Über die digitale Zukunft der Kultur

Ein Gespräch mit Serge Tonnar

Henning Marmulla: Wir stellen uns in diesem Dossier die Frage, wie wir in verschiedenen Bereichen, von der Sozialpolitik über die Klimapolitik und den Datenschutz bis hin zum Kulturbereich jetzt dafür sorgen können, dass wir in Zukunft krisensicherer und resilienter werden. Deine Idee eines KulturKanals (KUK), über den wir auch sprechen wollen, könnte eine Antwort auf die Frage sein, wie es im Kulturbereich nach Corona weitergehen könnte. Als das confinement begann, hast du mit Maskénada „Live aus der Stuff“ gegründet. Würdest du aufgrund deiner Erfahrung mit diesem Projekt sagen, dass das eine Krisenreaktion war, oder ist das vielleicht sogar ein Modell für die Zukunft?

Serge Tonnar: Zu glauben, man könne sich auf eine Krise vorbereiten, ist in meinen Augen eine Illusion. Wie sagt man so schön: Der Mensch plant, und Gott lacht. Letztlich kommt es doch immer anders als man denkt. Mit „Live aus der Stuff“ habe ich im Grunde genommen nur meine Arbeit fortgesetzt. Als wir damit begannen, war das confinement abzusehen, jedoch waren die Einschränkungen in der Anfangsphase noch nicht so streng, dass man niemanden bei sich zuhause empfangen durfte. Meine Ausgangsmotivation war es, einen Weg zu finden, die Menschen zu erreichen und das spectacle vivant, die Bühnenkunst ohne Bühne und ohne anwesendes Publikum gewährleisten zu können. Die einfachste Lösung war es, dorthin zu gehen, wo die Menschen sind – und das war in der Quarantäne nun einmal Facebook. Die Arbeit fortzusetzen und sich nicht von der Angst vor dem unsichtbaren Feind überwältigen zu lassen, war insofern ein kleiner Resistenzakt gegen die Einschränkungen, die er uns auferlegt hatte. Doch schon an den z. T. stark emotionalen Reaktionen auf den ersten Auftritt von Jean Muller musste ich feststellen, dass dem Ganzen eine andere Wichtigkeit zukam, nämlich einen Moment künstlerischer Schönheit miteinander zu teilen. „Live aus der Stuff“ war sozusagen la quarantaine d’artiste, in der Form aber kein Modell für die Zukunft, weshalb wir es nach 40 Ausstrahlungen eingestellt haben. Es war nicht vorgesehen, dass auf unbestimmte Zeit jeden Tag und nonstop frei Haus vom Handy aus gesendet würde. Wenn eine Sache in Gewohnheit übergeht, verliert sie ihren Reiz und wird nicht mehr wertgeschätzt. „Live aus der Stuff“ war insofern nicht unbedingt eine Reaktion auf die Krise, wohl aber etwas, das in der Krise entstanden ist und womöglich einen Weg für Möglichkeiten nach der Krise aufzeigen könnte.

H.M.: Viele andere Institutionen – von der Volléksbühn über das CNL bis hin zur Philharmonie – haben dann auch Online-Angebote und Formate digital zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig gab es Kritik daran, Formate in den digitalen Raum zu bringen, die eigentlich offline funktionieren. Zum Beispiel wegen der Qualität der Übertragung. Was geht in deinen Augen verloren, wenn man ein Konzert oder eine Lesung in den digitalen Raum überträgt?

