Ende 2016 wurde das Geheimnis über die Essenz des Großherzogtums und der Luxemburger Gesellschaft enthüllt: Laut Nation-Branding-Komitee ist die Luxemburger Gesellschaft offen, dynamisch und flexibel. Diese Charakteristika sollen jetzt von den Bürgern marketingtechnisch eingesetzt werden, ihnen einen Handwerkskasten bieten, um auf der Skipiste und am Strand Nicht-Luxemburger von den positiven Seiten Luxemburgs zu überzeugen. Die Übung hat zwar bei so manchen ein zynisches Lächeln hervorgerufen, ist an sich aber ganz interessant. Dies insbesondere im Zusammenhang mit den Nach-
wehen des Referendums von 2015 und den aktuellen Debatten über die Luxemburger Sprache und Identität. Angenommen, es ist tatsächlich möglich, von gemeinsamen Eigenschaften eines „Wir“ zu sprechen, wer sind dann die Teilchen dieses Moleküls, wie interagieren diese untereinander und wie nehmen sie sich wahr?
Einem jeden sein Luxemburg
Anfang 2015 veröffentlichte TNS Ilres die Resultate einer Umfrage, die im Vorfeld des Prozesses zur Definition eines Verkaufsbildes für Luxemburg durchgeführt wurde. Die Fragen handelten davon, wie die Einwohner Luxemburgs wahrgenommen werden – mit überraschenden Resultaten. Demnach sieht der Luxemburger die Einwohner des Landes vorwiegend als materialistisch und verwöhnt, aber gleichzeitig als multikulturell und zuverlässig. Ausländische Einwohner sowie Grenz-gänger betrachten die Einwohner ebenfalls als materialistisch, jedoch weniger als egoistisch, dafür als familienfreundlich, stolz und konservativ. In Bezug auf die Wahrnehmung des Landes ergibt sich ein ähnlicher Trend: Auf ausländische Einwohner und Grenzgänger wirkt das Großherzogtum kreativer, rebellischer, sicherer, intelligenter und als größere Führungskraft als auf Luxemburger.
Wie sind diese Divergenzen zu erklären? „Als Luxemburger fehlt uns Wissen über uns selbst“, meint Charles Margue, Studienleiter am Forschungsinstitut TNS Ilres.
„Während Grenzgänger eine ziemlich enge Sicht auf Luxemburg haben, sind sie die eigentlichen Gewinner und sehen sich auch als solche.“ Nicht-luxemburgische Einwohner, insbesondere sogenannte Expats – d.h. Fachkräfte internationaler Unternehmen oder Organisationen, die vorübergehend an eine Zweigstelle in Luxemburg entsandt werden – führen einen ähnlichen Diskurs. „Viele kommen ohne zu wissen, was sie erwartet und entdecken eine hohe Lebensqualität, eine interessante Arbeit und ein familienfreundliches Umfeld, sozusagen einen safe harbour“, erklärt Margue. Obwohl das Großherzogtum anfangs nur als Zwischenstopp gedacht war, entscheidet eine verhältnismäßig große Anzahl, sich für längere Zeit in Luxemburg niederzulassen.
Luxemburger Parallelwelten
Tagsüber mischen sich in Luxemburg nicht nur Grenzgänger und Expats, sondern vor allem auch Menschen mit traditionellen Migrationsgeschichten, also Personen mit unterschiedlichen Beweggründen, Interessen und Erwartungen an Luxemburg und die Luxemburger Gesellschaft. Wer demnach einen genaueren Blick auf die Zusammensetzung der ausländischen
Bevölkerung wirft, dem wird klar, dass diese nicht homogen, sondern äußerst segmentiert ist. In der Debatte rund um das Ausländerwahlrecht vor zwei Jahren wie auch in der aktuellen Sprachendebatte wird die Luxemburger Gesellschaft jedoch lediglich in zwei Gruppen gesplittet: die Bewohner mit Luxemburger Nationalität und jene mit ausländischem Pass oder auch noch Bewohner, die Luxemburgisch sprechen, und jene, die es nicht tun. Dieses vereinfachte Bild schafft die Grundlage für einen Diskurs, in dem – wie so oft – die Komplexität der realen Situation nicht beachtet wird. Folglich formt sich aus der Integrationsfrage ein Mosaik, das aus vielen verschiedenen Farben und Teilchen besteht und nicht auf einzelne Elemente wie die Luxemburger Sprache herunterdekliniert werden kann.
