- Geschichte, Gesellschaft, Kultur
„Unser Verständnis von Krankheit ist kulturell bedingt“
Ein Interview mit Jill Terres, Ethnopsychologin beim Roten Kreuz, über die psychologische Betreuung unbegleiteter minderjähriger Migranten in Luxemburg
Wie funktioniert die Betreuung unbegleiteter Minderjähriger beim Roten Kreuz?
Jill Terres: Es gibt ein Team, welches sich ausschließlich um unbegleitete Minderjährige kümmert. Außerdem ist die Cellule d’accompagnement ethnopsychologique generell für die Betreuung Erwachsener, Kinder oder in diesem Fall auch unbegleiteter Minderjähriger, die psychische Schwierigkeiten haben, zuständig. Mit der betroffenen Person wird ein Betreuungs- und Behandlungsplan erstellt, der sowohl die ärztliche als auch die psychologische und erzieherische Betreuung beinhaltet. Eine wichtige Komponente dieser ganzheitlichen Betreuung ist die Zusammenarbeit mit dem Netzwerk der mentalen Gesundheit in Luxemburg. D.h. als Psychologen des Roten Kreuzes tragen wir Sorge für die tägliche Begleitung der Jugendlichen, wir machen ggf. eine erste Evaluation des psyschichen Zustandes und identifizieren die Bedürfnisse der Flüchtlinge. Danach greifen wir auf ein Netzwerk externer Psychologen, Psychiater und Ärzte zurück. Es geht darum, den Flüchtlingen so schnell wie möglich eine angepasste Behandlung zu bieten und sie gleichzeitig in die lokalen und sozialen Strukturen zu integrieren.
Unbegleitete Minderjährige tragen eine doppelte Last: sowohl Sorgen und Probleme, die typisch für das Jugendalter sind, als auch eventuelle post-traumatische Belastungen. Besteht angesichts dieser Herausforderung Bedarf an besonderen Ausbildungen für das Personal?
J.T.: Es ist wichtig, dass die Teammitglieder eine Affinität gegenüber den Jugendlichen haben, um mit ihnen in Kontakt zu treten. Außerdem wird das Personal in der Erkennung von Vulnerabilitäten der Minderjährigen geschult, denn insbesondere diese befinden sich in einer sehr verletzbaren Situation: Sie haben keinen Ansprechpartner und keine Vertrauensperson, die sie schon lange kennen, die sich zum Beispiel abends mit ihnen in der Muttersprache unterhält und ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln kann.
Wie kommt der Kontakt zwischen Psycholog(in) und unbegleitetem Minderjährigen zustande?
J.T.: Kontakt wird oft aufgenommen durch Betreuer, denen ein bestimmtes Verhalten auffällt. Diese Arbeitskollegen wenden sich dann an das Team der Ethnopsychologen. Wir können uns der Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen ganz informell anschließen oder sie kommen zu uns. Oft findet der erste Kontakt zwischen Jugendlichen und Psychologen eigentlich im Flur statt. In erster Instanz ist es wichtig, ein Vertrauensverhältnis mit den Jugendlichen aufzubauen, wobei dieses auch ganz vom Bedürfnis des Minderjährigen abhängt.
Was ist besonders wichtig bei der Betreuung unbegleiteter Minderjähriger?
J.T.: Ein ethnopsychologischer Ansatz ist meiner Meinung nach äußerst wichtig, denn unser Verständnis von Krankheit, Gesundheit und generell von uns als Mensch ist kulturell bedingt und beinflusst. Dieses Verständnis hat einen direkten Einfluss auf die Hilfe, die jemand beansprucht oder erwartet. Zwei Welten werden miteinander konfrontiert und die Aufgabe des Ethnopsychologen ist es, zwischen diesen zu vermitteln. Er oder sie muss sich fragen, weshalb es dem Jugendlichen nicht gut geht und die Sorgen dann in das lokale (unser) Verständnis übersetzen. Nur so können wir herausfinden, welche Hilfe wir dem Minderjährigen anbieten können.
