Übergang in die Sekundarschule

Die Rolle der Entscheidungsverantwortung im Orientierungsprozess

Jede individuelle Bildungsbiografie ist durch eine Reihe von Übergängen in neue Bildungsphasen bzw. Bildungsinstitutionen strukturiert. Welche Wahlmöglichkeiten haben Eltern im Vorschulbereich? In welche Grund- und weiterführende Schule wechseln die Kinder anschließend? Diese „Übergänge im Bildungssystem“ stellen derzeit ein sehr aktives Forschungsfeld dar. Sie sind aber nicht nur wissenschaftlich interessant, ihre Gestaltung stellt auch zentrale Fragen für die Bildungspolitik. Die Übergänge sind von großer Relevanz, da sie mit sozialen Selektions- und Allokationsprozessen einhergehen, Einfluss auf den weiteren Bildungsverlauf und auf die spätere Positionierung auf dem Arbeitsmarkt nehmen.1

Eine der wichtigsten dieser Entscheidungen betrifft den Übergang von der Grund- zur Sekundarschule, welcher in Luxemburg nach der sechsten Grundschulklasse erfolgt. Hierzu trifft der Conseil d’orientation, bestehend aus Grund- und Sekundarschullehrkräften sowie dem Schulrat, eine verbindliche Übergangsentscheidung, die auf der schulischen Leistung des Schülers2 in den letzten zwei Grundschuljahren (Zyklus 4) basiert. Die Leistungen des Schülers, die herangezogen werden, umfassen Entwicklungs-, Lern- und Abschlussberichte sowie die Ergebnisse eines standardisierten Schulleistungstests (épreuves standardisées). Verschiedene (inter)nationale Studien3,4 deuten jedoch darauf hin, dass neben den Schülerleistungen auch weitere nicht leistungsbezogene Merkmale einen Einfluss auf die Lehrerurteile und die damit verbundene Übergangsentscheidung haben.

Befunde im Kontext des luxemburgischen Schulsystems

In diesem Zusammenhang konnten einige PISA-Ergebnisse4–7 zeigen, dass der familiäre Kontext sowie der Migrationshintergrund der Schüler ihre schulischen Leistungen sowie ihre Schullaufbahn beeinflussen. Darüber hinaus wird oftmals ein Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund diskutiert. Für das luxemburgische Bildungssystem konnte gezeigt werden, dass Schüler mit niedrigem sozioökonomischen Status sowie jene mit Migrationshintergrund weniger erfolgreich abschneiden.7 Insbesondere weisen die PISA Befunde für Luxemburg darauf hin, dass nur wenige (12%) der sozioökonomisch benachteiligten Schüler die höchste Sekundarschulform, das Lycée classique, besuchen. Demgegenüber werden 65% der sozioökonomisch begünstigten Schüler nach der Grundschule dem Lycée classique zugeordnet. Eine ähnliche Verteilung ist bei Schülern mit Migrationshintergrund festzustellen: Nur 21% der Schüler mit Migrationshintergrund besuchen das Lycée classique, während es in der Gruppe der Schüler ohne Migrationshintergrund 47% sind.7

Burton8 sowie Martin und Houssemand9 führen die Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund auf die Übergangsentscheidung zurück. Im Bildungsbericht10 wurde dieser große Unterschied bestätigt: Im Vergleich zu Schülern mit Migrationshintergrund wurden nach Ende des Schuljahres 2013/2014 mehr als doppelt so viele luxemburgische Schüler einem Lycée classique zugeteilt. Es konnte zudem gezeigt werden, dass der Migrationshintergrund eines Schülers einen stärkeren Einfluss auf die Übergangsempfehlung hat als der sozioökonomische Status des Schülers.11 Befunde bezüglich der Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund konnten nicht nur in Luxemburg dokumentiert werden, sondern zeigten sich auch in anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Deutschland und den Niederlanden.12,13

Rahmenbedingungen zur Erhöhung der Qualität bei Übergangsentscheidungen

Die genannten Befunde werfen die Frage auf, inwiefern eine Veränderung von schulischen Rahmenbedingungen den Einfluss nicht leistungsbezogener Merkmale wie z.B. dem Migrationshintergrund auf die Übergangsentscheidungen verringern kann. Angesichts der Ergebnisse aus der sozialen Kognitionsforschung geht man davon aus, dass Entscheidungen und Beurteilungen mittels einer informationsintegrierenden oder einer heuristischen Verarbeitungsstrategie getroffen werden können. Die informationsintegrierende Verarbeitung ist durch eine aufwändige Informationssuche gekennzeichnet, in der alle relevanten Informationen über einen Schüler (z.B. bisherige Schulnoten, erreichte Kompetenzstufen, elterliche Unterstützung) berücksichtigt und systematisch integriert werden. Im Gegensatz dazu ist die heuristische Verarbeitung durch die Verwendung von vereinfachten Entscheidungsregeln charakterisiert, die nur wenige der zur Verfügung stehenden oder oftmals sachfremde Informationen berücksichtigt. Heuristische Verarbeitung verläuft mit geringem kognitivem Aufwand und ist daher effizient. Die Verwendung beider Verarbeitungsstrategien wurde bereits im schulischen Kontext bei der Beurteilung von Schülern aufgezeigt.14,15