Ein traditioneller Vektor der Integration sei bisher die Schule gewesen, erklärt Margue, aber die Herausforderungen des bisher rigiden Sprachkonzeptes sowie der schlechte Ruf des Luxemburger Schul-
systems schreckten die Expats ab. Während sogenannten traditionellen Migranten keine andere Möglichkeit bleibt, als die Kinder an der öffentlichen Schule einzuschreiben, schicken Expats ihre Kinder auf internationale Privatschulen. Der Graben zwischen „Wirtschaftsmigranten“, Luxemburger und Expats wird auf diese Weise vertieft. Während viele Luxemburger Kinder die „Gewinner“ des hiesigen Schulsystems sind, gelten Kinder mit Migrationshintergrund oft als Verlierer. Die Nachkömmlinge der Expats wachsen in einer ganz eigenen Welt – oft hinter geschützten Mauern – auf. „Die Situation ist zudem komplizierter, als dies auf den ersten Blick scheint, denn die internationalen Privatschulen sind nicht nur nach Sprache, sondern auch nach Milieu getrennt“, fügt Charles Margue hinzu und verweist u.a. auf die englischsprachige
St. George’s School, die International School, die Europaschule und die École Charlemagne. Bedeutet dies angesichts der wirtschaftlichen und soziodemographischen Entwicklung des Landes das Ende der öffentlichen Schule und somit des traditionellen Integrationsprozesses? „Eher nicht“, lautet die Antwort des Meinungsforschers, denn „junge Expats denken heute anders und schicken ihre Kinder zunehmend an die öffentliche Schule. Sie erkennen, dass die Mehrsprachigkeit wichtige Vorteile mit sich bringt, insbesondere wenn sie in Luxemburg bleiben.“
Auch die Gruppe(n) der Menschen mit einer traditionellen Migrationsgeschichte ist überaus heterogen. Zum einen habe sich der öffentliche Dienst zu einem sozialen Ventil entwickelt, sagt Margue, was soviel heiße, dass der Beamtenstatus und die damit einhergehenden Annehmlichkeiten nicht nur der Traum eines jeden Luxemburgers seien, sondern z.B. auch von Portugiesen zweiter Generation und den Immigranten vom Balkan.
Demzufolge finden sich heute innerhalb des Lehrkörpers und in Entscheidungs-
organen portugiesische oder italienische Namen. Die meisten fühlen sich sowohl portugiesisch als auch luxemburgisch (siehe hierzu auch das Mini-Dossier über portugiesische Immigration in forum 363). Zum anderen sei auch das Miteinander – oder eher Nebeneinander – ausländischer Gemeinschaften durch ein gewisses Konkurrenzdenken gekennzeichnet. So habe sich das Zusammenleben ex-jugoslawischer und portugiesischer Mitbürger in der Vergangenheit oft als schwierig dar-
gestellt. „Nach dem Balkankrieg befürchteten viele Portugiesen, dass Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen könnten“, erklärt Margue.
