Vor rund 12.000 Jahren rotteten sich in Südanatolien ein paar leichter behaarte Vertreter der Gattung homo – an der gewagten Behauptung des sapiens hat die Forschung aufgrund jüngster Ereignisse wieder erhebliche Zweifel angemeldet – zusammen, um den ersten Tempel der Menschheit zu errichten. Nahe des Ortes, der ein paar Jahrtausende später als Urschu, dann als Edessa und schließlich bis heute als Urfa bekannt werden würde, bauten diese Hominiden, unsere Vorfahren, eine gigantische Anlage. Ihr Werkzeug war lachhaft, sie kannten weder Rad noch Flaschenzug. Trotzdem stellten sie 20 Tonnen schwere und sechs Meter hohe Steinpfeiler auf und schufen einen Ort, an dem über 2.000 Jahre lang Götter verehrt wurden. Göbekli Tepe heißt der Ort heute auf Türkisch. Wenn man sich vor Augen führt, dass das erste Großprojekt der Menschheit wohl ein Ort war, an dem unsere Vorfahren mit ihren imaginären Freunden interagieren konnten, wundert man sich eigentlich nicht mehr über den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte. An dieser Stelle überspringen wir, dem Erzählfluss zuliebe, ein paar Jahrtausende.
Im Jahr 2015, nachdem ein mittlerweile erstinstanzlich verurteilter Immobilienmagnat endlich alle Genehmigungen beisammen hatte, rotteten sich auf dem Ban de Gasperich in Luxemburg abermals ein paar leichter behaarte Vertreter der Gattung homo zusammen, um einen Tempel zu errichten – genauer gesagt, ein Pantheon. Es hört auf den wohlklingenden Namen Cloche d’Or Shopping Center, und wie alle Sakralbauten ihrer jeweiligen Epochen wurde es mit dem Anspruch geschaffen, das größte, schönste, meiste, beste und überhaupt im Einflussbereich des Herrschers oder Stifters zu sein, der damit sein Prestige mehren und sich möglicherweise gar unsterblichen Ruhm verschaffen möchte. Das grand opening fand am 28. Mai 2019 statt. Mit nur zwei Wochen Verspätung. Erzählen Sie das mal einem Berliner.
Wem die Metapher des „Konsumtempels“ zu abgegriffen erscheint, der denkt nicht an ihre Verwendung. Wir neigen dazu, religiöse Inbrunst zu verspotten, ja, zu bekämpfen, wenn sie mit Askese, mit Keuschheit und mit Essensvorschriften einhergeht – kurz, wenn sie uns Beschränkungen auferlegt. Wenn allerdings hunderte Jünger des Propheten Steve Jobs nachts vor einem Geschäft campieren, um bei Tagesanbruch rund tausend Euro für ein Stück vom neuen apple der Erkenntnis hinzublättern, haben wir dafür maximal ein müdes Lächeln übrig. Die medial kolportierten Vergleiche mit Sekten verlassen niemals den sicheren Boden der Ironie, als würde der berichterstattende Journalist seinen eigenen Eindruck herunterspielen, als würde der allzu profane Rahmen einen hermeneutischen Zugang verbieten. Die dezidierte Diesseitigkeit des Konsums lässt ihn als Antagonisten der religiösen Heilsversprechen erscheinen, dabei ist er ihr Nachfahre. Und die Einkaufszentren sind seine Kathedralen. Betritt man den Tempel auf der Cloche d’Or durch den verglasten Haupteingang, dann stehen einem zwei Wege offen: Die Treppe ins Untergeschoss führt zum Auchan, der uns als Besucher nun weniger interessiert. Märkte waren in der Vergangenheit Räume des sozialen Handelns, als die Märkte allerdings super wurden, büßten sie ihre soziale Funktion weitestgehend ein. Dass sie bereits in der Antike in Tempeln abgehalten wurden, wissen wir schon aus der Bibel: Jesus verjagte die Viehhändler und Geldwechsler aus dem Vorhof des Jerusalemer Tempels mit den Worten: „Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus!“ Ein frommer Wunsch, wie sich herausstellte – es fand stets zusammen, was zusammen gehört. Die Märkte allerdings waren damals wie heute im eigentlichen Sinne profane Veranstaltungen. Was uns, liebe Besucher, interessiert, sind die Kultstätten. Deswegen nehmen wir die andere Treppe, die uns vom Vorplatz in die heiligen Hallen der Marken führt. An dieser Stelle nur ein kleiner Exkurs, man verzeihe mir die Abschweifungen: Marken und Götter sind ihrem Wesen nach nicht sonderlich verschieden. Beide beziehen ihre Macht in erster Linie aus dem Umstand, dass sie eine Schar von Gläubigen an sich binden, indem sie ihnen etwas versprechen: Gesundheit, Schönheit, Status, beruflichen Erfolg, Freiheit. Dafür müssen ihre Anhänger Opfer oder Spenden darbringen. Während die Versprechungen der Götter sich allerdings in der Sphäre des Immateriellen realisieren, sind die Segen der Marken stoffliche Produkte. Man kann sich mit ihnen schmücken und sie stolz präsentieren, was auch im Wesentlichen erklären dürfte, weswegen der Kapitalismus solch ein leichtes Spiel mit der Religion hatte: Prunk und Pomp hatte bereits bei den Katholiken Vorrang vor dem Inhalt, der Kapitalismus hat diese Dichotomie überwunden und den schnöden Mammon mit magischen Eigenschaften versehen, um ihn zum Inhalt der Heilslehre hochstilisieren zu können.
