Tierschutz, Tierrecht und Tierbefreiung

Vom Erkennen der tierischen Leidensfähigkeit zur Zoopolis

„Es wird die Zeit kommen, da das Verbrechen am Tier genauso geahndet wird, wie das Verbrechen am Menschen“, schrieb einst Leonardo da Vinci. Diese Zeit ist noch nicht angebrochen. Die Wertehierarchie, die den Wert des Menschen über dem des Tieres ansiedelt, bestimmt immer noch unser Denken.

Während in vielen archaischen Religionen das Tier verehrt wird und die „Mitkreatürlichkeit“ wertgeschätzt wird1, ist das traditionelle christliche Denken seit jeher von einem Wertegefälle bestimmt.  Thomas von Aquin betrachtet die Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken als Teil der „göttlichen Ordnung“. Christliche Ansätze zum Konzept der „geschöpflichen Würde“2 konnten sich kaum durchsetzen.

Erst mit der Aufklärung verändert sich der Blick auf das Tier und ein neuer Aspekt rückt ins Licht.

„Die Frage ist nicht: Können Tiere denken? Und auch nicht: Können sie reden? Sondern: Können sie leiden?“, schreibt der Philosoph Jeremy Bentham 17893. Das Leidenspotential wird somit zu einem Kernelement der moralischen Haltung zum Tier und ist es bis heute geblieben. Bentham, der sich ebenfalls für Kinderrechte einsetzt, hofft auf den Tag, an dem Tiere ebenfalls die Rechte bekommen, die ihnen durch tyrannische Unterdrückung vorenthalten werden. Er gilt damit als einer der ersten Befürworter von Tierrechten.

Die ersten Tierschutzvereine, wie die RSPCA, entstehen kurz darauf. Die Aktivist*innen der RSPCA setzen sich gleichzeitig auch für Kinder und sozial Schwache ein und sprechen sich gegen Sklaverei aus. Seit Beginn sind somit Tierrechte und Menschenrechte eng miteinander verwoben, da sie auf einer gemeinsamen moralischen Grundlage basieren: Mitgefühl und Respekt.

Die Nationalsozialisten greifen dann den Tierschutz wegen seiner hohen Konsensfähigkeit auf und nutzen ihn als Instrument antisemitischer Politik, wie das durch Tierschutz argumentierte Verbot des Schächtens.

1970 prägt der britische Psychologe Richard D. Ryder (*1940) schließlich den neuen Begriff „Speziesismus“, der analog zum Rassismus und Sexismus für die Diskriminierung eines Lebewesens aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer  bestimmten Art steht.

Der Beginn der modernen Tierethik

Fünf Jahre später greift der australische Moralphilosoph Peter Singer (*1946),  als er in Oxford lehrt, das Konzept des Speziesismus auf und macht es zum Kern seines Standardwerkes Animal liberation4, dem 1974 sein vielzitierter Aufsatz
All animals are equal vorausgeht. Peter Singer, der heute den Lehrstuhl für Bioethik am Center for Human Values der Princeton Universität innehat, popularisiert die Idee der Tierrechte im akademischen Diskurs. In der Linie von Bentham vertritt er die Auffassung, dass Tiere individuelle Interessen haben, die es in moralischer Hinsicht zu berücksichtigen gilt. Das Interesse „Vermeiden von Leiden“ gilt hierbei als das zentrale Kriterium, aber auch Fähigkeiten wie Bewusstsein und Selbstbewusstsein werden in die Waagschale geworfen.

Dieser Klassiker der Tierrechtsbewegung legt die begriffliche, philosophische und politische Basis der modernen Tierrechtsbewegung. Er steht für den Beginn einer ausdrücklich rationalen Auseinandersetzung mit dem moralischen Status von Tieren.

Für einen Großteil der Tierschutzbewegung ist Singers Position noch zu radikal, für die Tierbefreiungsbewegung dagegen zu bürgerlich. Es dauert schließlich bis 1993 bzw. 1996, bis die französische und deutsche Übersetzung auf den Markt kommen. Erst mit der öffentlichen Reaktion auf die umstrittenen Diesel-Abgastests an Menschen und Tieren, die anfangs 2018 bekannt werden, scheint seine Position das Gehör zu finden, das er sich damals wünschte: „Could the vehemence of the response indicate a tectonic shift in ethical attitudes toward animals? (…) I have been arguing against the way we treat animals for the past 45 years, yet I have never seen such categorical repudiation of experiments on animals by senior corporate executives and government spokespeople as we are witnessing in Germany now.“5

Ein zweites Grundlagenwerk erscheint 1983. In The Case for Animal Rights6 spricht sich Tom Regan (1938-2017), Professor für Philosophie an der Universität von North Carolina, gegen Singers utilitaristischen Ansatz aus, welcher auf den jeweiligen Eigenschaften des Lebewesens basiert. Regan und Singer kennen sich aus Oxford, vertreten aber zwei verschiedene Ansätze. Für Regan besitzt jedes Lebewesen einen inhärenten Wert, den er aus der kantischen Tradition der Selbstzwecklichkeit ableitet.

