„Und Abschied gehört zum Leben“, tröstete der kleine Prinz
Üben, geschweige denn mit Bravour beherrschen, kann man das Abschiednehmen nicht. Wir haben mit vier Menschen gesprochen, denen es trotzdem gelungen ist, Lebewohl zu sagen und das Unteilbare zu teilen, nämlich die Trauer über den Verlust eines Angehörigen.
Ein Teil der Palliative Care besteht aus Biografiearbeit mit dem erkrankten Menschen. Doch wie gestaltet sich diese, wenn man es mit einem Kind oder Jugendlichen zu tun hat, bei dem man noch nicht auf einen langen Weg zurückblicken kann? „Es bleibt bei dem, was man ohnehin als Eltern macht: Man möchte seinen Kindern Wünsche erfüllen, und somit brachten wir meinem Sohn Pizza und seine Lieblingsmusik mit ins Krankenhaus“, erzählt Christa. Vor mehr als 21 Jahren erkrankte eines ihrer drei Kinder mit gerade einmal 17 Jahren an Leukämie. Die Krankheit schritt so schnell fort, dass sie ihn nicht mehr mit nach Hause nehmen konnte. Er starb innerhalb von nur wenigen Monaten im Krankenhaus.
Bei Mireille ist der Abschied von ihrer Tochter noch nicht so lange her. Sie wäre in diesem Jahr volljährig geworden. Doch vor 15 Jahren im Kleinkindalter bekam sie eine unheilbare, wenig erforschte Krankheit. Mireille kümmerte sich zuhause um sie und verbrachte mehrere Sommer in einem deutschen Kinderhospiz. „Diese Aufenthalte fühlten sich fast wie Urlaub an“, merkt sie an, durfte sie dort doch das unterstützende Angebot, welches sich an die gesamte Familie richtete, in Anspruch nehmen. Viele Menschen, allem voran die Betroffenen selbst, vergessen oft, dass eine gewisse Entlastung legitim, ja sogar notwendig ist. Es gibt keine Kraft-Flatrate, bei keinem Körper und keiner Psyche der Welt, auch wenn man sich dies gerade in solchen Situation so sehr wünschen würde. Und genau deswegen sind Hospize und andere unterstützende Einrichtungen unentbehrlich.
Der Bundesverband Kinderhospiz e.V. unterhält allein 15 stationäre Kinderhospize in Deutschland.1 Die Zahl der ambulanten palliativ-pädiatrischen Dienste in Deutschland ist mehr als doppelt so hoch. Wer ein derartiges Angebot in Luxemburg sucht, wird seine Schwierigkeiten haben. Die organisierte pädiatrische Palliative Care ist milde ausgedrückt ausbaufähig und fokussiert sich derzeit auf krebskranke Kinder, obwohl diese Krankheitsform sicherlich nicht der einzige Grund für den frühzeitigen Tod von Kindern ist. Hierzulande kommt neben den pädiatrischen Stationen diverser Krankenhäuser lediglich das Haus Omega in Hamm an derartige unterstützende Strukturen heran. Dort reichen Ärzte, Pflegepersonal und Ehrenamtliche Kindern ab 12 Jahren sowie ihren Familien eine helfende Hand. „Was ich dort sehr schätzte, war, dass wir den Raum, in dem sie ihre letzten anderthalb Jahre verbrachte, persönlich gestalten durften. Zudem konnten wir mit ihrem Bett das Gebäude verlassen, und Zeit am angrenzenden Weiher verbringen“, erzählt Mireille. Solche Orte bieten Familien also einen menschlichen Tapetenwechsel in einer Situation, in der nicht nur der Putz bröckelt, sondern an manchen Tagen sogar Wände einzustürzen drohen.
„Es ist ein passender Ort zum Leben“, fügt Marie-Jeanne hinzu und macht somit erneut auf das aufmerksam, was in der Konfrontation mit dem Tod so wichtig ist: das Glas. Man fragt sich jeden Tag auf ein Neues, ob es halb voll oder halb leer ist. Marie-Jeannes ältester Sohn hatte vor 20 Jahren nicht die Möglichkeit, vollständig in Luxemburg stationär behandelt zu werden. Er verbrachte den letzten Teil seines jungen Lebens in einer Spezialklinik in Brüssel. Seine Eltern schätzten die dort geleistete Hilfe zwar sehr, doch litt er darunter, dass er sich mangels französischer Sprachkenntnisse eher schwer mitteilen und zudem seine beiden kleineren Geschwister sehr wenig sehen konnte.
