Möglichkeiten und Grenzen des Verfassungspatriotismus im Falle Luxemburg

Der Begriff des „Verfassungspatriotismus“ wurde zum ersten Mal Ende der 50er Jahre vom deutschen Publizisten Dolf Sternberger gebraucht. Der deutsche Nationalismus, der zu den schrecklichen Verbrechen des Nazi-Regimes geführt hatte, war so diskreditiert, dass kaum jemand noch gewagt hätte, sich als deutscher „Patriot“ zu bezeichnen. Andererseits war Loyalität gegenüber dem neuen deutschen Staat und der „westlichen Wertegemeinschaft“ gefordert. Die Bundesrepublik hatte sich ein „Grundgesetz“ gegeben, in dem eben diese „Werte“ festgeschrieben sein sollten: die unantastbare Würde des Menschen, die Menschen- und Bürgerrechte, demokratische Prozeduren. Der neue „Patriotismus“ sollte sich also auf diese Grundsätze berufen, statt auf eine kulturell-ethnisch homogene Gemeinschaft.

Man kann dem hybriden Begriff einen doppelten inneren Widerspruch vorwerfen. Zum Einen richten sich Verfassungen mit ihren Grundrechten und Prozeduren vor allem an die Vernunft, sind sachbezogen und Ausdruck und Ergebnis von Aushandlungen unterschiedlicher Interessen. Patriotismus aber gehört zur Kategorie der Gefühle. Zum Anderen erheben die Grundsätze demokratischer Verfassungen sowie Menschen- und Bürgerrechte – zumindest theoretisch – Anspruch auf Universalität, können also keinerlei „Patria“ zugerechnet werden. Insofern wäre also auch ein spezifisch luxemburgischer Verfassungspatriotismus ein Widerspruch an sich – nur die Berufung auf universale Grundsätze in Luxemburg wäre widerspruchsfrei.

Denn gemeint ist ja gerade die Abkoppelung der juristischen und politischen Ordnung des Rechtsstaates, der Demokratie und der Menschenrechte von einer historisch, kulturell, ethnisch fundierten nationalen „Identität“. „On voit ainsi comment le patriotisme constitutionnel se détache d’une histoire narrative et commémorative au profit d’une histoire argumentative et autocritique…“1

Nationalpatriotismus und Demokratie

So verstanden lässt sich der Begriff auch aus dem spezifisch deutschen Kontext lösen und im Prinzip auf alle Staaten mit demokratischen Verfassungen anwenden, also auch auf Luxemburg.

Zwar war der nationale Patriotismus in den meisten anderen Ländern Europas nicht so diskreditiert wie in Deutschland, sondern durch die Resistenzbewegungen eher noch verstärkt worden. Auschwitz war zwar ein deutsches Vernichtungslager, wirft aber grundsätzliche Fragen auf, die eigentlich die ganze Menschheit, jede politische Gemeinschaft und jeden Einzelnen betreffen. Zum anderen gab es in den anderen europäischen Ländern entweder faschistische Regime (Portugal, Italien, Spanien) oder faschistische Bewegungen und allerlei Kollaboration mit dem Nazi-Regime, so dass alle ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten hatten, und überall, nicht nur in Deutschland, hat es lange gebraucht.

Außerdem besteht auch heute in demokratisch verfassten Staaten immer wieder die Gefahr, dass nationalpatriotische Tendenzen Oberhand über die demokratischen und menschenrechtlichen Grundsätze der Verfassungen gewinnen. Auch ohne den „Patriotismus“ zu bemühen, wäre zu wünschen, dass die rationale Zustimmung zu menschenrechtlichen Grundsätzen auch mit positiven Gefühlen assoziiert würde. Die Entwicklungen in Europa und anderswo verheißen aber leider wenig Gutes. Und offensichtlich ist es auch hierzulande leichter, Emotionen und nationale Gefühle rund um vermeintliche kulturelle, religiöse und sprachliche „Identität“ zu wecken als um grundrechtliche Fortschritte.