„Bosnier waren zu dem Zeitpunkt zum Teil besser ausgebildet, haben die Schule als sozialen Lift genutzt und hatten objektiv gesehen bessere Aussichten.“
Auf die Frage, ob es heute ähnliche Ängs-te in Bezug auf irakische und syrische Flüchtlinge gibt, antwortet der Soziologe, dass die Luxemburger als Geschädigte des Zweiten Weltkriegs teilweise mehr Verständnis für Kriegsflüchtlinge haben. Heute sei die Wirtschaftslage stabil und die Arbeitgeberschaft den Flüchtlingen positiv gesinnt. Denn die Betriebe fänden nicht genug qualifizierte – und „hungrige“ – Arbeitnehmer. Es handele sich hierbei um wichtige Faktoren, die zur „Willkommenskultur“ beitragen. In den Jahren 2008-2010, als eine zweite „Welle“ von Menschen vom Balkan in Luxemburg ankam, sei die Wirtschaftssituation ungünstig und die Reaktion deshalb weniger positiv gewesen. „Eigentlich ist die Konkurrenz nicht größer für den Portugiesen, sondern für den Luxemburger“, erklärt Margue. Flüchtlinge – wenn das Trauma nicht zu groß ist – mögen sich beweisen und „bis der Luxemburger gemerkt hat, dass er schlecht wegkommt, weil er zu sehr auf seinen Komfort fokussiert ist, haben die Flüchtlinge einen Arbeitsplatz und gehen ihre Kinder zur Schule. Wählen tun schlussendlich aber die Luxemburger und die anderen nicht…“
Teile und herrsche
Die luxemburgische Gesellschaft sowie die verschiedenen ausländischen Bevölkerungsgruppen sind also mehrfach getrennt: durch Sprache(n), Milieu, Erfahrungen und Erwartungen. Diese Parallelwelten haben keine oder nur sehr wenige Berührungspunkte; objektive Spaltungen sind kaum zu übersehen und „das Potenzial zum Vulkanausbruch besteht“. „Ob es aber tatsächlich dazu kommt, weiß ich nicht“, überlegt Charles Margue. Die Beziehung zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften nimmt die Form einer Vernunftheirat, oder besser gesagt eines „pacs de raison“ an. Luxemburger und Ausländer – ob Grenzgänger, Expats oder Menschen mit einer traditionellen Migrationsgeschichte – sind nämlich stark voneinander abhängig: „Entweder wir alle gewinnen, oder wir alle verlieren.“
„Solange der Kuchen kontinuierlich größer wird, gibt es auf jeden Fall keine Explosion“, denkt Margue. Der Wirtschaftsfaktor erklärt in seinen Augen einen großen Teil des mehr oder weniger friedlichen sozialen Nebeneinanders. Aktuelle Diskussionen über die Luxemburger Sprache und Identität riskieren aber, diese Aspekte zu einer Waffe werden zu lassen, welche die Grenzen zwischen den Parallelwelten verstärkt. Angesichts dieses latenten sozialen Konflikts „sind die jungen Luxemburger aber nicht unbedingt die Hoffnung“, erklärt Margue weiter. Entwicklungen in Meinungsumfragen vor dem Referendum zeigen dementsprech-end, dass obwohl im Dezember 2014 noch ein Drittel der jungen Bevölkerung angab, gegen das Ausländerwahlrecht zu stimmen, es im Juni 2015 schlussendlich zwei Drittel waren.
Ob es die Spaltung zwischen Luxemburgern und Ausländern ist, die den öffentlichen Diskurs, die Politik und die Wahlen bestimmen wird, ist laut dem Meinungsforscher ungewiss. Vielmehr riskiere sich der Konflikt zwischen den Generationen und/oder zwischen Eigentümern und Mietern zu verstärken: „Aus 80/20 kann schnell 75/25 werden: die 75% (Eigentümer) werden den 25% (Mieter) gegenüberstehen.“ Das Problem in dieser Kons-
tellation sei die Unausgewogenheit der Kräfteverhältnisse, denn für die Mieter stelle es sich als äußerst schwierig dar, ihre Kräfte zu bündeln: „Genauso wie Arbeitslose stellen auch Mieter eine äußerst heterogene Gruppe dar, deren Vertreter wahrscheinlich nie zueinander finden werden, um ihre Interessen zu verteidigen.“
Spätestens der anstehende Wahlkampf und die Lokalwahlen werden in diesem Zusammenhang einen Vorgeschmack darauf bieten, inwiefern die genannten Themen eine Rolle spielen und die angesprochenen Spaltungen das Wahlverhalten beeinflussen werden. u
Das Gespräch fand am 12.1.2017 statt. (PL/KN)
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