- Politik
Verdrängen, vertagen, schlafwandeln
Wie Luxemburg an seinen vitalen Interessen in den Grenzregionen vorbeiregiert
Die Coronakrise hat seit ihrem Beginn vor fast einem Jahr dem Großherzogtum Luxemburg mehr denn je seine extreme Abhängigkeit von der Grenzregion vorgeführt. Dennoch hat sich im Umgang der Regierung mit den Autoritäten der territorialen Körperschaften um seine Grenze kaum etwas geändert.
Dass Luxemburgs Wirtschafts- und Gesundheitssystem in der Coronakrise nicht zusammengebrochen sind, hat das Land der Überzeugungskraft und den symbolträchtigen solidarischen Gesten seiner Regierung sowie dem Common Sense in den Nachbarstaaten zu verdanken. Immer wieder verlängerte steuerliche Arrangements, vorläufig noch bis zum 31. März 2021, machten es möglich, dass viele Grenzgänger im Homeoffice weiterarbeiten konnten, ohne dass Luxemburg auf deren Einkommenssteuer verzichten musste. Dafür gab es eine finanzielle Unterstützung für diejenigen, die in Kurzarbeit gehen mussten und so den Arbeitsämtern der Nachbarstaaten nicht auf der Tasche lagen. Luxemburgs Nachbarn verzichteten darauf, das Pflegepersonal, das jenseits ihrer Grenzen in Luxemburg beschäftigt war, trotz der eigenen Engpässe zu requirieren. Luxemburg engagierte sich seinerseits, vorerst kein weiteres Pflegepersonal mehr aktiv in den Grenzregionen abzuwerben. Das Massentesten der Grenzgänger in Luxemburg, dessen Resultate das bestgehütete Geheimnis Luxemburgs geblieben sind, half auch den Behörden in den Grenzregionen im Umgang mit der Pandemie. Ein Fall von fünf in den Grenzregionen dürfte in Luxemburg selbst detektiert worden sein, heißt es aus französischen Quellen. Dass die in Luxemburg sozialversicherten Grenzgänger auch Zugang zur Impfung haben werden, wird in den drei Nachbarländern sehr wertgeschätzt. Saarland und Rheinland-Pfalz haben sich nach dem ersten Lockdown, der wegen der einseitigen Grenzschließung für viel böses Blut gesorgt hatte, ab Mai auf Bundesebene redlich darum bemüht, dass der sogenannte „kleine Grenzverkehr“ der Grenzgänger und Familien nicht mehr beeinträchtigt wird. Unter dem Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans nahm sich die Großregion zudem vor, einen Pandemieplan aufzustellen, der für zukünftige Krisenlagen eine bessere grenzübergreifende Abstimmung vorsieht.
Tobias Hans’ Ausraster
Am Dreikönigstag war es aber gerade dieser Tobias Hans, der erklärte, die Luxemburger Regierung handle bei den Lockerungen, die ab dem 11. Januar vorgesehen waren, „verantwortungslos“, zumal das Land aufgrund seiner engen Beziehungen mit Großbritannien eine mögliche Ausbreitung der jüngsten Virus-Mutation begünstigen könnte. Das alles sei „eine Belastung für die Großregion“.1 Was den auch auf Bundesebene immer lauter auftretenden ehrgeizigen CDU-Nachwuchspolitiker Hans wohl geritten haben mag, sich so im Ton zu vergreifen und die grenzübergreifende Befriedung zu stören? Er hatte sich auf jeden Fall nicht über die Lockerungen in Frankreich am 15. Dezember beklagt, auch wenn sie viele seiner Landsleute zu einer Shoppingtour verlockt hatten.