S.T.: Es ist total absurd, beides vergleichen zu wollen. Nichts geht verloren und nichts wird gewonnen. Ein Konzert „live aus der Stuff“ ist nicht ein Konzert auf der Bühne, das sieht jeder Mensch auf den ersten Blick. Musiker bieten ihre Kunst schon lange online an, genauso wie es schon lange Zeit Live-Streamings gibt. Neu ist bloß, dass etablierte Kulturhäuser diese Instrumente jetzt erst für sich entdecken und nun einen wie auch immer gearteten Verlust befürchten. Man sollte weder beides vergleichen noch beispielsweise einfach ein Theaterstück filmen und es online übertragen, sondern digital etwas anbieten, was auch nur so funktioniert. Wenn jemand etwa die Kameraführung bei „Live aus der Stuff“ kritisiert, obwohl die Bestimmungen es nicht zulassen, dass der Künstler sich Unterstützung von einem professionellen Techniker holen kann, ist diese Kritik ungerechtfertigt. Hätte ich Jean Muller etwa sagen sollen: Deine Kameraführung war leider nichts, deshalb ist das, was du machst, keine Kunst!? Das war bisher auch die einzige Kritik, die ich entnehmen konnte, zumindest bin ich bisher noch auf keine gestoßen, die sich ausführlich mit dem Projekt auseinandergesetzt hätte. Das fehlt ohnehin in Luxemburg: Eine richtige Kunst- und Kulturkritik, die sich mit dem Inhalt und der Form auseinandersetzt und sich vielleicht sogar im Vorfeld einmal mit den Leuten austauscht, über die sie schreibt. Die Kritik, die derzeit existiert, basiert in erster Linie auf Monologen, auf die man nicht antworten kann. Es gibt keinen Dialog mit der Szene. Man kann nicht den künstlerischen Wert eines Konzeptes  mit dem Argument verneinen, dass der Künstler alleine mit seinem Handy live aus seinem Wohnzimmer sendet, wenn das Konzept und dessen Erfolg eben gerade darin besteht, dass ein Künstler alleine mit seinem Handy live aus seinem Wohnzimmer sendet. Viel deprimierender finde ich Aufnahmen, die jetzt, ein, zwei Monate später in dreifacher Kameraführung und tadelloser Tonqualität auf großen Bühnen vor leeren Sälen entstehen und weder Emotion aufkommen lassen noch Interaktion ermöglichen. Wenn ich drei Kameraleute und einen Toningenieur in Jean Mullers Wohnzimmer hätte schicken müssen, hätte ich ganz einfach gegen die Verordnungen verstoßen. Deshalb kann man mit der Kritik aus dem Elfenbeinturm nicht wirklich viel anfangen, da sie nichts mit dem Format und dem Inhalt zu tun hat.

Samra Cindrak: Du meintest eben, man hätte weder was verloren noch was gewonnen, andererseits haben etablierte Kulturinstitutionen endlich eine Online-Präsenz auf- oder bestehende ausgebaut. War es nicht längst überfällig, ein digitales (Zusatz-)Angebot zur klassischen Präsenzveranstaltung zu entwickeln?

 S.T.: Was ich meinte, ist, dass das richtige spectacle vivant gegenüber dem Online-Angebot weder was verloren noch gewonnen hat, weil man die beiden Erfahrungen einfach nicht vergleichen kann. Aber auch letzteres hat nicht wirklich an neuen Formaten gewonnen. Ich persönlich habe schon seit 13 Jahren einen YouTube-Kanal, die gibt es nicht erst seit gestern. Vor allem die Musikszene hat früh gelernt, mit diesen Instrumenten zu arbeiten. Künstler bieten nicht nur seit Jahren ihre Musik online an, sondern pflegen vor allem durch die Interaktivität, die digitale Plattformen ermöglichen, den Austausch mit ihrem Publikum. Das Online-Angebot ermöglicht es auch, Neues zu entdecken, ohne dafür in die Rockhal fahren und 80 Euro Eintritt zahlen zu müssen, nur um dann festzustellen, dass es einem gar nicht gefällt. Das sind die Vorteile des Digitalen, die eine Reihe von Institutionen aber eben jetzt erst entdecken.

H.M.: Du sagst, dass man das Online-Angebot mit dem Offline-Angebot nicht vergleichen kann. Trotzdem drängt sich der Vergleich gerade jetzt in der Krise auf, weil wir das eine nicht mehr haben und jetzt etwas online angeboten wird, um überhaupt ein kulturelles Angebot gewährleisten zu können. Gibt es in deinen Augen bestimmte Formate, die gar nicht online funktionieren und solche die sowohl online als auch offline funktionieren?