Außerdem ist es wichtig, ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und eine gewisse Vorhersehbarkeit aufzubauen, einen strukturierten Alltag herzustellen und diesen zu normalisieren mit Schule, Freunden und Freizeitaktivitäten. Insbesondere für Kinder und Jugendliche ist diese Vorhersehbarkeit und das Gefühl, ihre Situation halbwegs kontrollieren zu können, ausschlaggebend für ihre Stabilisierung. Es reicht somit nicht nur über Probleme zu diskutieren, mit dem Jugendlichen soll eine praktische Lösung ausgearbeitet werden. Dazu gehört es auch, ein Lebensprojekt aufzubauen: Wo befindet sich der Jugendliche, wie geht es ihm und wo möchte er hin?
Unterscheiden Sie im Aufbau von Zukunftsprojekten zwischen Jugendlichen mit größeren Chancen auf Asyl und jenen, die nach ihrem 18. Geburtstag wahrscheinlich nicht in Luxemburg bleiben können?
Ein Minderjähriger ist immer ein Minderjähriger. Wir kennen nicht unbedingt ihre Vergangenheit und diese ist nicht ausschlaggebend für die Qualität oder die Ausrichtung der Betreuung. Unabhängig von Alter, der Aufenthaltsdauer und der Aussicht auf Asyl wird jeder gleich behandelt. Was er von uns mitnimmt, kann ihm so oder so in seiner Zukunft hilfreich sein.
Wie gehen Sie mit sprachlichen Hindernissen in dieser interkulturellen Kommunikation um?
J.T.: Im Alltag können wir zum Teil auf die Kompetenzen der Mitglieder innerhalb des Teams zurückgreifen. Einer unserer Mitarbeiter, der sich um unbegleitete Minderjährige kümmert, spricht zum Beispiel Farsi (Dari, eine der offiziellen Landessprachen Afghanistans). Andere sprechen Ukrainisch, Portugiesisch, Albanisch etc. Wenn wir auf Dolmetscher angewiesen sind, arbeiten wir mit dem Service interprétariat interculturel des Roten Kreuzes zusammen. Es handelt sich hierbei um neutrale interkulturelle Übersetzer. Bei psychologischen Behandlungen greifen wir per se auf Letztere zurück, damit sich der Jugendliche gegenüber dem Betreuer, den er täglich sieht, nicht entblößt fühlt. Sie sprechen nicht nur die Sprache, sondern stammen aus der gleichen Kultur. Dies ist wichtig, weil sie die Metaphern, Bilder und Ausdrücke anders erklären können.
Nehmen Fragen nach der Ursache der Flucht eine wichtige Rolle ein?
J.T.: Wir fragen die Flüchtlinge generell nicht wie sie gekommen sind oder wieso. Sie können selbst entscheiden, was sie uns erzählen und was nicht. Für die Erfüllung unserer Aufgabe sind diese Informationen nicht vital. Bei den Gesprächen im Außen-
ministerium müssen sie auf diese Themen eingehen. Fragen dieser Art können eine psychische Belastung darstellen und zudem eine traumatisierende Wirkung haben. Es besteht das Risiko, dass der Jugendliche sich dazu „gedrängt“ fühlt, die Umstände der Flucht nochmal zu durchleben. Es reicht, dass sie den Behörden erklären müssen, wieso, wann und wie sie nach Luxemburg gekommen sind. Diese Fragen müssen also nicht zusätzlich im Alltag gestellt werden, dieser soll normalisiert werden.
Misstrauen die Jugendlichen Auffangstrukturen wie dem Roten Kreuz und deren Mitarbeitern?