Ein Artikel des Wort-Journalisten Michael Merten, der akkurat nach allen Seiten recherchiert hat, liefert einige Indizien, wie es zu dieser undiplomatischen und im Landtag von allen Fraktionen, einschließlich der des Koalitionspartners SPD, scharf kritisierten Verlautbarung des Landeschefs gekommen sein könnte.2 „Als sie von Hans’ Interview hörte, war für Corinne Cahen (DP) klar, dass sie einige Telefonate führen müsste“, schreibt Merten. Und Cahen fügt in bester DP-Rhetorik hinzu: „Mir war es wichtig, dass wir miteinander sprechen und nicht übereinander“. Die für die Großregion zuständige Ministerin hatte sich also keineswegs verpflichtet gefühlt, die Partner in der Nachbarregion über die in Luxemburg geplanten Lockerungen zu informieren. Vorab-Konsultationen pflege man nicht innerhalb der Großregion, wenn die Corona-Regeln geändert werden. Was eine leichtfertige Aussage von Cahen im Lëtzeburger Land bestätigt: „On se parle régulièrement. Mais ce n’est pas comme si, à la sortie du conseil de gouvernement, je me sentais obligée d’appeler quelqu’un à l’étranger pour le briefer.“3 Hier aber sei die Sache „ungünstig gelaufen“, räumt sie im Gespräch mit Michael Merten ein: „Vielleicht hätte ich nach dem Regierungsrat gleich mit Peter sprechen sollen.“ Mit Peter, auf den hier so familiär verwiesen wird, als ob man sich fast jeden Tag miteinander austauscht, ist der saarländische Europaminister Peter Strobel (CDU) gemeint. Nach Strobel gab es dann auch mit der zuständigen Staatssekretärin in Mainz, Heike Raab, ein Telefongespräch.
Bilateraler Dilettantismus
Dabei erwies sich, dass sowohl Saarbrücken als auch Mainz angenommen hatten, dass Luxemburg das Gaststättengewerbe öffnen würde. Das wiederum wirft vor allem ein schiefes Licht auf die gouvernance in der Staatskanzlei des Saarlandes, deren Chef sich ohne richtig informiert gewesen zu sein, zu heftigen Verlautbarungen gegen die Luxemburger Regierung verleiten ließ. Ein einfacher Pressespiegel oder ein amtlicher Bericht hätten ausgereicht, um Tobias Hans darüber aufzuklären, dass die Luxemburger Regierung wegen der von ihr geplanten Lockerungen auf Kritik bei Opposition, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Presse stieß, und dass sie vor allem die an Rhein und Saar so befürchteten Lockerungen für die Gastronomie nicht vorhatte.
Alles also ein Missverständnis aus Frust wegen einer befürchteten Überrumpelung durch Luxemburg? Eher ein beiderseitiges systemisches Versäumnis, eine ständige Vernachlässigung vitaler Beziehungen, ein schuldhafter bilateraler Dilettantismus! Es hätte die Luxemburger Regierung nichts gekostet, die Partner in den Grenzgebieten zu informieren, sogar im Vorfeld zu konsultieren, zumal die Inzidenzzahlen der Neuinfektionen in Luxemburg zu dem Zeitpunkt viel höher waren als jetzt, Anfang Februar. Damit wäre Luxemburg kein Zacken aus seiner Souveränitätskrone gebrochen, die Jean Asselborn (LSAP), kaum waren die Erklärungen von Tobias Hans über die Nachrichtenticker gelaufen, in seinem ersten Zorn vor sich hertrug. Dann war es aber der Außenminister, der für die politisch an der Sache Großregion fühlbar vollkommen desinteressierte bis abgetauchte Corinne Cahen zuerst einspringen musste, um möglichen medialen Schaden zu begrenzen. Immerhin lieferte er, sobald er seine Emotionen im Griff hatte, den deutschen Medien eine faktengesättigte Argumentation.4
„Perverse Auswirkungen“
Ein Blick auf die Beziehungen zwischen Luxemburg und seinen französischen Grenzgebieten offenbart eine noch problematischere Situation. Hier geht es um über 105.000 französische Grenzgänger, ein Viertel der in Luxemburg Berufstätigen, von denen jeder Wirtschaftssektor Luxemburgs von der untersten bis zur obersten Betriebsebene abhängt, das Gesundheitswesen inklusive. Hier kursiert bereits seit ein paar Jahren die Forderung nach steuerlichen Rückführungen. Diese entstammt den Analysen, die seit 2015 von Dominique Gros, bis 2020 linker Bürgermeister von Metz, Luxemburgkenner und über die luxemburgische Immobiliengesellschaft seines Sohns auch dort geschäftlich involviert, und seinem staff zuerst im Rahmen des Sillon lorrain5, einem kooperativen Zusammenschluss der Städte Metz, Nancy, Thionville und Épinal, angestrengt wurden.
