Totengewänder
Eine Doppelnaht aus Mode und Philosophie
Im Rahmen des Bachelorstudiums im Fach Modedesign an der Hochschule Trier werden Studierende vor die Aufgabe gestellt, eine Kollektion zu entwerfen sowie deren Entstehungsprozess in Buchform festzuhalten. Wie sie sich hierbei thematisch orientieren, ist ihnen freigestellt. Ich für meinen Teil beschloss, einen philosophischen Blick auf die Modeschöpfung zu werfen. Genau genommen versuchte ich dabei, mich vom eigentlichen „Modebegriff“ zu lösen. Hierbei beschäftigte ich mich im weitesten Sinne mit der menschlichen Existenz, der Kontrastierung zwischen Leben und Tod sowie jener zwischen Geist und Materie. Ebenso spielten verschiedene Seelenlehren eine wichtige Rolle. Präziser widmete ich mich dem Erscheinungsbild des Menschen und seinem Körper als äußere Schale, somit der Bekleidung als Umhüllung im Sinne einer wandelbaren Ausdruckskraft. Der Titel meiner Arbeit lautet „Ein Diskurs über das, was wir Seele nennen“. Ich werde im Folgenden schildern, wie es zum Entwurf meiner „Gewänder“ kam, die meine Herangehensweise an die obengenannte Thematik widerspiegeln.
Diesbezügliche Überlegungen interessierten mich bereits in jungen Jahren, später näherte ich mich ihnen aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Perspektiven an. Schließlich, während ich die Arbeit schrieb, führte der plötzliche Tod einer mir nahestehenden Person zur Erweiterung dieser Reflexionen. Ich erkannte, dass nur noch der leibliche Aspekt dieser Person wahrgenommen werden konnte, die äußere Schale, die den letzten visuellen Eindruck einer Erinnerung an diesen Menschen abgibt. Dieses Bild verbinden wir stets mit einem einzigen individuellen Wesen. Falls ich jemals gedacht haben sollte, dies sei wahrhaftig dieser Mensch, dann war ich einem Irrtum anheimgefallen. Denn dieser Leib ist nicht die Person, die ich kenne, und auch nicht deren Persönlichkeit: Alles, was diesen Menschen als Individuum ausgezeichnet hat, gibt es nicht mehr. Das Abbild als leblose Hülle hat nichts mehr mit einer Persönlichkeit gemein, es hat keinerlei Ausdruck, kennt keinen Schmerz, keine Reaktion und keine Emotion, es trägt weder Traurigkeit noch Rage in sich, weder Hass noch Liebe.
Das Einzige, was ich wahrzunehmen vermochte, war die absolute Ruhe, ein traumloser Schlaf, so friedlich wie eine lebende Kreatur ihn niemals finden könnte. Präsent war vielleicht noch etwas von einer gewissen Eleganz, wie ich sie mir sonst nie vorstellen könnte. Ich habe gesehen, wie der Körper sich umzuwandeln begann, zurückkehrte zum Staub der Erde und sich so wieder zusammenschloss mit der Natur. So erkannte ich mit eigenen Augen, dass dieser Zyklus von Leben und Tod für den Leib auf stofflicher Ebene unabwendbar ist und auch so, in seiner Vergänglichkeit, vorgeprägt ist für eine Existenz auf dieser Erde. Zugleich habe ich den Verfall der Erinnerung erlebt, das Verblühen dessen, was wir Schönheit nennen und all dessen, was wir je Liebe genannt haben. Ich habe aber auch gespürt, dass dieser Prozess nicht vereinbar sein kann mit der Ebene des menschlichen Geistes, mit dem Wunsch nach Ewigkeit, der doch tief in uns verwurzelt zu sein scheint.
