Belval war ein Versprechen. Natürlich wurde es nie als solches angekündigt, aber trotzdem war es eins: Das Versprechen, dem glanzvollen Süden – immerhin einst das schlagende, qualmende, walzende, heiße Herz des Landes, nach Jahren des Siechtums wieder mit einem Schrittmacher auf Trab zu bringen. Belval sollte Luxemburgs Verwandlung von einer Industrie- in eine Wissensgesellschaft sichtbar machen. 2000 wurden aus den Hochöfen Industriedenkmäler, 2001 fiel der Entschluss für die Cité des Sciences. Das Viertel wurde wie ein architektonisches Palimpsest auf die Industriebrache gedruckt, alt und neu sollten sich verbinden und zu einem eindrucksvollen Ganzen werden. Für ein solches Projekt braucht es einen Funken Größenwahn. Und eine Vision.
Wer heute durch Belval spaziert, hat allerdings eher den Eindruck, dass der Kirchberg seinen kleinen Bruder an der französischen Grenze ausgesetzt hat, in der Hoffnung, dass irgendjemand sich um ihn kümmert. Dabei wurde – das sollte ehrenhalber erwähnt werden – hier vieles richtig gemacht, was man beim Finanz-Moloch in der Hauptstadt vernachlässigt hat – etwa die stilistische Komplementarität der Neubauten. Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen poetischen Wahrheit, dass in der Kapitale die eigentlich erhabene Braut namens Philharmonie so eingeschüchtert vor dem Hochhaus der EU-Bürokraten kauert. Aber das Bekenntnis zur Musik, das mit der Avenue du Rock’n’Roll und dem Boulevard du Jazz in den Stadtplan von Belval eingraviert ist, zusammen mit der bisweilen fast schon leidenschaftlich aufblitzenden Farbpalette, das stiftet hier eine Kohärenz, welche die neue Perle des Südens doch um einiges sympathischer wirken lässt als das Stahlglasghetto der Hauptstadt.
„Besser als Kirchberg“ ist jedoch mehr Trostpreis als aussagekräftiges Siegel für Stadtqualität. Die Planer von Agora waren zwar offenkundig bemüht, auf Belval ein Viertel entstehen zu lassen, in dem Menschen tatsächlich leben sollen – das Problem liegt wohl eher in dem Menschenbild, das diesen Planungen zugrunde liegt: Denn das Viertel stellt sehr spezifische Anforderungen an seine Bewohner.
Wer in Belval lebt oder arbeitet, sollte zum Beispiel kein Radfahrer sein. Die breiten Boulevards und die Verkehrsführung sind ganz klar für Autos ausgelegt, die „versunkenen“ Plätze erlauben durch die Höhenunterschiede kein wirkliches Ausweichen für Zweiräder. Radwege? Fehlanzeige. Natürlich kann man nun argumentieren, ein solches Vorgehen entspräche dem Luxemburger Standard und sowieso, vor 20 Jahren, als das Viertel geplant wurde, hätte ja keiner sich ausdenken können, dass der öko-ideologisch verblendete Zivilisationsrückschritt die Bürger des Landes wieder dazu zwingen würde, sich aus eigener Muskelkraft fortzubewegen – damals glaubte man ja, spätestens im Jahr 2015 hätten wir fliegende Skateboards. (Ich möchte mich übrigens an dieser Stelle ausdrücklich beschweren, dass es immer noch keine fliegenden Skateboards gibt. Stattdessen haben wir Elektroroller. Ich bin überzeugt, dass das der größte Verrat ist, den die Welt an den Kindern der 90er begangen hat. Elektroroller! Ich bitte Sie!) Tatsache ist aber: Wer ein Universitätsviertel plant und nicht bedenkt, dass dies möglicherweise von Studenten frequentiert werden könnte, die in der Regel nicht unbedingt Autofahrer sind, der hat sich mit dem Konzept einer Universität nicht wirklich auseinandergesetzt.
Damit nähern wir uns einem der Hauptprobleme der Cité des Sciences – der Universität. Dass diese nämlich überhaupt auf Belval steht, ist ein seltsam ausdrucksstarkes Zeugnis für Luxemburgs Verhältnis zur Wissenschaft: Möglichst abgekapselt von allen Orten der politischen Entscheidungsfindung und den Institutionen der Zivilgesellschaft, an einem einstigen Industriestandort, soll sie die Produktivkräfte entfalten, die einst die Stahlwerke hier sammelte. Man erwartet Resultate, verwertbare Resultate. So wie der Differdinger Stahlträger einst das World Trade Center trug, sollen die Ergebnisse der Forschung heute das Fundament internationaler Wissensarchitekturen bilden, hauptsächlich, um zu beweisen, dass Luxemburg mehr ist als die Geldwaschanlage für verschlungene Firmenkonstrukte. Aber diese seltsamen Intellektuellen, die dort arbeiten, die möchte man gerne auf Distanz halten. Die stellen immer so seltsame Fragen. Belval ist der stadtgewordene Versuch, die kritischen Impulse der Wissenschaft einzufrieden und gleichzeitig ihre Kräfte zu Zwecken des Renommees, ja, des nation branding und natürlich auch der Profitmaximierung nutzbar zu machen. Eigentlich ist es ein Friedhof für die Freiheit der Forschung. Deswegen sieht die Maison du Savoir auch aus wie ein überdimensionales Grabkreuz, umgetreten in einem Akt nächtlichen Grabstättenvandalismus. Dass diese Verachtung der Wissenschaft nun kürzlich abermals von höchster Stelle bestätigt wurde, verdanken wir der Universität Nancy und unserem lieben Premierminister. Das hat mit Belval zwar nichts zu tun, aber auch Cato wusste schon, dass Karthago nicht an einem Tag zerstört werden würde.