Alle drei Mütter schätzen sich glücklich, dass es aufgrund ihrer ökonomischen Situation und mithilfe des Verständnisses von Kollegen und Arbeitgebern möglich war, ihre Kinder bis zum Schluss zu begleiten. Dies ist jedoch nicht die Regel; Marie-Jeanne berichtet sogar von Familien, die ebenfalls mit ihren Kindern ins Ausland mussten und somit in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten gerieten.
In der Nacht als ihr Sohn starb, hielt Christa ihn im Arm bis zu seinem letzten Atemzug. Auch Mireille hätte es sich wie Marie-Jeanne kaum verzeihen können, nicht da zu sein, als ihr Kind ging. Auf die Frage hin, wie ein Abschied möglich ist, herrscht bei allen drei ein Konsens darüber, dass dieser sich eher in Etappen gestaltet. Mireille folgte damals dem Rat ihres Bestatters: „Wir sollten sie selbst in den Sarg legen und auch dabei sein, wenn er ins Grab hinunter gelassen wird. Das war zwar unglaublich hart, aber meine Familie und ich waren uns einig, dass es eine gute Entscheidung war, auch diesen letzten Schritt mitzugehen.“ Nachdem Marie-Jeannes Sohn in Brüssel verstarb, wurde – trotz der guten Begleitung durch den Bestatter – der ohnehin anstrengende Ablauf bei der Überführung seines Leichnams durch bürokratische Formalitäten seitens der zuständigen luxemburgischen Behörde erschwert. Nichtsdestotrotz bestätigen sie und auch Christa, dass sich bezüglich dieser Verpflichtungen, die die eigentliche Trauer zusätzlich belasten, vieles geändert hat in den vergangenen 20 Jahren. Dies liegt unter anderem daran, dass heute das Angebot der Bestatter eine größere (natürlich kostenpflichtige) Entlastung bietet.
Bei Carine gestaltete sich der gesamte Ablauf der Geschehnisse anders als bei den drei anderen Frauen. Ihr Mann, der zuvor noch auf fast ein halbes Jahrhundert voller Lebenserfahrungen, mehr als zehn Jahre Ehe mit ihr und sein Vaterdasein hatte zurück blicken können, starb sehr plötzlich und allein. Und zwar an einem Ort, an dem er sich zeitlebens stark engagiert hatte: Er war Förster und bekam einen Herzinfarkt im Wald. Carine und ihre beiden Kinder hatten damals keine Wahl; der Zeitpunkt des Abschieds wurde verschoben, hatte sie doch zuvor keine Möglichkeit gehabt, seine letzten Schritte mit ihm zu gehen. In Bezug auf das Lebewohl sagen, nimmt Carine folgende Differenzierung vor: „Es kann auf der einen Seite von einem formellen Abschied die Rede sein, welcher sich bis hin zum Begräbnis vollzieht. Zum anderen tritt man dann aber in der Folge über einen längeren Zeitraum eine Art Erbschaft an, die keineswegs finanzieller Natur ist. Der geliebte Mensch selbst ist zwar körperlich nicht mehr da und man selbst fühlt sich leer, aber mit der Zeit findet ein Umzug des Verstorbenen in einen selbst statt, man lernt ihn in sich weiterleben zu lassen.“
Ähnliches wie dieses Stadium, das Carine als „vide habité“ bezeichnet, schildert auch Marie-Jeanne: „Ich besuche das Grab meines Sohnes oft und erzähle ihm, was bei uns gerade passiert. Es ist so, also würde man jedes Mal ein bisschen abschließen und doch geht etwas Bestimmtes nicht ganz weg und das soll es auch nicht.“ Christa schafft eigene Rituale, die allein ihr und ihrer Familie gehören. Ihr Sohn behält seinen festen Platz in ihrem Leben. Wenn sie abends im Wohnzimmer sitzt, ist er bei ihr. Direkt neben seinem Foto lässt sie jeden Tag (s)ein Licht weiter brennen, indem sie eine Kerze anzündet. An diesem Punkt fügen Mireille und Marie-Jeanne hinzu, dass es immer wieder interessant ist, die Antwort auf die Frage zu reflektieren, wie viele Kinder man denn eigentlich habe. Alle haben sie für sich beschlossen, das verstorbene Kind gleichwertig mit ihren anderen Kindern dabei zu erwähnen. Denn verschwinden, das werden sie nie.