Der erste, zentrale Schrein des Cloche d’Or Shopping Center ist dann passenderweise natürlich dem Hauptgott der Luxemburger gewidmet: dem Auto. Die Losch-Priesterschaft unterhält hier ein kleines Heiligtum, um den Besucher daran zu erinnern, dass der Weg zum Tempel in Luxemburg nur mit dem Schutz und Segen des vielgesichtigen Göttervaters zu bestreiten ist. Was, wenn nicht eine vierräderige Rüstung aus Blech und Plastik, würde den Gläubigen sicher über die finsteren Straßen bringen? Der Krieg aller gegen alle, der täglich auf dem Asphalt ausgetragen wird, ist wohl das heiligste aller Rituale des Landes, und wer im morgendlichen Stau noch keine Flüche oder Stoßgebete gesprochen hat, der werfe den ersten Seitenspiegel. Die heiligen Tage des Autogottes beginnen übrigens am 24. Januar – zwei Wochen wird ihm zuliebe dann im ganzen Land ein Festival gefeiert.
Im Monat davor steht mit Weihnachten allerdings noch ein eher heidnisch geprägtes Ritual im Kalender, jedoch zeigt der Konsum gerade hier eindrucksvoll seine synkretistischen Fähigkeiten: Die Botschaft der Geburt Christi lässt sich allem Anschein nach am Besten feiern, indem man bergeweise Geschenke einkauft, um sie an die Liebsten zu verteilen. Davon künden nicht nur die Angebote in den Schaufenstern der Schreine – auch die Dekoration der hohen Hallen steht seit Mitte November im Zeichen winterlicher Besinnlichkeit. Den Ansturm allerdings, den allein die Sirene der Starbucksfiliale hier an einem Freitagnachmittag bewältigen muss, findet man nicht einmal mehr während der Weihnachtsmesse in der Kirche. Auch auf der Cloche d’Or findet man, trotz der Größe des Angebots, nur einen kleinen Ausschnitt des Markengötterhimmels, deren Tempeldiener die Gläubigen auf zwei Etagen empfangen und die meist unter fragwürdigen Bedingungen produzierten Talismane in Form von Kleidung, Schuhen oder Parfum an den nach Erlösung strebenden Konsumenten bringen – Erlösung wohl von der schweren Last des Wohlstands. Bemerkenswert ist indes die Variation der Glaubensinhalte, die der fleißige Sammler von Luxusuhren den Pilgern hier präsentiert. Neben etablierten lokalen Heiligen wie Ernster und A.S. Adventure zeigen hier auch Kulte ihr Haupt, die im Luxemburger Pantheon bisher kaum vertreten waren. Wer vor einigen Jahren noch zu Weekday wollte, musste die Wallfahrt ins ferne Ausland antreten und auch Le Temps des Cerises hatte seine Missionare bislang nicht über die Grenzen des Großherzogtums entsandt. In der neuen Kathedrale des Patriziers Becca finden sie allerdings ihren Platz.
Bemerkenswert ist indes die Zurückhaltung, die bei der Gestaltung des Zentrums an den Tag gelegt wurde. Während die hohen Decken und Glaskuppeln zwar ganz eindeutig ihre Anleihen aus den heiligen Hallen vergangener Zeiten ziehen, fehlt im Inneren der aufdringliche Prunk verwandter Bauten. Die gedeckten Farben geben dem Konsumtempel eine fast schon kontemplative Aura und auch die Gänge sind weit und geschwungen, damit der Strom an Besuchern einen nicht notwendigerweise mitreißen muss. Am Auffälligsten ist dies vielleicht im Refektorium: Hier wurde völlig auf die etablierten Schnellrestaurants amerikanischer Prägung verzichtet, stattdessen werden die Pilger von augenscheinlich individuellen Anbietern in gehobener Qualität, oder doch zumindest mit gehobenen Preisen, verpflegt.
Und hier zeigt sich dann auch die Bedeutung, die ein solcher Prachtbau selbst in Zeiten noch entwickelt, in denen die gesamte verfügbare Palette an Produkten eigentlich direkt nach Hause geliefert werden kann. Tatsächlich bietet er nämlich einen Zufluchtsort, an dem man innehalten und sich von den stofflichen Versprechungen der Marken verführen lassen kann, bevor man sich mit einer Mahlzeit, so schäbig der Burger auch schmecken mag, ausruhen und den anderen Menschen beim Verrichten ihrer Gottesdiensteinkäufe zusehen kann. Tempel bleiben demnach immer Orte der Einkehr – egal welchen Götzen sie gewidmet sind.
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