TTIP: Ein weiterer Nagel am Sarg Europas

Editorial

Vor wenigen Tagen kam die gute Nachricht, dass
unser Land nicht mehr von der OECD als Steuerparadies
angesehen wird. Zwei Jahre lang hatte die
neue Regierung daran gearbeitet, Luxemburg ansatzweise
aus der Schusslinie zu holen, in die es sich ohne
Not seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts
hineinmanövriert hatte. Trotz des zunehmenden
Drucks von Seiten seiner Partner – insbesondere seit
dem Ausbruch der Finanzkrise 2008/2009 – hatten
Luxemburgs Regierungen noch bis 2013 versucht,
in diesem Dossier auf Zeit zu spielen. Und obwohl
es jedem klar sein musste, dass das Großherzogtum
riskierte mitten in Europa zum staatlichen Paria zu
werden, schien es für die Akteure des Finanzplatzes
bis zuletzt völlig abwegig, auf ihre Nischen-Vorteile
im internationalen Steuerwettbewerb zu verzichten.
In einer ehrenwerten, aber völlig geschlossenen
Gesellschaft bestätigten sich die Teilnehmer dieser
kleinen Welt unter Ausschluss der Öffentlichkeit,
dass alles bestens wäre in der Besten aller Welten,
und dass man ja nicht auf die „Neider“ im Ausland
hören dürfe. Exemplarisch für den Realitätsverlust
und die gesellschaftliche Abschottung in diesem Bereich
des wirtschaftlichen und politischen Lebens
muss der ehemalige Finanzminister Luc Frieden gelten.
Er hatte selbst nach einem verheerenden Interview
auf France 2 im Oktober 2008 keine Anstalten
gemacht, einen Richtungswechsel einzuleiten, obwohl
der Druck von Seiten der OECD, der europäischen
Partner und auch der Luxemburger Medien
und Öffentlichkeit eine nie gekannte Schärfe
erreichte.
Erst der Regierungswechsel zu BlauRotGrün, die
ernsthaften Warnungen institutioneller Akteure wie
der Europäischen Investitionsbank sowie der Kommunikationsgau
im Zusammenhang mit Luxleaks
TTIP: Ein weiterer Nagel
am Sarg Europas
schafften das Umfeld, in dem die ungesunde Allianz
von Politik, Finanzindustrie, Anwaltbüros und Big
Four ansatzweise gebrochen werden konnte.
Der Finanzplatz ist heute aus seiner Isolation heraus
und muss seine Interessen in einer einigermaßen
offenen Arena legitimieren. Zwischen den verschiedenen
Wirtschaftszweigen im Land findet erstmals
seit Jahrzehnten eine Interessenabwägung statt und
der derzeitige Finanzminister sieht sich offenbar
nicht mehr als reiner Lobbyvertreter und Erfüllungsgehilfe
des Finanzplatzes. Auf eine Stelle bei der
Deutschen Bank in London oder Frankfurt dürfte er
sich keine Hoffnungen machen …
Faszinierend an dieser Entwicklung, die uns in einigen
Jahren als peinliche Episode unserer Nationalgeschichte
vorkommen wird, ist jedoch noch etwas
ganz anderes. Wie war es möglich, dass ein Wirtschaftszweig
so lange außerhalb der Kontrolle der
Öffentlichkeit funktionieren konnte und wie konnte
es sein, dass sich insbesondere die politischen Mandatsträger
während Jahrzehnten in einem Prozess der
kontinuierlichen Selbstbestätigung gegenseitig versichern
konnten, dass das alles schon so in Ordnung
ist und im „Interesse Luxemburgs“? Die Abschottung
gegen Argumente von Außen, der ständige
und ausschließliche Kontakt mit den Vertretern des
Finanzplatzes und der Konsens innerhalb der
Gruppe der Einflussnehmenden und Entscheidern
sind eigentlich das Beeindruckende und Beunruhigende
an dieser Geschichte.
Eine ähnliche Entwicklung ist jetzt im Zusammenhang
mit TTIP zu beobachten. Obwohl alle Zeichen
auf Sturm stehen und der Politik klar sein müsste,
dass sie die Finger von diesem Abkommen lassen
Editorial
Wie war es
möglich, dass ein
Wirtschaftszweig
so lange außerhalb
der Kontrolle der
Öffentlichkeit
funktionieren
konnte (…)?
6 forum 356 Edito
sollte, findet das Misstrauen in der Gesellschaft kein
wirkliches Echo in Parlamenten und Regierungen.
In Österreich, Deutschland und Luxemburg (Länder
mit einer gut funktionierenden, freien Presse) lehnt
etwa die Hälfte der Menschen das Abkommen rundheraus
ab, in den meisten anderen Ländern wächst