Ein Memorandum aus dem Jahre 20186 liefert die Matrix von zahlreichen weiter ausgearbeiteten Veröffentlichungen, Vorträgen und Verlautbarungen, in denen von den „perversen Auswirkungen des luxemburgischen Wirtschaftsmodells für Frankreich“ die Rede ist. Die Betriebe nutzten Europa, um Reichtum zu schaffen, heißt es dort, aber Luxemburg nationalisiere dessen Umverteilung. Luxemburg sei das einzige europäische Land, das seine Steuererträge nicht mit seinen Nachbarn teile, obschon über die Hälfte seiner Arbeitskräfte von dort kämen. Luxemburg als Metropole habe seit 40 Jahren seine grenzübergreifenden Randgebiete – „les banlieues frontalières“ – daran gehindert, sich gesellschaftlich und wirtschaftlich positiv zu entwickeln. Die immer entfernteren Orte, von denen aus die Grenzgänger nach Luxemburg arbeiten gehen, hätten sich wegen des Wegfalls von Gewerbesteuern zu den ärmsten der Großregion entwickelt. Nicht nur seien die Betriebe nach Luxemburg abgewandert oder hätten sich aufgelöst, sondern die aktiven und pensionierten Grenzgänger würden ihre Einkommensteuer in Luxemburg entrichten. Der Kontrast zwischen dem individuellen Vermögen der Grenzgänger und der Armut der territorialen Körperschaften, die für ihre Entwicklung notwendige Investitionen nicht tätigen könnten, sei flagrant. Daran würden die Kompensationen, die der französische Zentralstaat für die entfallenen Einnahmen zahle, nichts ändern. Das Niveau der kommunalen Dienstleistungen sei weit unter das Niveau jener Zeit gesunken, als die lothringische Stahlindustrie noch blühte, also das der 1970er Jahre. Das habe die Kommunen dazu gezwungen, ihre lokalen Abgaben zu erhöhen, was wiederum zu Abwanderungen der Alteingesessenen geführt habe. Die Grenzgänger würden Luxemburgs Budget füttern, das seinerseits aber nur den Bewohnern und den Kommunen des Großherzogtums zugutekäme. Zudem würde Luxemburg jedes Jahr 2,33 % weniger Ausgaben haben, weil die Ausbildung der Grenzgänger von ihren Herkunftsländern finanziert worden sei, und auch beim Arbeitslosengeld sparen, das es bis 2025 nur für drei Monate an gekündigte Grenzgänger zahlen muss, obschon deren Beitrag zur Arbeitslosenversicherung dort direkt eingezogen wird.