In vielen Kulturen gilt der irdische Körper als überflüssiges Gefäß, das die nach Freiheit strebende Seele festhält. Ein im Käfig gefangener Vogel kann als Sinnbild dieser Vorstellung stehen. Doch besitzt nicht auch der freifliegende Vogel eine feste Hülle? Unsere leibliche Hülle wird bewertet im Licht der Unvollkommenheit; sie gilt als einschränkend und nachteilhaft. Unser innerer seelischer Impuls scheint nicht vereinbar zu sein mit diesen begrenzenden Eigenschaften. Doch wenn die Seele nur Gefangene dieses Käfigs ist, und nicht unlösbar mit ihm verknüpft, warum bleiben unsere Wünsche dann nicht rein immaterieller Natur? Oder andersrum gefragt: Entspringen scheinbar materielle Wünsche ausschließlich den Bedürfnissen des Körpers? Wenn wir auf einen unserer Sinne verzichten müssen, ist unser alltägliches Sein auf stofflicher Ebene nur noch begrenzt auslebbar. Verlieren wir beispielsweise unser Augenlicht, unterliegen wir dann nur dem Mangel primärer funktionaler Eigenschaften, oder fehlt uns etwa auch ein visuelles ästhetisches und emotionales Empfinden, welches mit diesen Funktionalitäten einhergeht? Und wer kann sagen, „das Seelische“ im Menschen sei vollkommener als sein Körper? Erkrankt der physische Leib, leidet auch die Psyche; erkrankt „die Seele“, wird auf Dauer auch der Körper krank. Wie könnten wir dann zwei voneinander unabhängige Teile postulieren?
Unabhängig davon, ob der Leib unlösbar mit dem Geist verknüpft ist oder nur vorübergehend als Träger eines Geistwesens fungiert, kann man allgemein feststellen, dass unser Körper in seiner Beschaffenheit nur sehr beschränkt veränderbar ist. Neben dem Streben nach ästhetischer Erscheinung kennen wir auch den Drang, unser Innenleben nach außen zu tragen. Die Bekleidung übernimmt hier die Rolle des individuellen freien Ausdrucks und der wandelbaren Umhüllung einer beständigen Gestalt.
Exkurs zum Totengewand im Spiegel verschiedener Kulturen
Die von mir entworfenen Leinen-Gewänder sind in erster Linie angelehnt an die Tradition der Totenbekleidung. Bei meiner Recherche spielte die Rolle der Bekleidung in den Toten- und Bestattungsriten eine essenzielle Rolle. In diesem Kontext ist auch die Verhüllung der Verstorbenen von Relevanz. Sie stellt einen gemeinsamen, häufig kodifizierten Teilaspekt der Ansichten einer Gesellschaft über Sterben, Tod und Bestattung dar; sie gibt ebenfalls Auskunft darüber, wie der Mensch dem Tod gegenübertreten soll. Trotzdem gilt es zu beachten, dass längst nicht alle Kulturen dem Brauch nachgehen, den Verstorbenen in ein bestimmtes Gewand oder Tuch zu hüllen, das wir gemeinhin als „Totenhemd/gewand“ bezeichnen.
Riten und Bräuche im Allgemeinen sind nicht selten mit stark abergläubischen Vorstellungen besetzt und spiegeln gewisse symbolische Inhalte wider. Im Toten- und Bestattungszeremoniell ist die Einkleidung eines Toten zudem an den jeweiligen Seelenglauben des Volkes geknüpft. Rational gesehen könnte man erst einmal einwenden, dass der Tote doch wohl keiner Bekleidung mehr bedürfe und dass der nackte unverhüllte Körper seiner eigentlichen gottgegebenen Natur am nächsten stünde. Nun werden auf einen Verstorbenen aber noch sehr oft und auf unterschiedliche Weise Dinge übertragen – sei es Nahrung, Kleidung, Mobiliar oder Ausschmückung des Raumes –, die er als Lebender genießen konnte. In gewisser Weise wird der Tote demnach noch als eine Art Kontinuität des Lebenden betrachtet und man möchte dem soeben Verstorbenen noch eine gewisse menschliche Würde bewahren.
In der Regel wird man auf unnötigen Prunk im Umfeld der Bestattung sowie auf modische und individuelle Kleidung verzichten. Es ist eher üblich, den Toten in ein unpersönliches und neutrales Gewand zu kleiden, oftmals um zu betonen, dass vor dem Tode und vor Gott alle Menschen gleich sind. Auch kann das Totengewand dem Pilgergewand nachempfunden sein. Ebenso wie eine religiös begründete Pilgerfahrt an eine heilige Stätte zu Lebzeiten soll das Totenzeremoniell auf die letzte Reise hindeuten, sei es in ein Jenseits, eine Unterwelt oder in ein Totenreich. Die meisten traditionellen Totengewänder tragen die Farbe Weiß, und die verwendeten Materialien bestehen aus unbehandelten und zersetzbaren Naturstoffen.