Streng und ernst genommen, impliziert der „Verfassungspatriotismus“, dass die verfassungsmäßigen Rechte (also auch das Wahlrecht) nicht mehr an die Nationalität gebunden sind. Bei der Interpretation des Referendums von 2015 muss man aber vorsichtig sein. Nicht alle Gegenstimmen waren nationalistisch motiviert. Dennoch darf man fragen: Spiegelt das Resultat nicht eben auch die massive Ablehnung eines inklusiven Verfassungspatriotismus wider? Allerdings löst die Art und Weise, wie seit Jahrzehnten an einer neu-alten Verfassung gebastelt wird, ebenso wenig Begeisterung aus wie der bisher ausgehandelte Inhalt. Wollte man in Luxemburg so etwas wie einen Verfassungspatriotismus fördern, wären wohl erheblich mehr prozedurale und inhaltliche Anstrengungen verlangt.

Nationale Identität und Geschichte

In Deutschland erlebte der Begriff des Verfassungspatriotismus während des sogenannten „Historikerstreits“ eine Art Renaissance. Konservative Historiker wie Ernst Nolte wollten das deutsche Nationalbewusstsein wieder stärken und den Holocaust als Antwort auf sowjetische Bedrohung relativieren. Der Philosoph Jürgen Habermas mischte sich ein und verweigerte sich dem Versuch, nationalen Stolz und nationale Zusammengehörigkeit zu fördern und damit der „Vergangenheitsbewältigung“ ein Ende zu setzen. Der „Verfassungspatriotismus“ sollte als Gegengift funktionieren.

In Luxemburg gab und gibt es zwar keinen vergleichbaren „Historikerstreit“ rund um die Frage der Shoah, sehr wohl aber kontroverse Deutungen unserer eigenen Geschichte sowohl in den 1930er Jahren als auch während und nach der Besatzungszeit. Auch hierzulande dominierte jahrelang eher eine „narrative und kommemorative Geschichte“ um den Mythos einer homogenen heroischen Resistenz. Der Antisemitismus, die klerikal-autoritäre Versuchung der 30er Jahre, der Umgang mit den jüdischen Flüchtlingen, die Kollaboration (auch an der Spitze des Staatsapparates) und die sehr rechten Tendenzen bei verschiedenen Resistenzbewegungen wurden dabei übergangen oder zumindest verharmlost, weil sie dem Narrativ nicht so recht entsprachen und unseren „Patriotismus“ verletzten. Wenn dieser „Patriotismus“ aber nicht dem nationalen Heldenmythos gilt, sondern den Grundsätzen unserer einigermaßen demokratischen Verfassung, wird es vielleicht einfacher und weniger schmerzhaft, sich mit den Irrungen und Wirrungen von Nationalismus und Faschismus in unserer Geschichte auseinanderzusetzen. Das betrifft, schreibt auch Justine Lacroix, die Funktion der Geschichtsschreibung, die weniger auf die Schaffung von Identität und Sinn als auf die Problematisierung des Geschichtsbewusstseins bedacht sein sollte. Es bleibt das Verdienst der jungen Historikergeneration, diese Problematisierung vorangetrieben zu haben.

Verfassung und Heimat

„Dat as dat Land, fir dat mer géif / Hienidden alles won / Eist Heemechtsland, dat mir sou déif / An onsen Hierzer dron.“ Die „Heemecht“ steht als „hymne national“ in der Verfassung, beruft sich aber nicht auf sie. Man kann ihr sicher keine nationalistische Aggressivität vorwerfen. Bestimmte Inhalte wie der Titel suggerieren eher Heimat als Nation. Die Liebe zur Mosel und zu den Uelzechtwiesen machen noch keinen Nationalismus aus. Der Begriff „Nation“ kommt nur in der Mehrzahl vor: „Oh Du do uewen, deem séng Hand / duerch d’Welt d’Natioune leet“. Dagegen könnte man sogar mit etwas gutem Willen die „Fräiheetssonn“ fast als eine Art „Verfassungspatriotismus“ deuten, wenn man sie nicht nur als nationale Unabhängigkeit, sondern als Inbegriff ziviler und politischer Rechte und Freiheiten begreifen möchte. Schöner noch wär’s, wenn statt des Anrufs Gottes ein Appell zum kollektiven Engagement zu hören wäre. Also bleibt auch die „Heemecht“ im traditionell nationalen „Wir“– Gefühl einer Heimat befangen, die sich auf ein katholisches Fundament verlassen kann.