Um diese negative Entwicklung im Sinne einer „geteilten und intelligenten grenzübergreifenden Metropolisierung“ zu bremsen, die es Lothringen erlauben könnte, mit dem luxemburgischen Wachstum besser Schritt zu halten, schlug der Sillon lorrain 2018 vor, Frankreich und Luxemburg sollten nach dem Modell von Arrangements mit Schweizer Kantonen, südwestdeutschen Grenzgebieten oder Nordbelgien, ein neues Steuerabkommen ausarbeiten, das Kompensierungen in Form von Steuerrückführungen vorsehe. Die Summe dieser solle sich an den Bedürfnissen der territorialen Körperschaften (Gemeinden, Départements, Region), den Ausbildungskosten und den Kosten des Alterns der Bevölkerung orientieren. In diesem ersten Papier war von 157 Millionen Euro die Rede, später von 170 oder gar 200 Millionen. Die sollten jährlich in einen „Fonds de co-développement“ fließen, der von Luxemburg aus, paritätisch besetzt, und auch von Frankreich und privaten Akteuren alimentiert, Projekte von geteiltem Nutzen einleiten und Dotationen für die Kommunen vorsehen sollte.
Steuerrückführungen im Gegenwind
Während der Staatsvisite in Frankreich 2018 ließ Luxemburg alle Vorschläge in Richtung Steuerrückführungen abblitzen. Luxemburgs Doktrin ist seitdem, dass es sich nur auf eine grenzübergreifende Zusammenarbeit an einzelnen Projekten einlassen will. 2018 einigte man sich auch auf einige teure, aber definitiv nicht so kostspielige Großprojekte: die Verbreiterung der A13-A31-Autobahn und, mit der dafür zuständigen Région Grand Est, der Ausbesserung der TER-Bahnlinie, sowie auf eine P&R-Anlage in der Nähe von Thionville, für die allerdings bis jetzt relativ wenig von dem vorgesehenen Geld geflossen ist. Der damalige Bürgermeister Gros und seine Stadt Metz mit 5.000 Grenzgängern blieben zudem außen vor, da die französische Regierung, auf den Wunsch Luxemburgs eingehend, statt des französischen „institutionellen Blätterteigs“ es nur mit einem Ansprechpartner zu tun zu haben, einen „Pôle métropolitain frontalier“ schuf, der nur die Einzugsgebiete um Thionville und Longwy einschloss, Städte, in denen über 50 % der berufstätigen Einwohner Grenzgänger sind.
Dominique Gros und seine Gefolgschaft nahmen danach Abschied von dem an einzelne Projekte gebundenen „Co-développement“ und forderten nur noch eine jährliche Dotation, die 3,5 % der Bruttolöhne der französischen Grenzgänger entsprechen sollte. Auch sprachen die Papiere aus Gros’ Umfeld von da an der Luxemburger Verwaltung, die für 100 Kommunen aufgestellt sei, wohl nicht ganz zu Unrecht die Fähigkeit ab, überhaupt in der Lage zu sein, paritätisch bei Entscheidungen über 2.000 Kommunen mitzumachen.
Dann kamen die Gemeindewahlen von 2020. Dominique Gros hatte schon 2018 seinen Rückzug aus der Gemeindepolitik angekündigt. Die Linke, ohne Zugpferd, verlor in Metz. Die konservative Rechte gewann neue Positionen zurück. Die Partei von Präsident Macron, die LREM, die 2017 die Mehrheit der Abgeordnetenmandate in den Départements 54 und 57 für sich hatte gewinnen können, ging kommunalpolitisch eher leer aus. Postwendend meldeten sich der neue Bürgermeister von Metz, François Grosdidier, und der bestätigte Bürgermeister von Thionville, Pierre Cuny, beides Konservative, bei den Luxemburger Medien, um Abstand zu nehmen von der Idee der Steuerrückführungen. Grosdidier nannte sie eine „Schnapsidee“, „une idée farfelue“7, Pierre Cuny zog ihr das „co-développement“ vor.8 Der Sillon lorrain ist nunmehr das Instrument einer neuen Mehrheit. Die beiden Bürgermeister, behäbig auftretende, traditionelle Provinznotabeln wie aus dem Bilderbuch und ganz nach dem Geschmack der Luxemburger Liberalen, freuten sich unisono, dass Région, Département und die großen Städte, mit Ausnahme von Nancy, in konservativer Hand seien und nunmehr gegenüber Paris und in der grenzübergreifenden Politik mit einer Stimme sprechen könnten.