Er plädiert demnach für die Abschaffung jeder Form von institutioneller Tierausbeutung, darunter die Jagd und Tierexperimente. Er fasst seine Forderung folgendermaßen zusammen: „Being kind to animals is not enough. Avoiding cruelty is not enough. Housing animals in more comfortable, larger cases is not enough. Whether we exploit animals to eat, to wear, to entertain us, or to learn, the truth of animal rights requires empty cages, not larger cages.“7

Der Theologe, Philosoph und Arzt Albert Schweitzer, der 10 Jahre vor dem Erscheinen von Animal liberation starb, hätte heute allen Grund sich zu freuen, bedauerte er doch seinerzeit noch: „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen.“

Mittlerweile gibt der meistzitierte Jurist der USA und Verfassungsrechtler Cass Sunstein einen Sammelband über Tierrechte mit Texten führender Rechtswissenschaftler*innen und Philosoph*innen heraus8 – ein weiteres Signal für einen grundlegenden Wandel.

Tierbefreiung: Klassenkampf statt Wertewandel

Infolge der Entwicklung der Intensivtierhaltung und des wachsenden Bewusstseins gegenüber den dort herrschenden Zuständen erfolgt in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Radikalisierung der Bewegung. In der Tradition des radikalen Umweltschutzes entsteht unter anderem die „Animal Liberation Front“, die heute in den USA als terroristische Vereinigung eingestuft wird. Sie führt seit 1976 – nach eigenen Aussagen – gewaltfreie Tierbefreiungsaktionen aus Labors, Massentierhaltungsanlagen und Zuchtbetrieben durch.

Die autonom-anarchistische Tierbefreiungsbewegung betrachtet den Speziesismus als Ergebnis eines Unterdrückungsverhältnisses und fordert das Ende der ausbeuterischen Sichtweise von dem Tier als „Teil der Ausgebeuteten in der bürgerlichen Klassengesellschaft“9 , als lebendige Rohstofflieferanten und Eigentum.

Sie lehnt den klassischen Tierschutz mit dem Ziel artgerechter Haltung und schonender Schlachtung radikal ab und fordert ein Ende der Nutzung von Tieren. Tierrechtler*innen wirft sie vor, innerhalb der gegebenen Macht- und Herrschaftsstrukturen der Mensch-Tier-Beziehung zu agieren, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend in Frage zu stellen. In seiner Wolkenkratzermetapher stellt Horkheimer die moderne Gesellschaft als ein Gebäude dar, dessen Keller eine Schlachtfabrik beherbergt, eine „Tierhölle“ mit Folter und Massenelend, auf deren Grundlage die Oberen ihr Leben genießen. PETA-Kampagnen wie „Holocaust on your plate“ von 2004 bedienen sich gerne solcher Bilder und arbeiten mit Aussagen wie der des jüdischen Literatur-Nobelpreisträgers Isaac B. Singer, von dem der Satz stammt: „Für die Tiere sind alle Menschen Nazis; für sie ist jeden Tag  Treblinka“, oder jene Aussage, die Theodor W. Adorno zugeschrieben wird: „Auschwitz fängt da an, wo einer im Schlachthof steht und sagt: Es sind ja nur Tiere.“ Solche polarisierenden Tabubrüche sind früheren Kampagnen wie „Lieber nackt als mit Pelz“, mit unter anderem Désiré Nosbusch, diametral entgegengesetzt.

Bürgerrechte für Tiere

2011 erscheint das nach Meinung einiger, „wichtigste Buch über die Mensch-Tier-Beziehung seit Animal Liberation“, mit einem völlig neuen Ansatz. Die Autoren von Zoopolis10 formulieren eine neuartige politische Theorie, die die vorangegangene ethische Theorie ersetzen soll. Die Autoren Donaldson und Kymlicka behaupten, dass das Tier durch das Zusammenleben mit dem Menschen und durch das Teilen eines gemeinsamen Lebens- raumes zu einem politischen Wesen geworden ist und dass sich mit der Domestizierung besondere Pflichten für den Menschen in Bezug auf das Tier ergeben. Zu den negativen Rechten, also allem, was der Mensch einem Tier nicht antun darf, müssten positive Rechte für die Tiere hinzukommen. Die domestizierten Tiere müssten als Teil der Gesellschaft angesehen werden und in ihre soziale und politische Ordnung eingeschlossen werden. Der Mensch wäre somit verpflichtet, aktiv auf ihr subjektives Wohlergehen zu achten. Dazu zählen, die Bedürfnisse der Tiere in die Stadt- und Landesplanung mit einzubeziehen oder mit Hilfe eines Mediators oder Tierrechtsanwalts ihre Rechte auch vor Gericht geltend machen zu können – wie es das neue Luxemburger Tierschutzgesetz im Ansatz bereits vorsieht.

