Unbegrenzte Macht

Über die neuen Autokraten

Die Diagnose einer globalen „Krise der Demokratie“ liegt seit einigen Jahren vor. Im Jahr 2003 veröffentlicht der Politikwissenschaftler Colin Crouch seine These der Postdemokratie: Die liberalen Demokratien hätten sich in Gemeinwesen verwandelt, in denen Wahlen nur noch Teil eines „Spektakels“ seien, eines von PR-Profis inszenierten Schauspiels ohne inhaltliche Substanz. Die „reale Politik“ finde dagegen nur „hinter verschlossenen Türen“ statt und folge eher den Interessen der Wirtschaft als dem Willen des Volkes.1 Diese Beschreibung impliziert ein nahezu zynisches Auseinanderklaffen zwischen einer idealis-tischen Ebene symbolischer Politik auf der öffentlichen Bühne der Politik und einer machiavellistischen Machtpolitik auf der Hinterbühne.2

Die Renaissance autokratischer Herrscher in den letzten Jahren kann Crouchs Analyse bestätigen. So unterschiedliche Politiker wie Viktor Orbán in Ungarn, Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei oder Wladimir Putin in Russland pflegen einen politischen Stil, der auf ihrer Rolle als charismatischer und autoritärer Anführer basiert. In gewisser Weise wird Crouchs Diagnose der „Postdemokratie“ hier sogar übertroffen: Die genannten Politiker leben ihren machiavellistischen Willen zur Macht nicht in den versteckten Hinterzimmern aus, sondern tragen ihn auf die öffentliche Bühne der Politik. Die Geste des maskulinen, machtbewussten und nicht kompromissbereiten Herrschers charakterisiert den Stil von Erdoğan ebenso wie von Putin – und eben daraus gewinnen sie ihre politische Popularität und Legitimation. Auch diese autoritären Herrscher verstehen ihre Politik als demokratisch, insofern sie Wahlen (und Referenden) jederzeit als Akklamation der Massen für ihren Willen zur Macht gebrauchen. Programmatisch wie auf den ersten Blick paradox nennt Orbán dieses Herrschaftsmodell eine „illiberale Demokratie“.

Nicht wenige sehen den aktuellen Präsidenten der USA als weiteren Vertreter eines autoritären Politikstils. Damit droht ausgerechnet das selbsternannte Mutterland der modernen Demokratie in Autoritarismus zu verfallen. Wie kaum ein anderer westlicher Politiker hat Trump autoritäre Gesten – die dezisionistische Betonung des einsamen Entscheidens, die eifrige Beleidigung von Gegnern und Kritikern – zu seinem Markenzeichen gemacht. Dies war schon Teil seiner öffentlichen persona zu Zeiten der Fernsehshow The Apprentice, in der er Kandidaten regelmäßig als „loser“ oder „quitters“ beschimpfen durfte. Kein Wunder, dass die politische Szene Washingtons wenige Wochen nach seiner Machtübernahme von „permanenter Revolution“, dem „Zerschlagen von Normen, Skandale[n] und Kontroversen“ geprägt ist.3 Es erscheint als eine Herausforderung, die Skandale des neuen Präsidenten aufzulisten: Man weiß kaum, wo anzufangen. In einem Artikel in The Atlantic (März 2017) mit dem Titel „How to build an Autocracy“ rückt der konservative Journalist David Frum, der Redenschreiber für George W. Bush war und insofern einer linken Ideologie unverdächtig sein dürfte, Trump in eine Reihe mit Autokraten und Kleptokraten wie Viktor Orbán, Jacob Zuma und Hugo Chávez. Trump verdankt nicht nur seine Wahl offenkundig zum Teil einer geheimen Intervention eines feindlichen Geheimdienstes; er greift Kritiker jederzeit persönlich an; er hat seine Geschäfte in „blind trusts“ übergeben, die nicht blind sind; er hat seine Kinder dazu eingeladen, private und öffentliche Geschäfte zu vermengen und trotzdem seine Partei dazu gebracht, seine Macht zu unterstützen oder zumindest hinzunehmen. „If this where happening in Honduras, we’d know what to call it“, schreibt Frum: „It’s happening here instead, and so we are baffled.“4

Diese Verwirrung zeigt sich in manchen Kommentaren, die eine Erklärung des Phänomens Trump versuchen. Viel ist geschrieben und gesagt worden über den Narzissmus und die Machtgier des Präsidenten; über sein Spiel mit rassistischer Rhetorik und seinen Mangel an moralischer Orientierung. Gleichermaßen wurde über die innere Spaltung der Wählerschaft Amerikas gesprochen, zwischen den kulturellen und wirtschaftlichen Eliten an den Küsten einerseits und den „Abgehängten“ andererseits, den ökonomischen Verlierern der amerikanischen Gesellschaft, insbesondere den weißen Arbeitern aus den Rust-Belt-Staaten.5 Die eine wie die andere Perspektive läuft auf eine psychologische Erklärung hinaus: Wahlweise wird die zerrüttete Psyche eines narzisstischen Alleinherrschers oder die nicht minder gespaltene Seele Amerikas erörtert. Paradoxerweise fügt sich jedoch noch jede moralische Anklage und Verurteilung des Präsidenten in dessen populistische Rhetorik ein, die seinen Anhängern exakt das Gefühl eines zugespitzten Konflikts zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“ vermitteln will6.