Also kein Verfassungspatriotismus: Das Herz schlägt für die Heimat, nicht für die Grundrechte. Und Heimat heißt eben auch: Traditionen, Gepflogenheiten, „Sitten und Gebräuche“. Weder der Unglaube noch das (muslimische) Kopftuch noch die Homosexualität gehören wirklich zur „Heimat“. Eine demokratische Verfassung muss dabei helfen, die Begrenztheiten der Heimat zu überwinden, damit Meinungsfreiheit und Recht auf sexuelle Orientierung zu Grundrechten werden. Selbstverständlich verändern sich auch Lebensweisen und Einstellungen; Verfassungen hinken hinterher oder eilen voraus.

Die Verfassung als Ausdruck bestehender und zukünftiger Verhältnisse

Was aber ist denn nun mit der Marxschen Theorie des Überbaus? Sind Politik und Recht, also auch Verfassung, nichts anderes als die Widerspiegelung bestehender Klassenverhältnisse? Der „Verfassungspatriotismus“ also auch nichts anderes als die unterwürfige Anerkennung und Legitimation eben dieser Herrschaftsverhältnisse? Ganz so simpel ist es dann doch nicht.

Wenn die sozialen Konflikte ihren Widerhall in Staat und Recht finden, dann ist auch die Verfassung ein Terrain, auf dem der „Stellungskrieg“ (Gramsci) um gesellschaftliche Hegemonie ausgefochten wird – sogar in einer gewissen Autonomie und begrenzten Unabhängigkeit von den „materiellen“ Verhältnissen. Das heißt natürlich nicht, dass man einfach über eine Verfassungsreform gesellschaftliche Verhältnisse ändern könnte. Denn Verfassungen, auch die luxemburgische, sind zugleich Ausdruck der bestehenden Verhältnisse, des Konfliktstands als auch Antizipation künftiger Entwicklungen und Kämpfe. Daher lohnt es sich durchaus, sich aktiv und ausdrücklich in die Debatte um eine neue Verfassung einzumischen. In der Tat trägt die bestehende Verfassung den Stempel des liberalen Bürgertums, und der aktuelle Entwurf einer neuen Verfassung geht auch nicht viel weiter. Die Rechte und Freiheiten, die in dem Entwurf eingeschrieben sind, sind nicht zu verachten. Sie können und müssten aber erweitert werden, vor allem mit Hinblick auf eine Ausweitung demokratischer Grundsätze und Erweiterung sozialer Rechte. Der „Sozialstaat“, die Menschenrechte der zweiten und dritten Generation (soziale und kulturelle Rechte) finden kaum noch Niederschlag in konstitutionellen Bestimmungen. Wichtige internationale Konventionen (wie der Pakt über soziale Rechte) sind da weiter als unsere bestehende und die geplante Verfassung – wenn auch leider nicht verbindlich genug. Soziale Rechte und Verteilungsgerechtigkeit sind aber entscheidend für die demokratische Legitimation und Akzeptanz einer Verfassung – sei es auf nationaler oder europäischer Ebene.

Ein gesamteuropäischer Verfassungspatriotismus

In der Debatte um einen Europäischen Verfassungsentwurf griff Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus wieder auf: Wenn es kein einheitliches europäisches „Volk“ gibt, so können die Bürger Europas sich doch gemeinsam auf Grundrechte und Grundregeln des Zusammenlebens einigen und sich so mit einer europäischen Verfassung identifizieren. So anregend solche Überlegungen auch sein mögen, die Begeisterung für einen europäischen Verfassungspatriotismus blieb bisher aus. Das Pendel schlägt heute eher in die andere Richtung. Die von Habermas beschriebene und begrüßte „postnationale Konstellation“2 stößt heute mehr auf Widerspruch als auf Zustimmung, und wir erleben eine Art regressive Renaissance der „Nation“, als identitäres, ausgrenzendes Projekt. Das hat aber wohl auch damit zu tun, dass die EU auf eine sozialstaatliche Regulierung der Märkte verzichtet hat. „In dem Maße, wie die sozialen Voraussetzungen für eine politische Teilnahme zerstört werden, verlieren auch formal korrekt getroffene Entscheidungen an Glaubwürdigkeit.“3