S.T.: Es gibt die drei Formate, die es seit dem Aufkommen des Digitalen immer schon gegeben hat. Ich bin z. B. Präsident des Künstlerkollektivs Maskénada, unsere Spezialität ist es, in situ, also an spezifischen Orten zu spielen, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Diese können wir nicht digital ersetzen. Ein Projekt, das länger geplant war und in den Kasematten stattfinden sollte, kann dieses Jahr nicht umgesetzt werden und auch nicht einfach digital verwandelt werden, weil der Ort eine Hauptrolle spielt. Deshalb arbeiten wir momentan mit dem gleichen Team an einem neuen Projekt, das zur vorgesehenen Zeit stattfinden kann. Ein Konzert in einem besonderen Raum kann man zwar aufnehmen und ausstrahlen, es wird aber nie an das Live-Erlebnis mit Publikum vor Ort rankommen. „Live aus der Stuff“ hingegen war ein Format, das man rein digital umsetzen konnte. Dann gibt es noch die Mischformen, die in der realen Welt stattfinden, aber Auswirkungen in der digitalen Welt haben, sei es dadurch, dass sie direkt übertragen oder dokumentiert und digital vermittelt werden. Es gibt Projekte, die sich dazu eignen, andere wiederum nicht. Das größte Problem der Kulturszene derzeit ist die Ungewissheit. Es ist nicht abzusehen, ob Veranstaltungen, die zwar nicht abgesagt, aber verschoben wurden, zu einem späteren Zeitpunkt auch tatsächlich stattfinden können. Dabei ist Verschieben gar keine realistische Option, weil keiner weiß, was in ein paar Monaten sein wird. Vielleicht haben wir es dann mit einem neuen Virus zu tun. Es wäre insofern nur ein Verschieben der Ungewissheit. Vielleicht wär es genau deshalb an der Zeit, tabula rasa zu machen und alles abzusagen, um neue Sachen zu schaffen, die in allen möglichen Formen umgesetzt werden können. Genau darum bemüht sich Maskénada gerade. Wir wollen versuchen, die geplanten Projekte zu den vorgesehenen Daten umzusetzen. Sollte das physisch nicht möglich sein, werden wir umdenken müssen. Der Vorbehalt, ein spectacle vivant im digitalen Raum sei nicht möglich, ist kein Argument und kann nicht als Vorwand dienen, lieber nichts zu machen. Es stimmt nämlich nicht. Maskénada funktioniert in situ, und der aktuelle Ort ist im digitalen Raum, da können wir uns noch so sehr dagegen wehren und beklagen, dass jahrhundertalte Codes der Theater usw. gebrochen werden. Ich sage: tant mieux.

H.M.: Es gibt Kulturformate, die nur digital funktionieren, man denke an Videospiele oder Videokunst. Bei anderen ist es letztlich Geschmackssache und eine Frage der Präferenz, ob ich lieber abends auf dem Sofa ein Konzert angucke oder ob ich es vorziehe, mit vielen Leuten gemeinsam in einem Raum zu sitzen oder zu schwitzen. Ich bin aber sicher, dass nach der Krise, wenn die Konzert- und Kulturhäuser wieder öffnen, viele Menschen das Live-Erlebnis einem Stream vorziehen.

S.T.: Beides wird bleiben. Das analoge und das virtuelle (oder audio-visuelle) Kunst- und Kulturangebot ergänzen sich seit Jahrzehnten, ich erkenne keine Konkurrenz. Wobei die Künstler, die am meisten Publikum anziehen, die sind, die beide Ausdrucksformen beherrschen.

S.C.: Derzeit wird viel darüber diskutiert, ob die Erfahrungen des Lockdowns langfristig etwas in unserem Denken, in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und zusammenkommen, verändert haben. Ist es nicht auch denkbar, dass Menschen in Zukunft alleine schon aus Sicherheitsgründen eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung machen und bestimmte Veranstaltungsformate gegeneinander abwägen könnten? Nehmen wir nur das Beispiel von Lesungen oder Konferenzen, die nicht zwangsläufig an ein Raumkonzept oder die Soundanlage einer Philharmonie gebunden sind und an denen man per Live-Schalte bequem von zuhause aus teilnehmen, sich per Chat-Funktion nicht nur zu Wort melden, sondern auch simultan mit anderen Teilnehmern austauschen kann, ohne sich nach einem anstrengenden Arbeitstag abends noch in ein Kulturinstitut begeben zu müssen. Ist nicht davon auszugehen, dass die Notlösung, Veranstaltungen in den digitalen Raum auszulagern, auch ungeahnte Annehmlichkeiten zu Tage gefördert hat, die sich nicht nur langfristig durchsetzen, sondern dafür sorgen könnten, dass sich der Kulturbetrieb stark verändert?

S.T.: Ich hoffe tatsächlich, dass wir in Zukunft nicht nur eine persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung machen werden, sondern vor allem auch darüber nachdenken, wie ökologisch und nachhaltig es beispielsweise ist, mit Lastkraftwagen voller Tour-Material um die halbe Welt zu reisen. Ich habe da allerdings meine Zweifel, wenn ich sehe, wie träge und ängstlich der Kultursektor auf digitale Veränderung reagiert. Das betrifft insbesondere traditionelle Strukturen wie das Theater oder das klassische Konzert, die sich viel schwerer damit tun, von der Digitalisierung zu profitieren, obwohl sie gut daran täten, etwas Eigenes anzubieten. Aus diesem Grund entwickeln wir momentan den KulturKanal, der den Künstlern und den Strukturen die Möglichkeit dazu bieten soll.