Bleiben wir kurz bei der Zerstörung, denn das ist ein Aspekt, den wir bei der Betrachtung von Belval nicht vernachlässigen sollten. Damit kommen wir auch zurück zum eingangs erwähnten Palimpsest: Ein Palimpsest ist der Fachausdruck für ein Pergamentschriftstück, bei dem die Schrift abgeschabt wurde, um es erneut beschreiben zu können. Das Neue legt sich also über das Alte, das darunter fast unsichtbar wird. So haben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch Städte funktioniert: Neue Gebäude wurden auf den Fundamenten der alten errichtet. Was störte, wurde planiert. Mit wachsendem Geschichtsbewusstsein ging man dazu über, die Zeitzeugen der Vergangenheit nicht mehr zu zerstören, sondern aufwendig zu restaurieren und sichtbar zu machen: Städte bekamen Geschichte, Denkmäler, Attraktionen. Und ihre Bewohner bekamen zumindest eine leise Ahnung ihrer eigenen Vergänglichkeit: Auch die Stadt, in der sie leben, wird irgendwann Fundament, Steinbruch und historisches Denkmal zukünftiger Generationen sein. Denkmäler und Kulturerbe zeitigen ein diachrones Verständnis der eigenen Identität.
Auf Belval wurde dieser Prozess verdichtet: Zwischen der Abschaltung des letzten Hochofens und den Plänen für die Cité des Sciences verging kein Jahrzehnt. Nur: Die Denkmäler sind keine – sie liegen in dem neu entstandenen Stadtviertelsurrogat wie der nicht beseitigte Weltraumschrott einer außerirdischen Zivilisation. Mit der Identität des Viertels, das um sie herum errichtet wurde, haben sie nichts zu tun. Es sind Ruinen, die eine Sprache sprechen, die nicht mehr verstanden wird. Die 7.000 Arbeiter, die einst hier schufteten, wurden erinnerungspolitisch liquidiert, ihre ideellen Nachkommen sitzen maximal im Delhaize an der Kasse, ohne sich jemals eine Wohnung in diesem neuen, glänzenden Ghetto mit seinen breiten Boulevards und den glatten Fassaden leisten zu können.
In der Politik urbaner Räume fällt häufig das Wort „Gentrifizierung“, welche die schrittweise stattfindende Aufwertung von Stadtvierteln und die Verdrängung ihrer angestammten, meist weniger betuchten Bewohner bezeichnet. Belval ist anders, in dem Sinne, dass es von Anfang an auf Isolierung und Ausschluss aufbaute – die Wissenschaft bleibt drinnen, die Arbeiter draußen. Und die Zeugen ihrer Arbeit werden zu überdimensionalen Stadtmöbeln. Abstrakte Kunst im öffentlichen Raum, schön anzusehen, aber ihrer Bedeutung vollends beraubt.
Mit Esch2022 stand für dieses Jahr die Gelegenheit im Kalender, diese Verwerfungen sichtbar zu machen und sich der Stadt als Raum, als soziale, künstlerische und politische Spielwiese, neu zu bemächtigen. Der „Remix“ war ein Versprechen, genau wie einst Belval, das inzwischen nahezu vollends einkassiert wurde, zugunsten eines Schaulaufs der Sponsoren. Auf der Website der Europäischen Kulturhauptstadt sind BMW, Arcelor Mittal und Ferrero prominenter positioniert als irgendein teilnehmender Künstler.
Was wird von Belval bleiben? Welche Gebäude von heute werden in hundert Jahren hier als Denkmäler geschützt werden? Das Plaza, als Mahnmal für zukünftige Konsumzombies? Die Universität, als verlassene Ruine einer Gesellschaft, die Neugier und Wissen in den Dienst des Kapitals stellte? Oder vielleicht die Straßen – als kurioses Souvenir an eine Zeit, in der nicht der Mensch, sondern das Auto der archimedische Punkt jeglicher Stadtplanung war? Ich weiß es nicht. Vielleicht wären unsere Urenkel am besten beraten, das Viertel zu planieren und neu zu errichten. Nur die Hochöfen, die könnten sie stehen lassen.
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