Alle vier Frauen berichten davon, dass manche Bekannte – vor allem in der Anfangszeit nach dem Tod, aber auch schon davor – die Straßenseite wechselten, wenn man sich begegnete. Dass dieses Verhalten für die Trauernden eine zusätzliche Belastung darstellte, mag auf der Hand liegen und doch hört man bei jeder der vier Frauen Verständnis aus der traurigen Schilderung heraus. Carine beschloss beispielsweise recht früh für sich selbst, es diesen Menschen nicht gleichzutun. Also nicht auch einen Schritt von ihnen weg, sondern auf sie zu zu machen: „Gerade in diesen Momenten der Angst, und Angst ist oftmals der Hauptgrund für dieses Verhalten, ist es weitaus sinnvoller, den Menschen eine Hand zu reichen. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass meine Bekannten mehr als froh waren über meinen Schritt in ihre Richtung.“ Gerade in solchen Situationen sieht man immer wieder, wie einschneidende Erlebnisse auch soziale Situationen gehörig auf den Kopf stellen und Rollen vertauscht werden können.
Christa erfuhr am Abend vor Heiligabend von der Krankheit ihres Sohnes. „Dieser Abend wird nie mehr so werden wie jene der Jahre davor“, sagt sie traurig. Obwohl Mireille spürt, dass das Gefühl, etwas würde nicht ganz stimmen, immer bleiben wird, hat sie doch den Eindruck, ein anderer Mensch geworden zu sein: „Man sieht das Leben nicht mehr so wie zuvor, man regt sich nicht über Kleinigkeiten auf, man nimmt andere Dinge wahr, wie zum Beispiel die Natur und es werden andere Dinge wichtig.“ Auch Carine behielt etwas zurück durch das, was man ihr nahm, und doch bekam sie ihrer eigenen Aussage zufolge auch die Möglichkeit zu einem Geschenk: „Narben verheilen unterschiedlich schön und gesund. Und doch kann sogar jede schöne Vernarbung, die wenn ein Wetterumschwung sich anbahnt, etwas jucken. Ich habe nichtsdestotrotz durch diese Erfahrung gelernt, mich selbst mehr zu spüren und wahrzunehmen.“
Wie auch bei Carine, kam es bei Marie-Jeanne im Rahmen der Neuordnung der eigenen Welt zu Veränderungen, bei denen neben ihren persönlichen auch berufliche Erfahrungen eine erhebliche Rolle spielten. Marie-Jeanne, von Beruf Diplom-Psychologin, machte dann gemeinsam mit ihrem Mann eine zusätzliche Ausbildung zur Trauerbegleiterin. Seit vielen Jahren ist sie nun bei der Organisation „Weesen-Elteren“2 aktiv, die bei der Verarbeitung der Trauer auch für Mireille und Christa eine Rolle spielte. „Mich sprach das sehr an, dass auf dem Flyer stand ‚E stäipt deen aneren’“, meint Christa, „anfangs saß ich nur da, weinte viel und hörte zu. Und das war für alle in Ordnung.“ Carine war zuvor als Anästhesiekrankenschwester tätig gewesen und genau zu jenem Zeitpunkt, als ihr Mann starb, machte sie eine doppelte Ausbildung zur systemischen Familienberaterin und Sozialpädagogin. Im Anschluss entschied sie sich dazu, ebenfalls die erlernte Ausbildung zur Trauerbegleiterin auszuüben.
Alle vier Frauen haben auf ihre eigene Art und Weise gelernt, mit dem Thema Tod auch kreativ umzugehen, sei es beispielsweise durch Zeichnen, Kochen oder das Verfassen von Gedichten. Gemein ist ihnen ebenfalls, dass sie gelernt haben, ihre Trauer zu teilen, somit auch anderen zu helfen und gemeinsam weiterzugehen.Bei ihnen besteht die Möglichkeit, aber gleichzeitig auch die Bereitschaft nicht mehr, das Thema Tod zu tabuisieren. 3
forum bedankt sich bei den vier Gesprächspartnerinnen für das offene Gespräch. Das Interview führte Anne Schaaf. Alle Zitate stammen aus Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry.
1) http://www.bundesverband-kinderhospiz.de/index.php/%C3%BCbersichtskarte-aller-station%C3%A4ren-kinderhospize-in-betrieb
2) Daher wurden sie zu unserer nächsten public forum Ausgabe am 18. Januar eingeladen. Dann wird es um den Umgang mit dem Thema Tod außerhalb des privaten Kontextes gehen.
3) Weesen-Elteren, Selbsthëllefsgrupp fir Elteren déi e Kand verluer hun, Croix Rouge Luxembourgeoise http://www.croix-rouge.lu/en/presentation-de-weesen-elteren/.
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