der Dritten Welt zu leben.

Für den ehemaligen (und vielleicht zukünftigen) Infrastrukturminister François Bausch gibt es keinen Grund, daran etwas zu ändern. Luxemburg verfolge eine Strategie des „win-win“. Dass Luxemburg seinen Gewinn schon längst eingestrichen hat, wird dabei übersehen. Die luxemburgische Seite möchte bislang nur für Projekte zahlen, von denen Luxemburg einen konkreten Nutzen hat. Das bezieht sich insbesondere auf Mobilitäts- und Infrastrukturprojekte, um die bald 200.000 Grenzgänger irgendwie vernünftig jeden Morgen nach Luxemburg hereinzubekommen und abends wieder herauszuschaffen. Kürzlich hat Luxemburg sich verpflichtet, im Laufe der kommenden 10 Jahre insgesamt 120 Millionen Euro in Verkehrsinfrastrukturen in Lothringen fließen zu lassen.

Die Vorstellung, dass das Land Luxemburg und seine Gesellschaft womöglich ein Interesse daran haben, nicht nur die Verkehrsflüsse, sondern auch die Lebensqualität in den Kommunen auf der anderen Seite der Grenze zu verbessern, ohne direkt etwas dafür zu bekommen, wirkt auf das institutionelle Luxemburg immer noch leicht absonderlich. Premierminister Xavier Bettel (DP) hatte beim Staatsbesuch in Frankreich im März dieses Jahres die französische Öffentlichkeit sogar mit dem Satz verblüfft, dass er keine Lust habe, “für die Weihnachtsbeleuchtung eines französischen Bürgermeisters zu zahlen“. Der Ausspruch zeigte vielleicht zu Hause bei seiner Wahlbevölkerung die gewünschte Wirkung (eine Initiative „Kee retour“ hatte sich gebildet, um eine „Rückerstattung“ von Steuern zu verhindern), in ganz Frankreich wurde die Formulierung des luxemburgischen Regierungschefs jedoch als Affront aufgenommen.

Dabei haben sich die Abhängigkeiten längst verschoben. Die luxemburgischen Unternehmen suchen händeringend nach Arbeitskräften, und die jungen und gebildeten Franzosen kehren dem Norden Lothringens den Rücken. Wer mobil ist, geht nach Bordeaux, Lyon oder Montpellier und bestellt sein Croissant und seinen Kaffee auf Französisch, statt sich im verregneten Luxemburg dafür entschuldigen zu müssen und zweimal am Tag anderthalb Stunden im Stau zu stehen. Die Zeit wird kommen, dass Luxemburg um die Arbeitskräfte insbesondere aus Frankreich wird kämpfen müssen, um seinen Wachstumspfad fortzusetzen – und dazu wird man über die Grenzen hinaus seinen Reichtum teilen, Verantwortung und Engagement zeigen müssen.

Aber auch in anderer Hinsicht könnte sich die „Metropole“ Luxemburg abhängig von ihrem Hinterland erweisen. Im MDDI wird ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Umweltkompensationsmaßnahmen auf der anderen Seite der Grenze zu implementieren. Im Wirtschaftsministerium und bei der Handelskammer träumt man sogar von „Freihandelszonen“ auf französischem Territorium, wo zum Teil luxemburgisches Arbeits- und Steuergesetz gelten würde. Grenzüberschreitende Gewerbegebiete sollen ein erster Schritt in diese Richtung sein. Davor stehen jedoch fast unüberwindliche Hindernisse in Form des Souveränitätsanspruches des französischen Staates sowie die Sorge etwa der Stadt Metz, dass die „Fiskalgrenze“ näher rückt und die eigenen Unternehmen weiter nach Norden ziehen, in die Nähe des dynamischen Finanzplatzes Luxemburg…

So müsste der Paradigmenwechsel nicht nur auf luxemburgischer Seite erfolgen. Gemeinsam mit den französischen Gemeinden müssen sehr kreative Formen der Zusammenarbeit und der Ko-Finanzierung entwickelt werden, um den schwerfälligen und wenig kooperativen französischen Zentralstaat zu umschiffen. Denn warum sollte Luxemburg eigentlich nicht in seinem französischen oder belgischen Hinterland in Kultur- oder Umweltprojekte, in Schul- und Sportinfrastrukturen investieren, um den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie ein wertvoller Teil der Dynamik und des Erfolges Luxemburgs sind? Am Ende ist es im ureigenen Interesse Luxemburgs, Verantwortung zu übernehmen für Territorien, die mittlerweile integraler Bestandteil seines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sind.

