Reisen Sie gerne? Stellen Sie sich vor, es ist Sonntag, Sommer, etwa Anfang Juli. Sie sind ein fleißiger Luxemburger mittleren Alters, zum zweiten Mal verheiratet, Eigenheim im Speckgürtel der Hauptstadt mit Garten und Doppelgarage. Sie haben forum abonniert, vielleicht auch noch d’Letzebuerger Land, immerhin haben Sie Bildung genossen, und natürlich das Wort, wegen der Todesanzeigen, man will ja wissen, wem man in Zukunft im Cactus nicht mehr über den Weg läuft. Im Großen und Ganzen sind Sie sehr zufrieden mit Ihrem Leben. In zwei Wochen geht’s in die Dordogne, wo Sie Jahr für Jahr dasselbe Ferienhaus in der Nähe von Bergerac von einem freundlichen Winzer namens Francis mieten. Um sich schonmal auf den Urlaub einzustimmen und weil Sie als einzelner Mensch ja nichts gegen die drohende Klimakatastrophe tun können, entscheiden Sie sich, den mintgrünen Cadillac DeVille mit offenem Verdeck, Heckflosse und 6,4 Liter Hubraum – vor vier Jahren aus den USA importiert – entlang der Mosel spazieren zu fahren. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Und so gondeln Sie guter Dinge mit Ihrem Straßenschlachtkreuzer von Grevenmacher nach Süden, folgen den sanften Schlangenlinien, die Luxemburgs Grenzfluss in das Tal gegraben hat und genießen das satte Grün der sonnenverwöhnten Weinberge, das zufriedene Brummen des Motors unter der Haube, Marvin Gaye singt im Radio I heard it through the grapevine. Ein beschauliches Dorf nach dem anderen huscht vorüber, ein paar Verrückte halluzinieren auf ihren Carbon-Rennrädern in der Hitze hechelnd ihre Teilnahme an der Tour de France herbei. Und ehe Sie sich versehen, kündigt das Ortseingangsschild einen Namen an, der weit über die nicht mehr wirklich relevanten Grenzen des kleinen Luxemburgs klingt.
Schengen! Freiheit! Benzin! Während Sie im Schatten der majestätischen Autobahnbrücke an der Aral-Tankstelle warten, bis der Typ mit dem Saarbrücker Kennzeichen vor Ihnen den letzten Hohlraum zwischen den Kanistern im Kofferraum mit Kaffeepäckchen gepolstert hat, lassen Sie Ihre Gedanken schweifen. Wie schön, dass hier die europäische Freizügigkeit gelebt wird. Kurzstrecken-Import-Export. Freier Warenverkehr. Sieben Tankstellen auf dieser Seite der Mosel, drei dm-Märkte in Perl – das hätte Robert Goebbels nicht zu träumen gewagt, als er auf der schäbigen Barkasse 1985 in Abwesenheit der richtigen Regierungsmitglieder Schengen I unterzeichnete. Wir lassen Sie jetzt mal Ihren Cadillac volltanken und ziehen kurz weiter.
Der Zufall weltgeschichtlicher Bedeutung hat Schengen völlig unverhofft getroffen – und es hat sich immer noch nicht ganz davon erholt. Spaziert man durch die engen Straßen des Weinorts, hat man den Eindruck, die zusammengedrängten Häuser ducken sich, in der Hoffnung, das Dorf möge doch bitte von tieffliegenden Touristen verschont bleiben. Diese findet man natürlich auch, meist mit einer Mischung aus Unglaube und Enttäuschung in den käsigen Gesichtern, wenn sie aus dem Europamuseum kommen und feststellen mussten, dass es hier wirklich nichts zu sehen gibt. Bitte weitergehen. Die Schengener warten bis heute sehnlichst darauf, dass man den historischen Irrtum einsieht, die Schlagbäume wieder fallen und sie verdammt nochmal ihre Ruhe haben. Denn schön ist es hier, ganz bestimmt, so wie überall an der Luxemburger Mosel. Wieso sollte man das unbedingt mit anderen teilen wollen?
Dabei ist dieses Schengener Gefühl, dieser tief verspürte Wunsch, für sich und bei sich zu bleiben, doch der eigentliche Urgedanke des neuen Europas. Nachdem Deutschland 1945, Großbritannien 1956 und Frankreich 1962 einsehen mussten, dass man weltpolitisch nur noch in der zweiten Liga spielte, waren die Weichen für jenen Protektionismus in Europa gestellt, den man seinen Bürgern als Einheit in Vielfalt verkaufte. Die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl wurde zur Esse der Notwendigkeit, in der der Schild geschmiedet wurde, der Europa vor dem Schicksal seiner ehemaligen Kolonien schützen sollte. Als tributpflichtige Protektorate unter dem Mantel der USA tat man sich zusammen, um einen Rest an Eigenständigkeit zu behaupten. Und wenn man schon nicht mehr andere Länder nach Belieben überfallen und plündern kann, dann möchte man doch zumindest dafür sorgen, dass die einst Geplünderten nicht plötzlich vorbeischauen und Ansprüche anmelden. Schengen steht in Europa für das Ende der Binnengrenzen. Dass dies nur möglich war durch eine rigide Kontrolle der Außengrenzen, vergisst man im lauschigen Schengen nur allzu leicht.