Ausgehend von diesen allgemeinen Feststellungen zur Kleidung möchte ich aber einige Bestattungsbräuche etwas näher betrachten. Im Christentum bleibt die traditionelle Beerdigung des Toten noch immer die häufigste Bestattungsart; orthodoxe Kirchen lehnen die Feuerbestattung sogar ab. Diesem Verbot liegt in erster Linie die Anschauung zugrunde, dass der Körper für die kommende Auferstehung als Ganzes beigesetzt werden sollte. Nach altem slawischem Volksglauben soll der Verstorbene im Jenseits in derselben Kleidung wieder aufleben, die er zum Zeitpunkt des Todes trug. Aus diesem Grund wird dem Sterbenden, wenn möglich frühzeitig schon das Totengewand angelegt, ein weißes langes Hemd, das zuweilen auch den Kopf bedeckt; gegebenenfalls dient es dem Verstorbenen im Sarg als Unterlage. Der Leichnam kann auch in ein weißes Tuch gehüllt werden, das abschließend mit einem Band umwickelt wird.
Beachtlich ist, dass in mehreren Kulturen das Begräbnis in seinem Stellenwert quasi mit einer Hochzeit gleichgesetzt wird: So werden zum Beispiel nach altrussischer Tradition noch unverheiratete Mädchen in festlichem Gewand beigesetzt, mit Geschenken und Blumen überhäuft, und es wird ihnen sogar ein Ehering angelegt, während der potenzielle Bräutigam hinter dem Sarge stehend der Zeremonie beiwohnt. Wie in anderen Religionen auch wird im Judentum der Tod als zum Leben gehörig angesehen, nur wird weit weniger einer jenseitigen Welt Beachtung geschenkt; umso mehr aber wird Wert auf ein angemessenes Leben im Diesseits gelegt. Wer demnach den Tod nahen sieht, bereitet sich schon auf ihn vor. Auch wird jedem Verstorbenen, unabhängig von Status, Geschlecht und Alter die gleiche Zeremonie gewährt. Traditionell dürfen soeben Verstorbene anfangs nicht berührt werden, dann werden sie gewaschen und in schlichtes weißes Leinen eingekleidet. Diese Gewandung (tachrichim) wird dem Bräutigam von seiner Braut schon zur Hochzeit geschenkt, und an jedem Neujahrs- und Versöhnungsfest wird es symbolisch angelegt.
Im Prinzip sehen sich auch die Muslime im Tode vor Allah gleich. Die meist unauffällig wirkenden Gräber spiegeln die Haltung wider, dass der Friedhof als Hinweis auf das Jenseits und weniger als Ort des Erinnerns an den Verstorbenen selbst gilt. Der Leichnam wird in Weiß gekleidet und ebenso sein Kopf bis zum Hals völlig eingehüllt (al-kafan), zuletzt wird er mit einem schlichten unverzierten Leichentuch überdeckt. Derjenige, der eine Pilgerreise nach Mekka unternommen hat, wird im Wallfahrtsgewand, das nur aus zwei gewickelten Leintüchern besteht, beerdigt. Nur wer als Märtyrer für Gott das Leben gibt, wird in den Kleidern begraben, die er zum Zeitpunkt seines Todes trug.
Es bleibt hervorzuheben, dass in Japan die Trauernden traditionell Schwarz tragen und dass Weiß als die „Farbe des Todes“ gilt. Sie symbolisiert vor allem die Reinheit der Seele oder einen asketischen Lebensstil; dieselbe Symbolik gilt auch für das Brautkleid. Nachdem der Tote gewaschen wurde, wird er in ein weißes Gewand (shini shōzoku) gehüllt, das dem eines Wanderers sehr ähnlich sieht; dies soll auf die bevorstehende Reise ins Jenseits hindeuten. In diesem Zusammenhang werden auch die Geister der Verstorbenen (yūrei) traditionell in weißem Gewand dargestellt. Im heutigen Japan werden junge Menschen schon früh darauf vorbereitet, sich mit ihrer Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Es ist üblich geworden, dass sie sich ihr Kleidungsstück aussuchen oder anfertigen lassen, in dem sie später einmal bestattet werden möchten.