J.T.: Misstrauen gegenüber Institutionen in einer fremden Umgebung und Menschen, von denen man nicht weiß, ob sie einem gut oder schlecht gesinnt sind, ist eine ganz natürliche Reaktion. Es ist aber wahrscheinlich eher Vorsicht als Misstrauen. Flüchtlinge verhalten sich zunächst vorsichtig in Bezug auf Informationen, die sie teilen, und Fragen, die sie stellen oder auch nicht stellen. In dieser Situation ist es wichtig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, anwesend zu sein und zu zeigen, dass man sich um das Wohl des Betroffenen sorgt.
Bleiben die Jugendlichen in Luxemburg oder ziehen sie weiter?
J.T.: Es gibt Minderjährige, die nur sehr kurze Zeit hier sind, sie befinden sich sozusagen im Transit, denn sie haben eigentlich ein anderes Ziel. Es ist schwer zu sagen, weshalb sie gehen, manche haben Familie in einem anderen Land, sie planen dort einen Asylantrag zu stellen. Auf jeden Fall stellen wir jedes Mal eine Vermisstenmeldung bei der Polizei.
Viele unbegleitete Minderjährige kommen mit dem Ziel nach Europa, die zurückgelassene Familie finanziell zu unterstützen. Wie behandeln Sie den Wunsch arbeiten zu wollen im Zusammenhang mit der hiesigen Schulpflicht?
J.T.: Eine der ersten Fragen der Jugendlichen bezieht sich auf die Schulausbildung, denn viele kommen, um hier zur Schule zu gehen und eine gute Ausbildung zu erhalten. Es gibt aber auch Jugendliche, die von der Familie geschickt wurden, in einigen Fällen muss die Familie z.B. Schulden abzahlen. In diesem Fall tragen sie eine gewisse Verantwortung und möchten die Erwartungen seitens ihrer Familie erfüllen. In vielen Ländern ist es zudem auch so, dass man viel früher anfängt zu arbeiten und Geld zu verdienen. In diesen Fällen ist es in der Tat oft schwierig zu erklären, dass die hiesige Gesetzgebung es nicht erlaubt, mit 14/15 Jahren zu arbeiten. Dies ist sicherlich eine Belastung für den Jugendlichen, insbesondere, wenn er denkt, dass er einen Auftrag zu erfüllen hat.
Solange die Jugendlichen minderjährig sind, können sie nicht abgeschoben werden. Was geschieht, sobald sie volljährig sind?
J.T.: Bis zur Volljährigkeit sind die Jugendlichen in speziellen Gruppen für unbegleitete Minderjährige untergebracht. Was nach dem 18. Geburtstag geschieht, hängt von ihrem Status ab. Normalerweise ziehen sie in ein Heim für Erwachsene, da sie juristisch gesehen erwachsen sind. Das heißt aber nicht, dass die Betreuung, die sie als Minderjährige erfahren haben, aufhört. Es heißt auch nicht, dass, falls der Asylantrag abgelehnt wurde, sie sofort auf die Straße gesetzt werden, denn zum Teil sind die Gerichtsverfahren in dem Moment noch nicht abgeschlossen. Wenn eine Schule Platz hat und den jungen Erwachsenen annimmt, kann er zum Beispiel seine Ausbildung fortführen, aber das hängt natürlich immer von der juristischen Situation ab.
Bleiben Sie in Kontakt mit jenen, die Sie als Minderjährige betreut haben?
J.T.: Oft kommen sie zurück, sogar wenn sie schon 20/21 sind und Fragen haben oder Hilfe brauchen, zum Beispiel, um ihr Taschengeld zu verwalten. Auch wenn die Person 21 Jahre alt ist, bleibt sie unbegleitet, ohne direkte Familie und ist oft auf Hilfe angewiesen. Viele besuchen uns auch später, um uns zu erzählen, wie es ihnen geht, dass sie eine Ausbildung abgeschlossen haben, heiraten, ein Kind bekommen oder eine Wohnung mieten. Sie wollen sich auch einfach nur mitteilen und sich melden, so wie man das in einer Familie auch tut.
Danke für das Gespräch! u
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