Das andere Problem ist die Monetisierung des Angebots, das derzeit quasi gratis zur Verfügung steht. Um mit YouTube online Geld zu verdienen, muss man als Künstler Abermillionen Klicks generieren. Da fallen selbst viele Abonnenten und Views eines verhältnismäßig sehr erfolgreichen luxemburgischen Künstlers kaum ins Gewicht. Die Frage, die sich stellt, ist, wie sich Künstler in einem Land mit einem relativ kleinen Publikum unter diesen Voraussetzungen ihren Lebensunterhalt online verdienen können. Auch hier gehen junge Musiker, die schon länger Plattformen wie Patreon nutzen, mit gutem Beispiel voran. Diese erlauben es dem Publikum, ihre Lieblingskünstler auf monatlicher Basis zu unterstützen. Im Gegenzug dazu erhalten die Fans dann exklusive Inhalte. Diese Generation von Künstlern erwartet nicht, nur vom Staat finanziert oder subventioniert zu werden, sondern bemüht sich direkt um finanzielle Zuwendung von ihren Fans und erreicht ganz oft ein junges Publikum, das vielleicht nicht große Summen ausgeben kann, seinem Künstler aber regelmäßige Unterstützung sichert. Dahinter steckt auch ein persönlicherer Ansatz der Unterstützung von Kultur, die im digitalen Raum passiert und durch digitale Bedingungen ermöglicht wird. Es geht nicht darum, viel Geld für einen internationalen Star hinzublättern, sondern gerade darum, jemanden zu unterstützen, den man kennt, der einem nahesteht und den man gut findet.

S.C.: Viele beklagen derzeit, dass digitale Kultur weder ein Ersatz noch eine wirkliche Alternative zum Live-Erlebnis sein kann, dabei kennen wir alle Extrembeispiele von Massentourismus in den großen Metropolen dieser Welt, Reservierungen von Eintrittskarten Monate im Voraus, stundenlanges Anstehen, drinnen statt atmosphärischer Bedächtlichkeit Menschenmassen, kaum Bewegungsfreiheit und der verstellte Blick auf die Kunst – eigentlich alles, wofür uns 3D, multiperspektivische Navigations- und Zoom-Funktionen, interaktive Online-Guides u.v.m. einigermaßen entschädigen könnten. Ist uns das „Kulturerlebnis“ nicht schon lange vor der Krise abhanden gekommen?

S.T.: Kunst und Kultur haben sich in Event-Kultur verwandelt, dass merkt man nicht nur in den Metropolen dieser Welt, sondern auch in Luxemburg sehr stark. Wie viel Geld wird investiert, um große internationale Stars in der Rockhal oder in der Philharmonie spielen zu lassen, in der Hoffnung ein vermeintlich höheres Niveau nach Luxemburg zu holen? Dabei geht es um Business. Künstlern wird vermittelt, dass sie sich an internationale Business-Standards anpassen müssen, um Erfolg zu haben. Das Kulturerlebnis ist zweitrangig geworden, aber auch das Selbstverständnis eines Künstlers, Künstler und nicht Businessmann sein zu müssen, hat sich verändert. Die jüngere Künstlergeneration ist der älteren darin um Längen voraus. Sie sind viel proaktiver geworden und geben sich Möglichkeiten, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken.

H.M.: Du hast eben Patreon und andere digitale Plattformen angesprochen, die international bereits von vielen Künstler*innen genutzt werden. Auch du bist dabei, eine Internetplattform ins Leben zu rufen – und zwar für die luxemburgische Kulturszene. Kannst du das Projekt KulturKanal kurz skizzieren? Was ist der KulturKanal und auf welche Art und Weise können Künstler*innen damit Geld verdienen?

S.T.: Ich habe den KulturKanal im Zuge von „Live aus der Stuff“ entwickelt, weil ich die Notwendigkeit erkannt habe, in Luxemburg eine unabhängige Plattform jenseits von YouTube und Facebook zu schaffen, auf der kulturelle Inhalte angeboten werden sollen, die hierzulande produziert, aufbewahrt und ausgestrahlt werden, um uns von der Abhängigkeit und Kontrolle durch die großen Plattformen zu befreien. Soziale Netzwerke würden in dem Fall nur noch benutzt, um zusätzlich auf Inhalte aufmerksam zu machen. KUK kommt aus dem Künstlerkollektiv MASKéNADA, wird aber sehr schnell eine eigene Struktur, mit eigener Finanzierung, werden.