Domestizierte Tiere sollten als vollwertige Bürger betrachtet werden. Tiere, die den gleichen Lebensraum mit uns teilen, ohne domestiziert zu sein, wie Kaninchen und Füchse, sollten als Einwohner betrachtet werden. Den Tieren in der Wildnis sollte ein Souveränitätsstatus zugestanden werden – mit den jeweils entsprechenden Rechten, darunter immer das Lebensrecht. „Wenn die Empörung über die Tierversuche in New Mexico aufrichtig ist – dann können am Ende der Debatte nichts weniger als die Bürgerrechte für Javaneraffen stehen“, schlussfolgerte rezent sogar der Deutschlandfunk in einem Kommentar zu den Abgastests.11

Reformistische Tierschutzbewegung oder abolitionnistische Tierrechtsbewegung?

Tierschutz-, Tierrechts- und Tierbefreiungsinitiativen koexistieren heute unabhängig voneinander als ethische und politische Bewegungen mit verschiedenen Standpunkten, Taktiken und Zielen. Es gibt wenige Berührungspunkte wie die jährliche Animal Rights Conference in Luxemburg, angesiedelt zwischen der ideologischen bottom-up Tierschutzbewegung und der intellektuellen top-down Tierrechtsbewegung. Immer noch streiten jedoch die einen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Kutschpferde, während die anderen für die Abschaffung der Pferdekutschen kämpfen.

Der karitative Tierschutzgedanke, der es darauf anlegt, durch Reformen, Anhebung von Standards und Sensibilisierung die Haltungsbedingungen von Tieren zu verbessern, um das Leiden mittelfristig zu verringern, bestimmt noch weitgehend den politischen Diskurs. Von seinen Gegnern wird er als Instrument zur Perfektionierung der Tierausbeutung bezeichnet, da er die Ausbeutung und Tötung nicht grundsätzlich in Frage stellt.

Dieses Ringen zeigt sich auch in den Diskussionen um den neuen Luxemburger Tierschutzgesetzesentwurf. Einerseits wurde der Begriff der Tierwürde in den Gesetzesentwurf aufgenommen, was Luxemburg international Lob einbrachte, andererseits erschien jedoch auch der Begriff des Schädlings („animal nuisible“) im Text. Stand anfangs im Titel „Projet de loi ayant l’objet d’assurer la dignité, la protection de la vie, la sécurité et le bien-être des animaux“, ist dieser jetzt auf „Projet de loi sur la protection des animaux“ reduziert.

Die Angst, dass das Postulieren von Tierwürde eine Herabsetzung der Menschenwürde bedeuten würde, ist jedoch unbegründet. Im Gegenteil. Tierrechte und -würde können nur auf Menschenrechten aufgebaut werden und können diese dadurch festigen. In diesem Sinne ist der neue Gerechtigkeitsdiskurs für Tiere Teil des humanistischen und zivilisatorischen Fortschrittes, zum zukünftigen Wohle aller menschlichen und nicht-menschlichen Tiere.

1 Martin Honecker, Grundriss der Sozialethik, W. de Gruyter, 1995.

2 http://www.altex.ch/resources/ altex_2008_4_337_342_Baranzke.pdf

3 Jeremy Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Dover Philosophical Classics, 2007.

4 P. Singer, Animal liberation, Harper Collins (1975).

5 https://www.project-syndicate.org/commentary/ volkswagen-monkey-experiments-backlash-by-petersinger-2018-02

6 Tom Regan, The case for animal rights, University of California Press, Berkeley (1983).

7 Tom Regan, Empty cages: Facing the Challenge of Animal Rights, Rowman&Littlefield Publishers, 2005.

8 Cass R. Sunstein, Martha C. Nussbaum. Animal rights: current debates and new directions. Oxford University Press, 2005.

9 Max Horkheimer. Gesammelte Schriften – Gebundene Ausgaben: Band 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932, S. Fischer Verlag, (1987).

10 S. Donaldson, W. Kymlicka, Zoopolis: A political theory of animal rights, Oxford University Press, 2013.

11 „Wenn schon Tests, dann auch Bürgerrechte!“ http://www.deutschlandfunkkultur.de/abgastest-mitjavaneraeffchen-wenn-schon-tests-dann-auch.2162. de.html?dram:article_id=409934

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