Präsidialisierung der Demokratie

Eine psychologische Erklärung des „Phänomens Trump“ erscheint unzureichend, wenn seit einiger Zeit im globalen Kontext zahlreiche Übergänge zu einer autoritären Regierung innerhalb demokratischer Systeme festgestellt werden können. Der Historiker Pierre Rosanvallon beschreibt diesen Prozess als eine Präsidialisierung der Demokratie, die seit etwa drei Jahrzehnten einen grundlegenden Bruch in den Systemen der westlichen Demokratie markiere. Entscheidend an diesem Prozess sei der extreme Machtgewinn der Exekutive, die die demokratische Anteilnahme auf die „Wahl des Oberhauptes“, d.h. die (direkte) Wahl des Präsidenten, beschränke: Demokratie wird Rosanvallon zufolge zunehmend zu einer Genehmigungsdemokratie, die nun nicht mehr als eine „Lizenz zum Regieren“ erteilen kann.7

Rosanvallon hebt hervor, dass das Projekt der Demokratie seit 1789 eigentlich auf ein gegenteiliges Ideal zielte. Die zentrale Gewalt sollte nicht die Exekutive, sondern die Legislative sein. Die entscheidenden Prinzipien der Demokratie waren ursprünglich, wie Rosanvallon ausführt, die Herrschaft des Gesetzes und die Entstehung eines gesetzgebenden Volkes.8 Demokratie meinte, mit anderen Worten, eine „unpersönliche“ Regierung anhand der Prinzipien des Rechts – und suchte als einzige legitime Quelle der Gesetze das Volk zu installieren. Beide Prinzipien sollen primär einen Rückfall in die willkürliche und subjektive Herrschaft des Absolutismus verhindern. Den philosophischen Hintergrund des Ideals der „unpersönlichen“ Regierung bildet die Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts, die einem Kult des Rechts sowie einem Kult des Marktes (dem ökonomischen Modell der „unsichtbaren Hand“ Adam Smiths) folgend darauf zielt, „den Raum des Politischen als Entscheidungssphäre zu beschneiden.“9

Die Präsidialisierung und, damit verbunden, die Personalisierung der Demokratie wird in Rosanvallons Analyse nicht erst im ausgehenden 20. Jahrhundert zu einer entscheidenden politischen Tendenz: Der Historiker beschreibt den Ersten Weltkrieg, der eine starke Exekutive notwendig erscheinen ließ und die Idee des „Führerprinzips“ hervorbrachte, sowie den Niedergang der politischen Parteien infolge einer immer komplexeren Gesellschaft als wichtige Faktoren. In der Gegenwart wird die Machtkonzentration in der Exekutive angetrieben vom „Krieg gegen den Terrorismus“ seit 2001, der einen gewissermaßen dauerhaften Ausnahmezustand zur Folge hatte. Rosanvallon hebt hervor, dass die von George W. Bush getroffenen notstandstaatlichen Maßnahmen zur Stärkung der exekutiven Macht gegenüber dem Parlament von Barack Obama nicht nur nicht zurückgenommen, sondern teilweise sogar noch verschärft wurden.10 Obama hat ebenso wie Bush Junior wesentlich durch executive orders regiert und konnte durch diese Dekrete ohne die Zustimmung des Kongresses agieren. Die Regierung Trump schließt hier nahtlos an.11

In The Executive Unbound (2010) entwickeln Eric A. Posner und Adrian Vermeule eine Analyse, die weitgehend mit der Perspektive Rosanvallons übereinstimmt – allerdings bewerten die beiden Amerikaner die Entwicklung grundlegend anders. Die von James Madison, dem Sprachrohr der „Gründerväter“ der amerikanischen Verfassung, zur Verhinderung von Tyrannei eingeforderte strikte Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative entspreche nicht mehr der Realität, schreiben Posner und Vermeule.12 Eine Kontrolle der Regierungsmacht durch das Parlament sei allein durch das Ungleichgewicht von Budget und Personal – etwa 30000 Kongressmitarbeiter gegenüber 2 Millionen zivilen Angestellten und 1,4 Millionen militärischen Untergebenen der Exekutive – implausibel geworden. Der Kongress hat, so Posner und Vermeule, in den letzten 200 Jahren weite Teile seiner Macht an den Präsidenten abgegeben: Er kann zwar weiterhin Gesetze verzögern und blockieren, aber nicht mehr die Agenda bestimmen. Auch der Supreme Court (als Vertreter der dritten Macht) sei zu einem „marginal player“13 geworden. Dieser Umstand beunruhigt Posner und Vermeule keineswegs: Obwohl die in der Verfassung festgelegte Gewaltenteilung nicht funktioniere, habe es in der Geschichte der USA weder einen von Madison gefürchteten Cäsar oder Cromwell gegeben, und daher „the risk estimates should be close to zero.“14 Um seine Chancen auf eine Wiederwahl besorgt, müsse jeder Präsident sich um seine Popularität und um das Urteil der öffentlichen Meinung über sein Handeln sorgen. Das Wahlsystem, das Parteiensystem und die politische Kultur in Amerika beschränken die Macht der Exekutive deshalb weitaus effektiver als der Kongress oder der Supreme Court dies verfassungsgemäß tun könnten,15 schreiben die beiden Autoren.

Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, welche Bedeutung die Diskurse über „alternative facts“ und die generelle Spaltung der Massenmedien entlang der Parteigrenzen – MSNBC als Sprachrohr der Demokraten, Fox News für republikanische Perspektiven – für die politische Kultur Amerikas haben. Je mehr die Massenmedien an parteiübergreifender Relevanz verlieren und die politische Diskussion geprägt wird etwa von Blogs, die schamlos Gerüchte, Verschwörungstheorien oder Lügen verbreiten, desto naiver erscheint die Beschreibung Posners und Vermeules aus heutiger Perspektive. Wer noch denkt, die öffentliche Meinung oder die politische Kultur in Amerika könnte die Macht des Präsidenten effizient beschränken, muss über einen sehr festen Glauben verfügen.

Zwar kann Posner und Vermeule zugestimmt werden: Weder Barack Obama noch Donald Trump können sinnvoll als Cäsaren oder Cromwells bezeichnet werden. Nichtsdestotrotz verkörpern beide eine Präsidialisierung und Personalisierung der Politik, die Demokratie auf eine Prozedur zur Bestätigung exekutiver Macht reduziert. Die „Krise der Demokratie“ in Amerika ist somit nicht erst durch den Auftritt des Populisten Trump hervorgebracht, sondern war ebenso wirksam in der Amtsführung Obamas, der 2008 in Berlin noch von 200 000 Menschen bejubelt worden war. Obama mag in seiner gesamten Amtszeit nicht so viele Skandale hervorgebracht haben wie Trump in den ersten Monaten seiner Regierung, aber auch er muss als autoritärer Demokrat gelten, weil er den von seinem Vorgänger ausgerufenen permanenten Ausnahmezustand und die damit verbundene Übermacht der Exekutive nicht beendet hat. Gleichermaßen ist das Modell der autoritären Demokratie keineswegs auf die USA und auf Osteuropa beschränkt: Auch der französische Präsident ist mit einer quasi-monarchischen Machtfülle ausgestattet. Der neu gewählte Präsident Emmanuel Macron kann, spätestens seit die zu seiner Unterstützung gegründete Partei „En Marche!“ die absolute Mehrheit im Parlament gewonnen hat, als „Monarch auf Zeit“16 (in der Formulierung Léon Blums) herrschen.

 

1 Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, aus dem Englischen von Nikolaus Gramm, Frankfurt a. M. 2008, S. 10.
2 Vgl. Lutz Ellrich, Harun Maye und Arno Meteling, Die Unsichtbar- keit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz, Biele- feld 2009, S. 75.
3 Mark Danner, „Was könnte er tun? Die Versuchung der Macht und die Virtuosität des Opportunismus“, in: Lettre International 116 (2017), S. 32-34, hier: S.
32.
4 David Frum, „How to build an Autocracy“, in: The Atlantic (March 2017), S. 48-59, hier: S. 52.
5 Vgl. etwa Heike Buchter, „Die Notbremse“, in: Die Zeit, 3. 8. 2016 (http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-08/donald-trump- notbremse-waehleranalyse-arbeiterschicht-usa, letzter Aufruf 10. 8. 2017).
6 Vgl. Frum, „How to build an Autocracy“, S. 56: „Civil unrest will not be a problem for the Trump presidency. It will be a resource.“
7 Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Hamburg 2016, S. 19.
8 Ebd., S. 15f.                                                                                                                                                                                                                                                                             9 Ebd., S. 37.                                                                                                                                                                                                                                                                            10 Ebd., S. 97.
11 Vgl. Carl Hulse, „Trump follows Obama’s Lead in Flexing Ececu- tive Muscle“, in: The New York Times, 26.1. 2017 (https://www.nytimes.com/2017/01/26/us/politics/donald-trump-barack-obama- executive-orders.html, letzter Aufruf 10. 8. 2017).                                                    12 Vgl. Eric A. Posner und Adrian Vermeule, The Executive Unbound: After the Madisonian Republic, New York 2010, S. 18.
13 Ebd., S. 207.                                                                                                                                                                                                                                                                            14 Ebd., S. 176f.                                                                                                                                                                                                                                                                         15 Ebd., S. 113.                                                                                                                                                                                                                                                                         16 zit. nach Rosanvallon, Die gute Regierung, S. 71.

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