Der zweite Aspekt betrifft die Künstler selbst und deren Arbeit. Es geht darum, ihnen eine gewisse Autonomie und Kreationsmöglichkeit zu geben, um in der derzeitigen Situation neue Inhalte zu schaffen, von denen sie aber auch darüber hinaus profitieren können. Wir überlegen, gezielt Aufträge an Künstler zu vergeben und ihnen ein kleines Budget zur Verfügung zu stellen, das ihnen ermöglichen soll, sich im digitalen Raum kreativ auszudrücken. Damit wäre der Künstler während der Kreationsphase, die zur Herstellung des „Produkts“ führt, finanziell abgesichert. Anschließend steht es dem Künstler frei, seinen Inhalt auf anderen internationalen Plattformen zu monetisieren. Normalerweise ist es ja so, dass der Künstler während der Zeit, in der er an etwas arbeitet, nichts verdient und auch bei Fertigstellung erst noch zusehen muss, wie er es dann unter die Leute bringen kann. Wir selbst streben keine Monetisierung auf dem KUK an, er soll für das Publikum kostenfrei sein, den Künstlern aber die Möglichkeit eröffnen, ihr Produkt sowie den Fankreis, den sie ggf. durch den KulturKanal erweitern oder erschließen konnten, mitzunehmen. Hinzu kommt, dass KUK eine Plattform von Künstlern, für Künstler ist. Die Redaktion besteht aus freischaffenden Künstlern, die bewusst auf Pseudo-Objektivität verzichten, und eine ehrliche und subjektive Programmation anstreben.

H.M: Woher kommt denn das Geld, mit dem die Künstler*innen bezahlt werden sollen?

S.T.: Die Anfangsphase wird von der Œuvre Nationale de Secours Grand-Duchesse Charlotte getragen, die bewusst Projekte unterstützen wollte, die in der Krise entstehen und darüber hinaus nachhaltig weiterbestehen können. Aus diesem Grund war ich bemüht, das Konzept schnellstmöglich auszuarbeiten, damit die Plattform schon Ende Juni online gehen kann, als Struktur aber unabhängig von der Krise eine Zukunft hat. Daneben werden wir einen Aufruf zum Crowd Funding machen und suchen noch einen großen Privatsponsor. Einige Projekte werden auch mit Partnern wie dem CNA, RTL, Radio 100,7 oder kulturellen Akteuren und Strukturen umgesetzt.

Eines der wichtigsten Erkenntnisse, die wir mit der Erfahrung von „Live aus der Stuff“ ziehen durften, war, dass wir ein anderes Publikum erreichen konnten. Menschen unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die sich unter normalen Umständen wahrscheinlich eher nicht fortbewegt hätten oder es sich schlicht und ergreifend nicht leisten können, in die Philharmonie zu gehen. Diese Erfolgserlebnisse wollen wir hier bewusst fortsetzen, sprich, Digitalisierung nutzen, um neues Publikum zu erreichen und die Verbreitung von kulturellen Inhalten zu fördern. Gleichzeitig laden wir alle Akteure ein, eigene Inhalte anzubieten. Dabei soll es nicht darum gehen, Ersatzformen alter Repertoires zu erschaffen, sondern zusätzliche Inhalte für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen.

S.C.: Im Zuge der staatlichen Unterstützung von Künstler*innen und Kreativen wurde viel über die unterschiedlichen Statuten von Kulturschaffenden und die daran gekoppelten Anforderungen diskutiert. An wen denkst du, wenn du „alle Akteure“ zum Mitmachen einlädst? Ist das eine Aufforderung zu verstehen, die nur etablierten und ausgewiesenen Kulturschaffenden vorbehalten ist?

S.T.: Der KulturKanal wird zwei Ebenen umfassen. Auf der einen wird die Künstler-Redaktion die Inhalte vom KulturKanal für den KulturKanal ausarbeiten. Daneben werden hoffentlich viele Inhalte von Partnern, damit sind hauptsächlich kulturelle Institutionen gemeint, entstehen, die Projekte, Künstler oder aber auch Einblicke hinter die Kulissen ihrer jeweiligen Bereiche pushen und interessante audiovisuelle Formate anbieten können, die die Menschen erreichen. Selbstverständlich werden wir Vorschläge von Künstlern entgegennehmen, die nicht Teil des offiziellen Teams sind. Die Zahl der Produktionen wird aber, besonders am Anfang, übersichtlich bleiben. Angedacht ist eher, dass zahlreiche Künstler hier über einen längeren Zeitraum arbeiten, so dass auf KUK eine Bibliothek von spannenden künstlerischen Projekten entstehen kann. Wir werden auf unseren sozialen Netzwerken aber auch gleich am Anfang Inhalte teilen und promoten, die nicht Teil unseres Programms sind. Wer letztlich ein Künstler ist und wer nicht, ist weder eine Frage des Diploms noch des Statuts beim Kulturministerium. Ich persönlich habe kein Statut beim Kulturministerium. Ich bin weder artiste indépendant noch intermittent du spéctacle und habe auch kein Diplom.