Radikalisierung der Abgehängten
Dominique Gros hat daraufhin im November 2020 mit einer Schar von mehrheitlich abgewählten oder aus Altersgründen aus der Politik ausgeschiedenen Bürgermeistern, Abgeordneten und Ministern eine neue Vereinigung ins Leben gerufen, „Au-delà des frontières“ (ADF), die seine alten Vorschläge nunmehr in radikalerer Tonart vorträgt.9 Es wird nicht ohne Bitterkeit mit einem Gegensatzpaar Frankreich-Lothringen operiert. Mit dem ersten Begriff ist Macrons Zentralregierung gemeint, die die lothringische Linke aus der Assemblée nationale verdrängt hat und von der man immer wieder befürchtet, sie könne im Falle von Steuerrückführungen aus Luxemburg das Geld für andere als regionale Zwecke verwenden. Mit Lothringen ist die durch die Schaffung der überdimensionierten Région Grand Est administrativ aufgelöste Région lorraine gemeint, die politisch und wirtschaftlich auch im Grand Est immer abgehängter dasteht. Dazu kommt, dass Lothringens großer binnenregionaler Konkurrent, das Elsass, nicht nur stärker geeint ist, weil Linke und Rechte dort miteinander reden, sondern auch, weil die Elsässer sich im Januar 2021 mit der Collectivité européenne d’Alsace (CeA) eine neue Gebietskörperschaft gegeben haben, die als Interessengemeinschaft der Départements Bas-Rhin und Haut-Rhin innerhalb der Région funktionieren soll. Somit ist Elsass in der Région Grand Est institutionell besser aufgestellt als Lothringen.
In ihren Analysen unterscheidet die ADF zwischen alteingesessenen und neuzugezogenen Einwohnern. In ihren Augen hat das Grenzgänger-Phänomen nämlich, anders als man denken könnte, nicht die Arbeitslosenquote bei den alteingesessenen Lothringern gesenkt, denn die meisten neuen Grenzgänger seien aus ganz Frankreich zugezogen. Die würden wegen ihrer höheren Löhne die Hyperinflation der Immobilienpreise in Luxemburg in die Grenzkommunen exportieren und zudem höhere Ansprüche an kommunale Dienstleistungen stellen als die Alteingesessenen. Und zuletzt gibt es diplomatisch gesehen sehr ungeschickte Bemerkungen der ADF, dass die in Luxemburg zurückgehaltenen Steuergelder lediglich den 200.000 dort wohnhaften Berufstätigen, davon alleine 110.000 Luxemburgern, zugutekämen. Die Analysen des Brückenbauers Gros und seiner Leute sind schonungslos und in vielen Punkten nachvollziehbar bis zutreffend. Aber ihres scharfen Tons willen und weil Gros selbst gerne mit Gesprächspartnern den für französische hohe Kader leider nicht unüblichen herrischen Ton gegenüber Untergebenen anschlägt10, wurden auch manche Brücken abgebrochen. Sogar die Agence d’urbanisme et de développement durable Lorraine Nord (AGAPE), die sich auf die Gegend um Longwy konzentriert, und deren Ex-Vorsitzender, der frühere linke Bürgermeister von Longlaville, Jean-Claude Duriez, der bei dem Thinktank ADF zu den Gründern gehört, schlägt in einer ausführlichen Publikation zur grenzübergreifenden Dimension der Pandemie deutlich moderatere Töne an. Für die AGAPE ist die Diskussion mit Luxemburg über die Steuerfrage zwar unausweichlich, könnte aber ebenso über eine Dotation oder einen Fonds zur Finanzierung von Projekten zu einer Win-Win-Lösung für alle Grenzgebiete führen, die in den Sog des „Grand-Luxembourg-Ville“ geraten sind.11
Wegschauen
Diese tiefgreifenden Spaltungen auf der französischen Seite machen es der luxemburgischen Regierung leicht, der Diskussion über eine stärkere Solidarität mit der Nachbarregion auszuweichen. Dazu kommt, dass ein Fonds für eine gemeinsame regionale grenzübergreifende Entwicklung eine viel politischere Angelegenheit wäre, als es deren französische Befürworter zugeben wollen. Luxemburgische Politiker oder hohe Beamte, die hier zum Einsatz kämen, hätten es auf französischer Seite mit einem wegen der lokal zugespitzten Spannungen durch und durch verminten Tätigkeitsfeld zu tun. Würden sie es unvorbereitet betreten, ohne die Spielregeln zu kennen oder abgeklärt zu haben, wäre dies ein regelrechtes Himmelfahrtskommando mit unkontrollierbaren Folgen. Egal wie man es anginge, Projektfinanzierungen durch solch einen Fonds hätten eine starke innerfranzösische Dimension. Wohlwollen gegenüber den Nachbarn wäre zwar angesagt, aber naiv darf es nicht sein.
