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Das Land der Wölfe

© Carlo Schmitz

Als ich dreizehn war, gab es in Luxemburg in der Groussgaass eine Filiale des Games Workshop. Dort ging man als Jugendlicher nach der Schule hin, wenn man Fantasy dem Fußball vorzog und mehr Interesse an Modellbau als an Mädchen hatte. Games Workshop ist ein britischer Spielehersteller, er vertreibt das Table­top-Spiel Warhammer, das aus überteuerten Plastikbausätzen, überteuerten Farben und überteuerten Büchern besteht. Kurz: Ein Traum für nerdige Teenager mit einkommensstarken Eltern. Ich war öfters dort. Und es war nett. Das lag vor allem an Cedric, dem Filialleiter, einem überaus jovialen Franzosen mit Hang zu fürchterlichen Wortwitzen. Als ich ihm meine Adresse für die begehrte Kundenkarte nannte, kam er natürlich nicht an dem Ort Filsdorf vorbei: „Filsdorf? C’est donc le village où tous les pères du Luxembourg laissent leurs fils quand ils quittent leurs familles?“ Ich, Scheidungskind, blieb ihm ob des kombinierten Mangels an Schlagfertigkeit und Französischkenntnissen die Antwort schuldig.

Vielleicht lag Cedric mit seiner Vorstellung sprechender Ortsnamen aber nicht ganz daneben. Das dachte ich zumindest, als neulich die Bürger von Consdorf ihrer Bürgermeisterin klarmachten, dass sie Wanderer zwar mögen, von Einwanderern allerdings nichts wissen wollen. Anlass war eine Infoveranstaltung am 26. September zur Frage, ob ein Hotel in der Gemeinde in Zukunft möglicherweise als Unterkunft für Geflüchtete dienen könnte. Dabei fiel auch die mit Applaus quittierte Forderung, die Gemeinde solle „auch mal an die Luxemburger denken und nicht nur an Ausländer“. Und Recht haben die Bürger von Cons­dorf natürlich. Die ganze Welt schaut weg, während russische Raketen ihre Wohngebiete verwüsten und Fundamentalisten ihre Frauen totprügeln. Darüber berichten die Medien natürlich nicht. Consdorf, das ist die vergessene humanitäre Katastrophe unseres Jahrzehnts. Oder war’s humanistisch? Egal. 

Consdorf liegt im Kanton Echternach und ist eine der sogenannten Müllerthal-Gemeinden, die zusammen die Kleine Luxemburger Schweiz bilden – keine besonders kreative Namensgebung, aus touristischer Sicht aber eine Erfolgsgeschichte. Die Schweiz dient in ganz Europa als toponomastische Referenz, wenn ein paar seltsam geformte Felsen die Landschaft prägen. Deshalb gibt es in den Benelux-Ländern knapp zwanzig „Schweizen“, in Deutschland sind es über hundert. Am bekanntesten ist sicherlich die sogenannte Sächsische Schweiz, bekannt für ihre Wanderwege und die regelmäßigen Lichtshows am Nachthimmel dank brennender Flüchtlingsheime. Interessanterweise war auch das große Vorbild, die eigentliche Schweiz, vor 30 Jahren für derartige Anwandlungen berüchtigt: Im Jahr 1992 brannten hier nicht weniger als zwanzig Asylbewerberheime. Die Schweiz wird nicht nur dem Namen nach kopiert, man bemüht sich landläufig auch um eine Übernahme der kulturellen Eigenheiten der Eidgenossen.

Gibt es also einen Zusammenhang zwischen bergigen Landschaften und selektivem Ausländerhass? Denn selektiv ist er auf jeden Fall, wichtigste Auswahlkriterien sind dabei Kontostand und Aufenthaltsdauer, weiterhin Religionszugehörigkeit und Hautfarbe. In Consdorf und den umliegenden Gemeinden hat man zum Beispiel kein Problem mit fahrendem Volk: Jedes Jahr überfallen Karawanen von Kombis mit Wohnwagen das Land, besetzen Campingplätze und spucken seltsam sprechende Menschen aus, die alles frittieren, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Aber sie sind halt weiß und zahlen in Euro. Schwieriger wird es bei Arabern, aber täte ein Öl-Multi mit seiner Entourage anrücken, so rollte man ihm wie im übrigen Luxemburg gewiss den roten Brokatteppich aus. Denn das Geld liebt man hier, da wird ein Fremder schnell zum Vertrauten, wie im Games Workshop. Fast 600 Millionen pumpte Katar zum Beispiel 2012 nach Luxemburg, da sieht man gerne darüber hinweg, dass der Emir im syrischen Bürgerkrieg auch gerne Warhammer mit echten Armeen spielt. Nur die Flüchtlinge, die sollen nicht herkommen, die sollen gefälligst auf ihrem Spielfeld bleiben, während die Scheiche hier Urlaub machen und sich neue Investitionsmöglichkeiten ansehen.