Bei den Hindus wird der Verstorbene in der Regel von der Familie gewaschen, gesalbt und in weiße, schmucklose Tücher gewickelt. Wichtig zu wissen ist, dass der Tote mehr aus rituellen denn allein aus hygienischen Beweggründen gewaschen wird, denn mit dieser Reinigung des Körpers geht auch die Reinigung der Seele einher; aus denselben Gründen wurden die Tücher, die den gesalbten Leichnam umhüllen, auch in geheiligtes Wasser getaucht. Zudem müssen sie schmucklos sein, damit die Seele des Toten keiner Ablenkung ausgesetzt wird. Nach Anschauung des Hinduismus hat jedes Lebewesen einen unsterblichen Seelenanteil (Atman), der wie ein feinstofflicher Körper, bestehend aus Gedanken und Gefühlen, mit dem sterblichen fleischlichen Leib verbunden ist. Damit das Atman (das Selbst) nicht am Körper des Verstorbenen haften bleibt, muss hier der Körper vollständig verbrannt werden. Um seine Freisetzung zu erleichtern, wird der Schädel vorher rituell zerschlagen, am dritten Tage nach der Verbrennung wird die Asche des Verstorbenen im heiligen Wasser des Ganges oder im Meer beigesetzt. Zu dieser Zeit erlischt auch die Existenz des feinstofflichen Körpers; das Atman wird endgültig freigegeben für seine Rückkehr zum absoluten Ursprung (Brahman).
Abschließende Gedanken zu
meinem Entwurf
Zum einen kann man den bekleidungstechnischen Teil meiner Arbeit als eine einfache Kollektion von Totengewändern betrachten. Zum anderen handelt es sich – wie aus der Auseinandersetzung diverser Kulturen mit dem Thema hervorgeht – um weit mehr als nur Kleidungsstücke für einen toten Leib. Zur Anfertigung dieser Art von Gewändern benötigt es keinerlei modeschöpferischer Ausbildung, sondern nur der Hingabe einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Wesen unserer Menschlichkeit. Bei den Schnitten handelt es sich um rein aus Rechtecken bestehende Stoffteile, welche aus intuitivem Gefühlsfluss und Ästhetikempfinden heraus am Körper selbst drapiert wurden. Es gibt keine Versäuberungen und nur so wenig Nähte wie nötig, um die leicht fließenden Stoffteile am Körper zu halten, ohne diesen im Geringsten einzuengen. Der Gewandstoff, an sich leblose Materie, nimmt erst durch den belebten – oder unbelebten – Körper im Zusammenspiel mit dem Wind eine fließende Gestalt an. Ob Mann, Frau, jung oder alt – „ja, vor dem Tod, wie auch vor unserem Schöpfer stehen wir alle gleich da“. Im Sinne einer solchen Neutralität wird auch dieses Gewand getragen. Es geht nicht um die Besonderheiten einer Person gegenüber einer anderen. Und auch nicht um das so entstandene Design gegenüber einer anderen Kreation. Viel wichtiger ist der damit verbundene Prozess.
Wie weit entfernt der Mensch von seiner ursprünglichen Wesenheit zu leben versucht und mit welch großer Plötzlichkeit wir dorthin zurückgeholt werden, wenn der Wind Türen aufstößt, die wir aus Angst verschlossen hielten: Diese und ähnliche Fragen zu Sein und Sinn gelten gleichermaßen für jeden Menschen. Was ich allerdings zunehmend feststellen muss, ist, dass Menschen damit aufhören, nach Antworten zu suchen, dass sie die existenziellen Fragen in den Hintergrund drängen, um möglichst „unbelastet“ davon ihr Leben führen zu können. Wenn wir nicht einmal wissen wollen, woher wir kommen, wie können wir dann wissen, wozu wir existieren oder wohin die Reise geht? Die eigentliche Frage ist aber: Wenn wir wissen, dass diese Fragen früher oder später unvermeidbar werden, warum nehmen wir uns ihrer nicht eher an? Wie können wir überhaupt richtig leben, wenn wir Angst haben vor dem (Nicht-)Existieren? So sehe ich auch keine weißen Tücher, die einen leblosen Leib umhüllen, sondern fast königliche Gewänder, die nur darauf warten, von einem jeden von uns angelegt zu werden. Sie beinhalten einen symbolischen Aufruf zur Selbstermächtigung – und zwar durch das eigenhändige Anlegen zu Lebzeiten. Hiermit wird der so banal gedachte Begriff der Bekleidung im wahrsten Sinne des Wortes zum Ausdruck existenzieller Überlegungen.
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