Da Luxemburg jedoch eh nicht zahlen will, schaut es einfach weg. Das zeigen auch die letzten Entwicklungen der „Luxembourg in transition“ genannten Konsultation, deren Ziel so definiert wird: „réunir des propositions stratégiques d’aménagement du territoire et à produire des scénarios de transition écologique à l’horizon 2050 pour le Grand-Duché de Luxembourg et ses territoires frontaliers.“12 Zuschriften von Gebietskörperschaften und Interessensgemeinschaften aus den Nachbarregionen sind von vornherein ausgeschlossen.13 Wer dennoch dem zuständigen Minister Claude Turmes etwas zukommen ließ, bekam nicht einmal eine Empfangsbestätigung. In einem konsultativen Komitee sind zwar „des représentants des entités partenaires membres de la coopération transfrontalière au sein de la Grande Région (Sarre, Grand Est, Rhénanie-Palatinat, Wallonie, Communauté germanophone de Belgique)“ vorgesehen. Ob diese aber in diesem Mega-Gremium ihre Stimme hörbar machen könnten, ist mehr als fraglich.
Verwässern
Ebenso technokratisch verliefen die letzte Fachministerkonferenz Raumentwicklung der Großregion vom 12. Januar 202014 sowie der Gipfel vom 20. Januar15, deren Resultate nicht einmal für Insider entzifferbar sind, geschweige denn in eine für die Bürger sachlich nachvollziehbare Botschaft umgemünzt werden können. Der Quotidien-Journalist und Großregion-Experte Hubert Gamelon stellte sich denn auch im Vorfeld die berechtigte Frage: „L’espace de la Grande Région est-il vraiment calibré à la hauteur du bassin de vie réel qui se constitue autour du moteur luxembourgeois?“16 Die Luxemburger Regierung aber glaubt, ein einfaches Spiel dadurch zu haben, dass sie alle strukturellen Problematiken, die ihr Verhältnis zu den angrenzenden territorialen Körperschaften langfristig belasten, mit ebendieser für das Ensemble „Grand-Luxembourg-Ville“ inadäquaten Großregion verwässern kann. Eine wohlwollende Warnung der AGAPE-Studie spricht da eine andere Sprache, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte: „La crise sanitaire du Covid-19 a révélé à quel point l’économie luxembourgeoise était dépendante de l’ouverture des frontières et qu’en l’absence d’accords et de coopération avec ses voisins, c’est l’idée même de souveraineté du Luxembourg (par la maîtrise de son activité économique) qui pouvait être menacée.“ Die Angst vor erneuten Grenzschließungen, die ganz Luxemburg bis zur Regierungsspitze vor dem EU-Gipfel des 21. Januar wieder erfasst hatte, bestätigt dies.