S.C.: Bist du in der Ausarbeitung des Projektes schon so weit, dass du Einzelheiten über die finanziellen Aspekte geben kannst? Wird jeder Künstler die gleiche Summe erhalten oder wird diese je nach Format, Formatlänge oder anderen Kriterien variieren?

S.T.: Es wird für alle ein Einheitspreis à prendre ou à laisser sein. Es ist inzwischen aber so, dass wir das ursprüngliche Konzept bereits überdenken. Wir wollten uns anfangs darauf konzentrieren, einzelne freischaffende Künstler dabei zu unterstützen, eigene Inhalte herzustellen, was, anders als bei intermittents du spéctacle, die feste Aufträge erhalten, noch weitaus schwieriger ist. Mittlerweile möchten wir lieber noch Duos generieren und zwei Künstler zusammenzubringen, die wahrscheinlich nie zusammengearbeitet hätten. Wir würden gerne gezielt intergenerationelle Zusammenarbeit provozieren, bei der die älteren Künstler sehr viel von den jüngeren lernen können und vice versa und wodurch die Beteiligten sich so neue Kompetenzen aneignen und neue Erfahrungen machen können, von denen beide Seiten profitieren. Die Älteren könnten technisches Know-how dazu lernen, die Jüngeren würden vielleicht etwas über den künstlerischen und menschlichen Werdegang eines freischaffenden Kunstschaffenden in Luxemburg und über dessen Emanzipationsprozess erfahren.

H.M.: Der KulturKanal ist, anders als Patreon, also kein wirkliches Geschäftsmodell für Künstler*innen, weil sie darüber ja nicht langfristig ihr Gehalt sichern könnten.

S.T.: Wir streben keine Monetisierung auf dem KulturKanal an, allerdings wollen wir in einer zweiten Phase über Patronage-, Mäzenat- oder Fan-to-Sponsor-Modelle nachdenken. In der derzeitigen Startphase geht es erst einmal darum zu experimentieren und zu testen, wie groß das Interesse und der Impact sind. Wir wissen aber schon durch „Live aus der Stuff“, dass beim Publikum eine Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung besteht. Viele haben sich nach Spendenmöglichkeiten erkundigt. Deshalb wollen wir den Künstlern in einer zweiten Phase die Möglichkeit geben, eigene Profile auf dem Kanal einzurichten, um sich dem Publikum zu präsentieren.

H.M.: Das wäre dann tatsächlich ein wichtiger Schritt, um den Kulturbetrieb resilienter zu machen, weil Künstler*innen dadurch die Möglichkeit gegeben würde, ein regelmäßigeres Einkommen zu generieren. Viele Musiker*innen, wie z. B. der Jazz-Musiker Jacob Collier, Amanda Palmer oder auch Judith Holofernes, die ihre Musik vorher ganz normal vertrieben haben, verdienen ihr Geld jetzt über Patreon. Sie bekommen Geld von Fans – das können drei, fünfzig oder hundert Euro sein – und geben dafür etwas zurück, sei es ein Lied oder sogar einen handgeschriebenen Brief.

