Alles neu macht der Mai: Es ist der Monat, in dem der gemeine Mitteleuropäer wieder ausreichend Sonnenlicht erhält, um die letzten Ketten der Winterdepression abzuschütteln, an den knotigen Baumskeletten entlang der Straße zeigt sich saftiges Grün – falls sie denn nicht einem Radweg zum Opfer gefallen sind –, und insgesamt wirkt die Welt wieder etwas freundlicher, falls man es denn schafft, für ein paar Stunden keine Nachrichten zu konsumieren. Weil das hier aber eine Kolumne ist und Kolumnen ja traditionell eher der erbaulichen Unterhaltung der werten Leserschaft dienen, bietet sich hier die seltene Gelegenheit, Sie nicht mit dem allgemeinen Zustand der Welt in die Verzweiflung zu treiben. Stattdessen widmen wir uns einem kleinen Land, das manch ein Privilegierter selbst damals noch bereisen konnte, als die Regierungen dieser Welt die grassierende Corona-Pandemie noch nicht ignorierten: Balkonien, einst freischwebende Wohlstandsinsel des städtischen Bürgertums, heute nunmehr Urlaubsort jener Großherzogtumsbewohner, die aufgrund der Wohnungspreise (siehe forum 424) ihr Grundrecht auf den Malediven-Pauschalurlaub nicht mehr wahrnehmen können.
Früher unterschied man zwischen dem straßenseitigen Erscheinungsbalkon und dem hinterseitigen Wirtschaftsbalkon: Auf ersterem zeigte sich das städtische Bürgertum im feinen Zwirn bei festlichen Anlässen, um etwa vorbeiziehenden Paraden zuzuwinken, auf letzterem wurde ebenjener Zwirn zum Trocknen aufgehängt, während die Hausangestellten niedere Arbeiten verrichteten. Und wenn auch die soziale Segregation qua Outsourcing von Haushaltstätigkeiten wieder einem gewissen Aufwärtstrend unterliegt (wie viele Ihrer Bekannten gönnen sich den Luxus einer schlecht bezahlten Reinigungskraft mit wenig Aussichten auf gesellschaftlichen Aufstieg?), so hat das zwanzigste Jahrhundert es doch geschafft, den Balkon durch alle Schichten hindurch zu demokratisieren. Weil aber jede aufkommende Demokratie ohne die Kontrolle alter Eliten die skurrilsten Blüten treibt, haben sich auch in Balkonien die unterschiedlichsten Nutzungsformen jenes fragmentierten Elysiums herausgebildet, die bei vorbeiziehenden Reisenden für Befremden sorgen können. Hier folgt nun eine notwendigerweise unvollständige Typologie jener Balkone, die der Autor dieser Zeilen bei seinen vermessenden Streifzügen durch Luxemburg beobachten durfte.
1. Der Wohnzimmer-Balkon
Ob das Vorhandensein dieser Balkonform nun auf Platzmangel in den eigenen vier Wänden oder aber auf das Absterben jeglichen Gefühls für Scham und Privatsphäre im Zeitalter der sozialen Medien zurückzuführen ist, dürfte von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Bemerkenswert ist indes, dass man diese Wohnzimmerbalkone durchaus auch straßenseitig entdecken kann. Dabei sind es weniger die Rattan-Sofas, die kitschigen Lampen oder das bunte Durcheinander an Krimskrams, die als Alleinstellungsmerkmale in diesem Teil Balkoniens dienen. Es ist das Verhalten ihrer Bewohner: Die Achtlosigkeit, mit der lautstark intime Details von Unbekannten diskutiert werden, die Streitgespräche, die hier für vorbeigehende Passanten weithin hörbar ausgetragen werden und natürlich die Sorglosigkeit, mit der sich diese Balkonier in schmutzigen Jogginghosen oder gar Unterwäsche der Welt präsentieren – all das erinnert an Reality-Formate aus dem Nachmittagsfernsehen, die hier ungefragt und schamlos der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Man kann ein solches Verhalten sicher auch als Zeichen einer lebendigen Stadtgesellschaft deuten und sich des prallen Lebens erfreuen. Man kann es aber auch lassen.
2. Potemkins Balkon
Der eingangs erwähnte Erscheinungsbalkon ist längst nicht tot, allerdings hat sich sein Antlitz gewandelt. Heute präsentieren die Hausbewohner sich nicht mehr selbst der Welt – dieses anrüchige Verhalten überlassen sie dem Typus des Wohnzimmer-Balkons. Ihnen ist Privatsphäre heilig und die Öffentlichkeit eine konstante Bedrohung, deswegen thront auf dem Geländer eine Brüstung aus symmetrisch blühenden Geranien in diversen Farben, die in ihrer Austauschbarkeit ein quietschbuntes „Gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen!“ signalisieren. Diese Form des Balkons ist recht häufig in Vororten und auf dem Dorf zu entdecken, und wenn er sich auch ästhetisch durchaus ansprechend in die friedliche Stille dieser Straßen einfügt, so regt sich beim aufmerksamen Beobachter doch eine leise Frage im Hinterkopf: Was genau wird hier versteckt? Welche Tragödie, welche seelenlose Leere lauert hinter den Blumen, die eine heile Welt vorgaukeln? Potemkin hätte es nicht besser machen können.