Daher muss sich der „Hegemon der Großregion“, wie Diego Velazquez kürzlich in einem Wort-Leitartikel das Großherzogtum im Vorfeld des Gipfels der Großregion am 20. Januar 2020 bezeichnete17, in Sachen gemeinsame regionale grenzübergreifende Entwicklung neu aufstellen.18 Er wird eine systematische regionale Diplomatie führen und die Initiative ergreifen müssen, auch der über 20.000 Menschen der luxemburgischen Diaspora willen, die wegen der zu hohen Immobilienpreise inzwischen auf der anderen Seite der Grenze leben. In einem vielbemerkten Wort-Interview plädierte LSAP-Präsident Yves Cruchten am 25. Januar immerhin dafür, dass Luxemburg in der Großregion „mehr wagen“ müsste.19 Berlin scheint zwar vorläufig nicht in dem Maße an größeren Veränderungen in der Region interessiert zu sein wie tonangebende deutsche Bürgermeister im Grenzgebiet20, die sich Ende 2019 bei der Bundesregierung für steuerliche Rückführungen stark gemacht hatten. Und in Paris ist man zurzeit mehr damit beschäftigt, auf EU-Ebene mit aufreibenden Level-playing-field-Offensiven Luxemburg Teile der britischen Finanzgeschäfte streitig zu machen, die seit dem Brexit hart umkämpft zur Disposition stehen. Ein Anreiz zum unilateralen Vorpreschen stellt diese Konstellation für Luxemburg in der Tat nicht dar. Und dennoch, auf Dauer steht für Luxemburg alles auf dem Spiel: Wirtschaft, Gesundheitswesen – und sogar die faktische Souveränität. Verdrängen, vertagen, schlafwandeln? Geht nicht (mehr) lange gut.
- https://tinyurl.com/y3usessy (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 25. Januar 2021 aufgerufen).
- https://tinyurl.com/y47owobu
- Thomas Bernard, „Onsen eegene Wee“, in: Lëtzebuerger Land vom 15. Januar 2021, S. 7.
- https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=97377
- http://sillonlorrain.eu
- https://tinyurl.com/y37tn5v2
- https://paperjam.lu/article/francois-grosdidier-retrocessi; ähnlich im Luxemburger Wort: https://tinyurl.com/yyygkow6.
- https://tinyurl.com/y2uwnnwm und https://5minutes.rtl.lu/actu/frontieres/a/1543173.html.
- https://tinyurl.com/y2xggvt6
- Z. B. 2019: https://www.rtl.lu/tele/5minutes/v/3184037.html. Dort ist u. a. von der „astuce de plumer l’autre“ die Rede. Oder aber ein längeres Interview mit M. Molitor im Januar 2020: https://www.100komma7.lu/article/aktualiteit/letzebuerg-soll-frankraich-kompenseieren
- https://tinyurl.com/y52u5bzt
- https://luxembourgintransition.lu
- Dort heißt es nämlich: „Cette consultation internationale s’adresse aux professionnels mais également aux universités, écoles supérieures techniques et organismes de recherche ayant une expertise dans les domaines de l’aménagement du territoire, de l’urbanisme, du paysage et de l’architecture, soutenus par les disciplines de l’environnement ainsi que les sciences humaines et sociales.“
- https://tinyurl.com/y3q5mpqp
- http://www.grossregion.net/Aktuelles/2021/XVII.-Gipfel-der-Exekutiven-der-Grossregion
- https://lequotidien.lu/grande-region/la-grande-region-un-colosse-aux-pieds-dargile/
- https://www.wort.lu/de/international/der-hegemon-der-grossregion-6005b004de135b923650a9f3
- Siehe dazu: https://www.forum.lu/article/anfaelliges-getriebe/
- https://tinyurl.com/yxd26xey
- https://www.100komma7.lu/article/aktualiteit/zesummen-hu-mer-scho-vill-hi-krit
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