S.T: Das Interessante daran ist, dass der konventionelle Kulturbetrieb umgangen wird. Daran sieht man, dass das Kulturbusiness nicht die Künstler sind. Letztlich sind sie es, die Inhalte liefern und nun Möglichkeiten finden, ihre Kunst ohne die Unterstützung des Kulturbetriebes zu vertreiben. Wenn die alten Schulen zu sehr an ihren alten Formaten hängenbleiben, werden sie sich irgendwann selbst abschaffen. Freischaffender Künstler in Luxemburg zu sein, ist eh sehr erniedrigend. Das kann ich aus meiner 30jährigen Erfahrung sagen und ich sehe, dass das immer noch so ist. Alleine schon, um das Statut des unabhängigen Künstlers zu bekommen, muss man drei Jahre lang als Selbstständiger gelebt haben. Wenn ich nachweisen kann, dass ich drei Jahre lang – mit Diplom übrigens immerhin noch ein Jahr – davon leben kann, ein unabhängiger Künstler zu sein, dann brauch ich euer Statut nicht mehr. Das sind noch die Überbleibsel jenes Misstrauens, die vorherrschten, als diese Gesetze eingeführt wurden. Man hatte Angst, dass jeder nun Künstler werden wollen würde, weil man Anspruch auf eine Sozialhilfe hat, die – eine weitere Erniedrigung – auf dem Mindestlohn basiert. Durch die Digitalisierung hat sich einiges geändert, das merke ich an meiner eigenen Karriere. Als ich damals meine ersten Sachen gespielt habe, wurde ich von den Medien boykottiert und hatte kaum Auftritte, weil die großen Veranstalter kein Interesse an luxemburgischer Musik hatten. Mein Publikum habe ich erst erreicht, nachdem meine Kinder mir damals geraten haben, auf YouTube und Facebook aktiv zu werden. Dadurch habe ich die Medien und den Kulturbetrieb umgangen und den Erfolg erfahren, der mir heute erlaubt, von meiner Kunst auf Luxemburgisch zu leben.

H.M.: Der Unterschied zu Plattformen wie YouTube und Facebook, wo kleinere Künstler*innen hauptsächlich Aufmerksamkeit und symbolisches Kapital, aber kaum Geld generieren können, besteht bei Fan-to-Sponsor-Modellen darin, dass sie ein wirkliches Geschäftsmodell sind. Sie werden womöglich einen Trend verstärken, den man „Ende der Gratismentalität“ nennen könnte, eine Mentalität, die sich in den späten 1990ern und frühen 2000ern mit den illegalen Downloadbörsen entwickelt hat und aktuell mit den legalen Streamingdiensten fortsetzt.

S.T.: Der Vorteil von Youtube, Facebook und anderen sozialen Netzwerken besteht darin, dass man Sichtbarkeit erreicht. Geld verdient ein Künstler immer noch hauptsächlich mit Konzerten und dem Verkauf von CDs, obwohl ich inzwischen einer der letzten sein dürfte, der überhaupt noch welche herstellt. Trotzdem ist es so, dass man nicht nur kostenpflichtigen Inhalt anbieten sollte, man muss dem Publikum auch mal etwas schenken können. Es gibt viele Künstler, die nie etwas gratis zur Verfügung stellen würden, was absurd ist. Nur so weckt man Interesse und nur so kommen Leute zu deinen Konzerten und sind bereit, dich konkret zu unterstützen. Für mich war das nie eine Strategie, ich erkenne eigentlich jetzt erst rückblickend, dass es sich so ergeben hat.

H.M.: In dem Konzeptpapier zum KulturKanal sind eine Reihe potenzielle Partner für das Projekt aufgeführt. Wie viele Zusagen hast du schon?

 S.T.: Momentan bin ich noch in der Phase, in der ich die Leute informiere und dabei bin, Kontakt aufzunehmen und auf eine Reihe Antworten warte, daher kann ich dir zurzeit noch nicht viele nennen. Von Anfang an mit an Bord war das CNA, das als nationales Zentrum für das Audiovisuelle sozusagen ein „natürlicher“ Partner ist und an der Entwicklung und Umsetzung des Konzeptes aktiv mitarbeitet, gerade weil sie erfahrene Leute in diesem Bereich haben. Sie werden später aber auch an den Inhalten mitarbeiten und selbst Inhalte liefern. Ein weiterer Partner ist das 1535° Creative Hub aus Differdingen, die eher einen kommerziellen Ansatz gegenüber Kreativität und Kunst verfolgen, allerdings im positiven Sinne. Innerhalb des Hubs gibt es viele interessante Strukturen wie die Gruppe foqus, eine Künstleragentur, die junge Künstler wie Edsun und Maz managen. Sie werden sowohl die Kommunikation über die sozialen Netzwerke übernehmen als auch an der Programmierung mitwirken. RTL und Radio 100,7 werden uns im technischen Bereich unterstützen, wir diskutieren aber auch über gemeinsame Inhalte, die man ggf. gemeinsam produzieren könnte und die auf mehreren Plattformen laufen könnten. Ebenfalls dabei ist das Luxembourg City Museum, das schon bei „Live aus der Stuff“ zwei historische Konferenzen gehalten hatte. Es werden aber sicherlich noch weitere hinzukommen. Die potenziellen Partner müssen sich fragen, wie sie die Kunstform, die sie anbieten, digital möglichst attraktiv präsentieren können. Es geht nicht darum, Inhalte zu verleihen oder auf dem KulturKanal dafür zu werben, sondern ein neues Publikum ansprechen. Das Ziel ist es, so weit wie möglich vom klassischen spectacle wegzukommen und die Potenziale des Digitalen auszuschöpfen. Wir prüfen derzeit, wie wir beispielsweise die Online-Interaktivität mit dem Publikum technisch sinnvoll umsetzen können, so dass nach dem Auftritt ein Austausch zwischen Publikum und Künstler stattfinden kann, was sonst eher nicht gegeben ist.