3. Die Abstellkammer
Eindeutig aus der Not geboren ist der Balkon, oft aber auch eine Loggia, die vom Bewohner der angeschlossenen Wohnung kurzerhand zur Abstellkammer umfunktioniert wurde. Hier stapeln sich Möbel, türmen sich Blumentöpfe und halbwegs regenfestes Zeug in Plastikregalen, quetschen zusammengerollte Teppiche sich an Wäschekörbe und die dazugehörigen Wäscheständer und baumeln Turnschuhe von improvisiert gespannten Drähten. Mein persönliches Highlight, gesehen in der Escher Rue de Belvaux: ein Staubsauger mit unklarer Funktionsfähigkeit, der zwischen zwei Holzschränken ausharrt, wartend auf seinen Einsatz oder seine Entsorgung. Dies ist sicherlich das traurigste Ende eines Balkons, da er sämtliche Lebensfreude vermissen lässt. Ob dies nun auf den mangelnden Platz in der Wohnung oder auf die chaotische Natur der Bewohner zurückfällt, ist letzten Endes ohne Relevanz: Dieser Balkon zeigt weithin die eigentlich versteckten Reste, die in einem Leben anfallen. Anhand ihrer Relikte sieht man verlorene Hobbys, ausgezogenen Nachwuchs und gebrochene Neujahrsvorsätze. Archäologisch sicherlich interessant, in jeder anderen Hinsicht ein betrüblicher Anblick.
4. Der Campingplatz
Richtig peinlich sind jene Balkone, die vorgeben, etwas völlig anderes zu sein. Die Grasmatte auf dem Boden, Campingklappstühle und Bierkästen, bevorzugt noch ein Holzkohlegrill, um alle Nachbarn am Genuss des Duftes verbrannter Bratwürste teilhaben zu lassen: Herzlich willkommen auf dem Campingplatz! Diese Plätze werden wegen der grundsätzlichen Würdelosigkeit eines solchen Daseins generell außerhalb bewohnter Ortschaften errichtet. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Camping hat sicherlich seine Berechtigung, und es sei jedem gegönnt, sich daran zu erfreuen – allerdings wohnt ihm eine dezidierte Abkehr von der Sesshaftigkeit inne, die fortgeschrittene Zivilisationen in der Regel auszeichnet. Deswegen haben Miniaturcampingplätze nichts, aber auch wirklich gar nichts auf einem Balkon zu suchen. Als Balkonier steht man in der Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen, ein gedeihliches Zusammenleben zu gewährleisten. Wer hier an einen Campingplatz denkt, täte besser daran, seine Wohnung zu verkaufen und in ein Auto zu ziehen. #vanlife ist der neue Trend – und die Instagram-Community freut sich sicherlich über noch mehr Fotos aus umgebauten Lieferwagen. Aber bitte, verschont die arbeitende Bevölkerung mit eurem ostentativ gelebten Urlaubsgefühl, herzlichen Dank.
5. Der Einrichtungskatalog-Balkon
Dann gibt es natürlich noch jene Balkone, bei denen auf den ersten Blick alles stimmt. Ein filigraner Tisch samt dazugehöriger Stühle, sparsam und intelligent eingesetzte Dekorationselemente, drei strategisch sinnvoll platzierte Pflanzen, die einen Sichtschutz in beide Richtungen bilden – eigentlich perfekt. Eigentlich. Denn das Bedauernswerte an diesen Balkonen ist, dass sie gar nicht benutzt werden. Sie dienen lediglich als Ausstellungsfläche, als hätte jemand die Idealvorstellung eines Balkons als Gemälde festgehalten, aber dann vergessen, die Menschen ins Bild zu malen. Nature morte, wenn man so will, direkt aus dem Baumarktkatalog nach Hause transferiert. Man kann sich als Stadtschlenderer natürlich über die ästhetische Ausnahmeerscheinung freuen – wer allerdings das Leben von seinem Balkon fernhält, der verschwendet nur Lebensraum.
Wie also soll man nun, in diesem Frühling, seinen Balkon richtig nutzen? Die Zeiten, da man den Helden der Pandemie abends applaudierte, sind ja endgültig vorbei – zum Glück ist noch niemand auf die Idee gekommen, die gleiche Übung jetzt für die ukrainischen Verteidiger im Donbass zu wiederholen. Nicht etwa, weil sie keine Unterstützung verdient hätten, sondern weil der Applaus als Symbol der eigenen Unfähigkeit etabliert wurde. Deswegen empfiehlt es sich heute vielleicht, einfach dem Beispiel von Ernst Jünger zu folgen. Ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwimmen, am Abend auf der Terrasse, und dazu ein Blick in die Ferne. Und die Sonnenbrille nicht vergessen. Explodierende Atombomben strahlen heller als die Sonne – aber von einem Balkon mit guter Aussicht ist es ohne Zweifel ein spektakulärer Anblick. Möge er uns erspart bleiben.
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