das Lager der informierten Skeptiker gegenüber der
Masse derjenigen, die dem Thema in völliger Unkenntnis
entgegentreten. Doch es scheint so, als ob
der Sturm der Entrüstung über das skandalöse Vorgehen
der Unterhändler einfach an der Europäischen
Kommission und den nationalen Regierungen abprallt.
In Brüssel und zwischen Wirtschaftsvertretern
bestätigt man sich lieber gegenseitig, dass das schon
alles so in Ordnung ist, Handelsabkommen sowieso
zu kompliziert für Parlamente und das Volk sind,
und dass man in Zukunft einfach „besser erklären“
müsse. Nach dem europaweiten Aktionstag am 10.
Oktober (mit u.a. mehr als 150 000 Menschen auf
den Straßen Berlins und mehr als 2 000 Menschen
auf der Place Clairefontaine in Luxemburg) erklärte
die zuständige liberale EU-Kommissarin Cecilia
Malmström allen Ernstes, dass sie die TTIP-Gegner
„gehört“ habe und aus den Protesten schließe:
„Europeans want to know that trade can deliver
jobs, growth and investment for consumers, workers
and small companies. And they want more of those
results“.
TTIP wird so zu einem weiteren Nagel am Sarg
Europas. Das Abkommen hat das Potential, den europäischen
Bürger und Souverän noch mehr vom
europäischen Einigungsprojekt zu entfremden, das
durch Euro-, Griechenland- und Flüchtlingskrise
schon heute unter akuten Auflösungserscheinungen
leidet. TTIP nimmt daneben auch ganz konkret
der kleinteiligen europäischen Wirtschaft die
letzten Bewegungsspielräume, die sie braucht, um
sich gegen die Bulldozer von beiden Seiten des Atlantiks
zu schützen. Tatsächlich ist ja das ganze Gerede,
dass TTIP plötzlich den kleinen und mittleren
Betrieben helfen soll, reine Propaganda. Die lokale
luxemburgische Wirtschaft ist beispielsweise nicht
einmal in der Lage in der Großregion einigermaßen
wettbewerbsfähig aufzutreten, geschweige denn
wird sie den Sprung über den Atlantik schaffen. Im
Zusammenhang mit TTIP sucht man übrigens vergeblich
nach einer Sektoranalyse zu den Interessen
der einzelnen luxemburgischen Wirtschaftsbranchen
aus der Feder der Wirtschaftsverbände. Genauso
fehlt eine Analyse zu den Perspektiven des luxemburgischen
Sozialmodells vor dem Hintergrund von
TTIP durch den Wirtschafts- und Sozialrat.
Was den in einer Blase operierenden Regierungsund
Kommissionsvertretern jedoch nicht klar zu
sein scheint, ist noch etwas ganz anderes: Ein Abkommen
mit den USA ist derzeit selbst für gänzlich
des Anti-Amerikanismus unverdächtige Bürger ein
no go. Dazu hat der immer noch nicht ausgestandene
NSA-Skandal genauso wie der Cowboy-Stil der
amerikanischen Unterhändler und die Respektlosigkeit
der EU-Kommission gegenüber dem Europäischen
und den nationalen Parlamenten beigetragen.
Und über die privaten Schiedsgerichte, die in Zukunft
außerhalb der europäischen Rechtsnormen die
europäischen Staaten in Schach halten sollen, damit
diese ihre Umwelt- und Sozialstandards nicht noch
weiter verschärfen können, muss hier nicht einmal
ein Wort verloren werden. Die hybriden Modelle,
die gerade als Alternative entwickelt werden, sollen
– so die Strategie – am Ende als großer Sieg der Gegner
verkauft werden. Damit diese etwas zum Feiern
haben und dann Ruhe geben …
Auch hier muss man sich am Ende fragen, auf was
dieser seltsame Konsens basiert zwischen der nationalen
und europäischen Politik einerseits und den in
Brüssel organisierten Wirtschaftsinteressen andererseits.
Womöglich ist es die gleiche Art von Autismus,
die schon beim Blindflug des Luxemburger Finanzplatzes
eine Rolle spielte? Oder ist es die Auffassung,
dass Europa gar keine andere Wahl hat, als sich der
Politik und den wirtschaftlichen Interessen des großen
Bruders unterzuordnen? Beide Erklärungen sind
aus der Sicht des europäischen Bürgers inakzeptabel.
forum
TTIP hat das
Potential, den
europäischen
Bürger und
Souverän noch
mehr vom
europäischen
Einigungsprojekt
zu entfremden (…)

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code