Ich merke, die Kolumne kommt vom Weg ab, also rasch zurück in die Kleine Luxemburger Schweiz. Den Namen hat das Müllerthal übrigens 1842 von einem Franzosen bekommen, damals noch als Suisse des Pays-Bas – wir erinnern uns an den Geschichtsunterricht, Luxemburg war damals noch in Personalunion dem niederländischen König unterstellt. Das erklärt vielleicht, weshalb es das fahrende Volk immer noch hierherzieht. Gleichzeitig gilt der Urwald um das Tal der schwarzen Ernz auch als Wiege Luxemburgs, immerhin wurde hier der „älteste Luxemburger“ gefunden, der sogenannte „Loschbur-Mann“, der hier vor 8.000 Jahren gelebt hat. Es gibt zwar auch eine „Loschbur-Fra“, die nochmal tausend Jahre älter ist, aber da sie, ihrem Schädel nach zu urteilen, skalpiert und verbrannt wurde, kann man davon ausgehen, dass es sich bei ihr nicht um eine Luxemburgerin, sondern um eine illegale Einwanderin handelte. Aus prähistorischer Perspektive kann so auch eine ausländerfeindliche Bürgerinitiative als zivilisatorischer Fortschritt gelten.

Bevor das Müllerthal als niedliche Schweiz bekannt wurde, hatte der Flecken noch einen anderen Namen, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Land der Wölfe. An diese Zeit erinnert heute noch der Name „Wolfsschlucht“, die den felsigen Engpass in der Nähe von Echternach bezeichnet. Lange vor den schicken Hotels und endlosen Wanderwegen (der Müllerthal-Trail misst immerhin ein Zehntel der Balkanroute) waren die Gemeinden hier nämlich kaum an das Umland angebunden. Touristen gab es keine. In die Wälder trauten sich nur Irre und Mutige, weil man hier die Raubtiere vermutete. Erst die Erzählungen weitgereister Wanderer wie Joseph Görres aus Koblenz machten den Ort berühmt, und in den 1870ern wurde die Gegend an das Luxemburger Schienennetz angebunden. Aus der Zeit stammt auch die Brücke über die drei kleinen Wasserfälle vom Schießentümpel, das vermutlich meistfotografierte Motiv des Großherzogtums, noch vor der Aussicht auf die Unterstadt von der Corniche aus. Wo Touristen sind, stören Wölfe allerdings, und konsequenterweise wurde der letzte Wolf dann auch Anfang des 20. Jahrhunderts geschossen, damit Fremdenverkehr und Wildschweinpopulationen ungestört gedeihen konnten. 

Aber nicht nur Menschen auf der Flucht suchen heute Schutz in Luxemburg, auch die Wölfe kommen wieder und sorgen für Schlagzeilen, wenn sie sich an Schafen gütlich tun. Interessanterweise schlägt ihnen hierzulande weniger Misstrauen und Abscheu entgegen als Asylsuchenden, von der Reaktion der geschädigten Viehzüchter mal abgesehen. Wo der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, werden Wölfe als Bereicherung gesehen – zumindest wohl so lange, bis sie einen der zahllosen Touristen verspeisen, die in ihren bunten Jack-Wolfskin-Jacken wie leuchtende Zielscheiben über den Müllerthal-Trail schwirren. Dann wird sich bestimmt wieder eine Bürgerinitiative bilden, die mit Fackeln, Mistgabeln und Präzisionsjagdgewehren dafür sorgt, dass Meister Isegrimm seine Grenzen kennt und brav jenseits dieser Grenzen bleibt. Zumindest solange er nicht bereit ist, für seine Verpflegung in Euro zu zahlen und eine Übernachtung im Hotel „Le Bon Repos“ zu buchen.

„Le Bon Repos“ – die gute Ruhe. So heißt die Unterkunft, an der sich die Consdorfer Gemüter entzündeten. Ein freundlicher Name für einen freundlichen Ort, an dem wohl gut 20 Asylsuchende Schutz und ein Dach über dem Kopf gefunden hätten. Aber zum Glück denkt jetzt wohl auch mal einer an die armen Luxemburger. Consdorf bleibt Consdorf. Gehen Sie ruhig mal hin, es ist wirklich schön dort. Nur ein paar von den Einwohnern, die haben eher rückwärtsgewandte Vorstellungen. Aber das ist nichts, was man nicht auch in den anderen Schweizen dieser Welt antreffen würde. Oder halt in Afghanistan.

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