Befunde aus der sozialen Kognitionsforschung belegen, dass die Entscheidungsverantwortung, also das Ausmaß, in dem der Entscheidungsträger für seine Entscheidung in der Verantwortung steht, die Wahl der Verarbeitungsstrategie beeinflusst.16 Die informationsintegrierende Verarbeitung tritt eher dann auf, wenn die Lehrkraft in der Verantwortung für ihre Entscheidung steht. Obwohl die heuristische Strategie in vielen Situationen sehr hilfreich sein kann, stellt sich ein Problem der Vernachlässigung möglicher leistungsrelevanter Informationen und eine stärkere Berücksichtigung von sachfremden Informationen wie dem sozioökonomischen Status oder dem Migrationshintergrund.

Die Ergebnisse unserer Studien11 zeigen, dass die Übergangsentscheidungen der untersuchten Lehrkräfte vor allem auf den schulischen Leistungen der Schüler, insbesondere auf den Noten (bzw. Kompetenzbereiche) des letzten Schuljahres, sowie den épreuves standardisées basieren. Jedoch kommt insbesondere dem Migrationshintergrund eine weitere entscheidende Rolle zu: Schüler mit Migrationshintergrund haben – trotz gleicher schulischer Leistung – eine geringere Chance auf eine weitere Beschulung in einem Lycée classique.17 In diesem Zusammenhang zeigen die Befunde ebenfalls, dass eine niedrige Entscheidungsverantwortung die Berücksichtigung des Migrationshintergrunds der Schüler in der Übergangsentscheidung begünstigt, dass luxemburgische Schüler eher einem höheren Schulzweig zugeordnet werden. Im Gegensatz dazu werden im Falle hoher Entscheidungsverantwortung nur leistungsbezogene Merkmale für die Entscheidungen in Erwägung gezogen.18

In einer weiteren Studie wurde untersucht, ob die Beeinflussung des individuellen Verantwortlichkeitsgefühls zu einer unterschiedlichen Qualität der Übergangsentscheidung bei derselben Lehrkraft führt. Erfahrene Lehrkräfte erhielten hierzu Schülerprofile mit leistungsbezogenen und sachfremden Informationen (z.B. Migrationshintergrund) und wurden anschließend nach der geeigneten Sekundarschule für die entsprechenden Schüler befragt. Bei niedriger Entscheidungsverantwortung wurden Schüler luxemburgischer Herkunft in 90% der Fälle entsprechend ihrer schulischen Leistungen zugeordnet, während bei Schülern mit Migrationshintergrund nur 67% der Entscheidungen korrekt waren, d.h. aufgrund der Leistungen getroffen wurden. Dabei wurden die schulischen Fähigkeiten der Schüler mit Migrationshintergrund entweder unter- oder überschätzt. Nachdem die Lehrer aufgefordert wurden ihre persönliche Verantwortung für diese Entscheidungen einzuschätzen und anschließend weitere Schülerprofile zu beurteilen, waren ihre Entscheidungen nicht mehr vom Migrationshintergrund der Schüler beeinflusst.19

Das Entscheidungsverhalten der Lehrkräfte mit geringer persönlicher Verantwortung verfolgt eine heuristische Strategie, welche durch die Verwendung sachfremder Informationen das Risiko von Fehlentscheidungen enthält. Eine höhere Entscheidungsverantwortung löst einen informationsintegrierenden Ansatz innerhalb des Entscheidungsprozesses aus, welcher den Einfluss nicht leistungsbezogener Schülermerkmale verringert. Persönliche Entscheidungsverantwortung gehört damit zu den relevanten Rahmenbedingungen der Entscheidungsbildung. Trainings- und Interventionsprogramme, welche mittels Erhöhung der Verantwortung die Qualität der Übergangsentscheidung nachweislich verbessern, sind also von großer Bedeutung.19

In diesem Rahmen ist es interessant zu erwähnen, dass in Luxemburg bildungspolitische Veränderungen bezüglich der beschriebenen Übergangsentscheidungen bevorstehen. Während diese in Luxemburg bisher vom Conseil d’orientation getroffen wurden, wird ab dem nächsten Schuljahr die Verantwortung für die Übergangsentscheidung auf die Lehrkräfte, in Absprache mit den Eltern, übertragen.20 Folglich wird die Entscheidungsverantwortung der Lehrkräfte vorangetrieben, welche zu einer vermehrten Anwendung der informationsintegrierenden Strategie führen kann. Dies vermindert den Einfluss heuristischen Denkens und die Gefahr möglicher Fehlentscheidungen. Aus den vorliegenden Befunden ist zu erwarten, dass durch diese bildungspolitische Änderung die Chancengleichheit gefördert wird.

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