Nachdem Sie also Ihr benzinsaufendes Ungetüm gefüttert haben, suchen Sie sich einen Parkplatz im Schatten der Bäume, die den Rand der CR152b säumen, besser bekannt als Rue Robert Goebbels. Das asphaltierende Alphatier der LSAP als Namensgeber für eine Pflasterstaße zu wählen, die an eine Fußgängerzone erinnert und genau deshalb regelmäßig den piéton pitoyable dazu zwingt, sich mittels Hechtsprungs aus der Reichweite vorbeirasender Autos zu retten, zeugt von der feinsinnigen Ironie der hiesigen Gemeindeverantwortlichen, wenn man Gedankenlosigkeit als mögliche Ursache kategorisch ausschließt. Trotzdem spaziert es sich ganz angenehm hier entlang der Mosel. So entdeckt man zum Beispiel zwei Stücke der Berliner Mauer, eins mit einem Konterfei von Michael Gorbatschow, dem alten Helden des Rückzugs, dem man für die Eröffnung des sowjetischen Ausverkaufs 1990 den Friedensnobelpreis verlieh.
Das Stück daneben zeigt den Mittelteil eines Graffitos der Künstlerin Wee Flowers, das Gesicht einer Frau, über dem die Frage „Can I stay?“ prangt. Davon hat es nur das n I s nach Luxemburg geschafft, tay? steht in Verdun und Ca derzeit in Kyjiw, immerhin zwei Orte, die für die Friedens- und Sicherheitsordnung Europas historisch wie gegenwärtig nicht ganz unerheblich sind. Dass die Frage allerdings ohne das Wissen um die ergänzenden Mauerstücke nicht lesbar ist, steht traurigerweise in der Kontinuität der europäischen Symbolpolitik: Eine Abfolge vermeintlich großer Gesten ohne Sinnzusammenhang. Den meisten Rednern vor der ultramarinen Sternenflagge geht schon beim Aufblasen der eigenen Wichtigkeit die Luft genauso aus wie den Schlauchbooten der Flüchtlinge, die von ultra marina, also jenseits des Meeres, nach Europa wollen. Nach Schengen. Gekommen, um zu bleiben – Can I Stay?
Nicht wegen der Weinberge oder des guten Wetters an der Mosel, nein, auch nicht wegen der Valentiny-Architektur, die hier im ländlichen Raum die Verheerungen städtebaulicher Alpträume spiegelt. Die meisten Leute wollen nach Europa, weil ihnen hier niemand den Boden unter dem Arsch wegsprengt, sie umbringt, ihre Frau vergewaltigt und ihre Kinder versklavt. Und natürlich, weil sie nicht verhungern müssen, wenn sie gerade keine Arbeit finden oder ihre Felder aufgrund des Klimawandels in der Sonne verdorren. In letztgenanntem Fall spricht man dann gerne von „Wirtschaftsflüchtlingen“ und von „Einwanderung in die Sozialsysteme“. Marie-Antoinette wollte den Menschen ohne Brot immerhin noch Kuchen gönnen, Frontex hat nur Salzwasser für sie.
Apropos Kuchen: Nachdem Sie sich die Mauerstücke angesehen und eine Runde entlang der Promenade gedreht haben, setzen Sie sich also auf die Terrasse des Bistros An der aler Schwemm, das direkt ans Europamuseum grenzt und genehmigen sich ein Stück Kuchen mit Kakao von der Elfenbeinküste und eine Tasse äthiopischen Kaffee. Man muss die Menschen nicht um sich haben wollen, um die Früchte ihrer Arbeit genießen zu können. Von Ihrem Sitzplatz lassen Sie ihren Blick über die Mosel schweifen, die Sicht wird unterbrochen von einem Ponton, auf welchen der zuvor bereits erwähnte Architekt eine Skulptur erbaut hat, die ein wenig an ein gekentertes Boot erinnert, das mit dem Bauch nach oben im Fluss treibt. Tatsächlich handelt es sich um das Tourist Office, mit angeschlossenem Souvenirshop. Hier findet man vor allem Bücher über die Größe und Schönheit Europas und Luxemburgs, unter anderem Victor Hugo et l’Idée des Etats-Unis d’Europe von Frank Wilhelm. Erschienen im Jahr 2000, noch vor dem Euro, wirkt es wie ein Relikt aus fast schon unwirklicher Vergangenheit – spätestens, seit die Länder des alten Kontinents 2020 jeweils in Eigenregie zeigten, dass das Schengener Abkommen das Papier nicht wert ist, auf dem es gedruckt wurde. Immerhin, eine Sache haben wir uns ganz erfolgreich von den großen USA abgeschaut: Um einen Grenzzaun wie den in Melilla beneiden uns sogar die Texaner. Mindestens zwei dutzend Flüchtlinge sind hier vor Kurzem wieder gestorben, an der Grenze des Schengenraums. Und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez lobte die Grenzschützer. Kein Wunder – es käme einem Alptraum gleich, müssten die nun nach zwei mauen Jahren wieder nach Süden strömenden Touristen sich die Strände mit Flüchtlingen teilen. Lebendigen oder Toten. Reisen Sie gerne?
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