Allerdings kommen wir um die Frage, welchen Stellenwert der Nationalstaat noch hat und haben sollte, nicht herum. Einerseits haben sich in der Vergangenheit soziale Auseinandersetzungen, Erfolge und Kompromisse im Rahmen der Nationalstaaten ereignet. Und selbst die Bürger- und Menschenrechte mit ihrem universalistischen Anspruch blieben seit der amerikanischen und der französischen Revolution zunächst einmal in der (entstehenden) „Nation“ (wie auch in kulturellen Vermächtnissen) verankert. Andererseits verlieren die Nationalstaaten an Entscheidungsbefugnis: Im Fall der EU geben sie einen Teil ihrer Souveränität an supranationale staatsähnliche Instanzen ab, ohne dass es einen wirklich öffentlichen, demokratischen Raum „Europa“ gäbe. Gravierender noch: Im Zuge der neoliberalen Globalisierung verlieren sie gegenüber den weltweit agierenden Wirtschaftsmächten deutlich an Bedeutung. Der Rückzug auf einen nationalen „Verfassungspatriotismus“, gerade einen von rechts, wird da auch nicht viel helfen: Die Erfahrung lehrt, dass der nationale Rückzug die demokratischen Rechte eher abbaut als erweitert. Die Auseinandersetzungen der Zukunft müssen sich sowohl auf nationaler, europäischer und globaler Ebene abspielen. Das wird noch einiges an Engagement und Anstrengung kosten.

Verfassungspatriotismus zwischen Verteidigung und Erneuerung

Eine demokratische Verfassung geht vom Volk aus. Aber wer ist das Volk? Wie kommt das Volk zu einer Verfassung? Mit einem Ja oder Nein zu einem Text, den eine kleine Gruppe von gewählten Vertretern ausgearbeitet hat?

Wie weit behält das „Volk“ die Souveränität über „seine“ Verfassung? Kann es Grundrechte auch wieder abschaffen? Grundsätzlich kann man das nicht verweigern, sonst verliert die Verfassung ihre demokratische Legitimation. Das „Volk“ kann sich selbst Grenzen setzen, z.B. in Form erschwerter Prozeduren für Verfassungsänderungen. Aber auch das ist keine definitive Garantie. Wenn keine religiösen, metaphysischen, nicht einmal mehr naturrechtliche Begründungen gelten, sind auch Verfassungen und ihre Grundnormen nur positives Recht und wie dieses immer auch veränderbar.

Es gibt keine definitive Garantie der Demokratie und der Grundrechte. Sie müssen immer wieder verteidigt, erkämpft, erneuert werden. Kein noch so ausgeklügeltes juristisches oder prozedurales Regelwerk macht ein demokratisches Engagement überflüssig. Engagement ist wohl immer eine Mischung aus rationaler Überlegung und emotionaler Bindung. In dem Sinne wäre dann Verfassungspatriotismus der Ausdruck für eben dieses Engagement: für Grundrechte und Freiheiten, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf supranationaler Ebene.

Bei allem Engagement: Für einen Schuss anthropologisch-politischen Realismus darf man sich durchaus an Spinozas politischer Theorie inspirieren: Man soll sich die Menschen nicht so ausdenken, wie man sie gerne haben möchte, sondern sie so nehmen, wie sie sind. Sie sind eben nicht nur von ihrer Vernunft geleitet, sondern (in unterschiedlichem Maße) von Affekten bestimmt, die nicht immer zu ihrem eigenen Nutzen sind. Darin steckt für den Demokraten Spinoza keinerlei Verachtung. Nicht verurteilen, nicht spotten, sondern verstehen! Und die öffentliche Vernunft und die positiven Affekte fördern.

1. Justine Lacroix, „Patriotisme constitutionnel et identité postnationale chez Jürgen Habermas“, in Rainer Rochlitz, Habermas, Presses Universitaires de France.
2. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Politische Essays, Edition Suhrkamp, 1998.
3. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, o.c., S. 121.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code