H.M: Das sind natürlich sehr große Partner, daher drängt sich eine Frage zum Thema Kultur und Demokratie auf, ein Thema, das auch einen gewissen Stellenwert im Konzeptpapier einnimmt, in dem die Rede davon ist, Kultur demokratisieren zu müssen, die Zugangsgrenzen senken zu wollen, mehr Leute damit erreichen zu können. Wie wollt ihr das systematisch auf beiden Seiten denken, um Menschen zu erreichen, die Kultur machen, aber keinen systematischen Zugang zu den Institutionen haben, und andererseits Rezipient*innen zu gewinnen, die noch keinen Zugang zu Kultur haben? Wie wollt ihr hinkriegen, dass es nicht nur zu einer Abbildung der Offline-Welt im Digitalen kommt, dass der KulturKanal nicht bloß ein weiteres, halt digitales, Kulturhaus wird?

S.T.: Das beantworte ich dir dann in einem halben Jahr. Ich denke, dass das Ganze attraktiv und einfach genug umgesetzt werden muss, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Kunst muss berühren, bewegen, ob offline oder online. Schlussendlich entscheidet das Publikum. Die ersten sechs Monate werden aber sicherlich eine absolute Experimentierphase sein, in der wir herausfinden werden, wie genau wir diese Ziele bestmöglich umsetzen können. Die Inhalte werden in erster Linie aber immer noch von Künstlern geschaffen, die keine digitale Strategie entwickeln werden. In diesem Fall haben wir dank der Zusammenarbeit mit erfahrenen Partnern aber auch die nötige fachliche Unterstützung, um das Projekt zu stemmen. Das sind Fragen, die wir Künstler auch gerne den Spezialisten überlassen.

S.C.: Im EU-Talk „Kultur a Pandemie“, an dem Kulturministerin Sam Tanson, EU-Abgeordnete Monica Semedo, die Leiterin des Escher Theater Carole Lorang und du kürzlich teilgenommen habt, meintest du, dass wir in Luxemburg keine Tradition der Kulturvermittlung haben. In deinem Konzeptpapier nennst du einige Ministerien, die sich am Projekt beteiligen könnten. Könnte die Beteiligung von Ministieren (man denke vor allem an das Bildungsministerium) der Kulturvermittlung helfen und würde ihre Beteiligung einen Mehrwert für das Projekt darstellen?

 S.T.: Man könnte natürlich auch umgekehrt fragen, was die Ministerien uns anzubieten haben, damit wir mit ihnen zusammenarbeiten. Wir sind gerade dabei, ohne die Hilfe eines Ministeriums ein Projekt umzusetzen, das bereits steht. Bisher haben wir es nur an das Kulturministerium und das Gesundheitsministerium geschickt. Alle anderen werden zeitnah darüber informiert. Wenn ein Interesse zur Zusammenarbeit besteht, können sie gerne Vorschläge machen, wie diese aussehen und was sie uns anbieten könnten. Ich will eigentlich von der Mentalität wegkommen, dass Künstler von Ministerium zu Ministerium um Almosen betteln müssen. Das gehört im Übrigen auch wieder zu der Erniedrigung, die man als Künstler hier erlebt. Es ist an der Zeit, dass die Ministerien proaktiv werden und mitbekommen, was „um Terrain“ entsteht. Wenn sie Interesse am Projekt haben, können sie sich mit eigenen Vorschlägen einbringen und ihre Unterstützung anbieten. Sie wären der Kulturvermittlung sicherlich förderlich. Gerade Kultur und Bildung sind Bereiche, in dem sehr wenig geschieht. Wir hoffen durch unsere Plattform, dazu beitragen zu können, dass sich das ändert.

(Das Gespräch fand am 13. Mai statt. Die Fragen stellten Samra Cindrak und Henning Marmulla)

 

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