Historische Vorläufer geteilter Verantwortung hat es in unserer Region übrigens schon gegeben: Zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert wurden Gebiete zwischen dem Herzogtum Luxemburg und dem Herzogtum Bar (Lothringen), die wie ein Flickenteppich miteinander verwoben waren, gemeinsam verwaltet. Unter der Bezeichnung Terres communes ging dieses sehr erfolgreiche und sehr einträgliche Experiment in die Geschichte ein. Die noch weitgehend erhaltenen, prachtvollen Renaissancehäuser von Marville (knapp 40 km von der luxemburgisch-französischen Grenze entfernt) legen noch heute Zeugnis davon ab.

Überblick

Im ersten Beitrag des Dossiers erläutert die an der Uni Luxemburg forschende Geographin Estelle Evrard das Konzept der „Justice spatiale“ (S. 20). Sie plädiert nicht nur für eine harmonischere Entwicklung der Territorien im Rahmen einer grenzüberschreitenden Landesplanung, sondern auch für eine Art Gesellschaftsvertrag, der allen Menschen, die in Luxemburg arbeiten und in der Region leben, eine gemeinsame Vision bietet. Der beim Quotidien arbeitende Journalist Hubert Gamelon, der sich seit vielen Jahren mit der Unterfinanzierung der französischen Kommunen beschäftigt, beschreibt in seinem Beitrag den Stand der sehr kontroversen Diskussionen um die Aufteilung der Steuereinnahmen in der Region (S. 24). Der Präsident der luxemburgischen Industriellenföderation FEDIL erläutert im Interview seine Vision einer grenzüberschreitenden Aufgabenverteilung (S. 27) und kommt zu dem Schluss, dass eine Aufrechterhaltung der dynamischen luxemburgischen Wachstumsambitionen nur möglich sein wird, wenn die luxemburgische Seite auch bereit ist, Geldtransfers in die Region in Betracht zu ziehen.

Der Wirtschaftsgeograph Prof. Christian Schulz plädiert ebenfalls für eine weit stärker abgestimmte regionale Landesplanung, um insbesondere auch die Umweltinteressen Luxemburgs zu wahren (S. 31). Gerade in der Wasser(schutz)politik ist die gegenseitige Abhängigkeit am augenscheinlichsten und der Bedarf für eine kohärente grenzüberschreitende Politik am notwendigsten. Christian Wille, der an der Universität den Bereich „Border Studies“ etabliert, erläutert die wissenschaftliche Aktualität und Relevanz der fachübergreifenden Beschäftigung mit Grenzregionen im Rahmen der Universität der Großregion (S. 33). Serge Basso beschreibt am Beispiel der Escher Kulturfabrik was grenzüberschreitende kulturelle Zusammenarbeit leisten kann (S. 35), während Claire Audolient, Dominique Laurent und Julien Treffort von PwC aufzeigen, wie das sechstgrößte private Unternehmen Luxemburgs vorgeht, um seinen Mitarbeitern im Bereich der Mobilität entgegenzukommen (S. 38). Jérôme Rudoni, der die Internetseite adada betreibt, beschreibt ganz konkret die Medien(nicht-)nutzung von fünf Personen, die in Luxemburg als Grenzgänger arbeiten (S. 42). Der Soziologe Fernand Fehlen hat die wichtigsten Zahlen zum Thema zusammengetragen und kommentiert (S. 44) und der Geograph Claude Gengler, der seit Jahrzehnten die Entwicklung der Großregion beobachtet, zieht Bilanz über 50 Jahre institutionelle Zusammenarbeit (S. 46). Zum Abschluss stellt Michel Pauly ein Beispiel grenzüberschreitender Verwaltung vor (S. 49): Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert wurde die Region um die Städte Marville und Arrancy von den Herzogtümern Luxemburg und Bar als Kondominium gemeinsam verwaltet. Auch bei diesem Thema zeigt sich: Es ist alles schon einmal dagewesen…

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code