„Vertrauen in die Gestaltbarkeit der Zukunft ist geschrumpft“

Ein Interview über die Bedeutung von Freiheit und europäischen Nationalismus mit Hans Ulrich Gumbrecht, Hochschullehrer für Komparatistik an der Universität Stanford

Gebürtiger Deutscher und heute US-Staatsbürger: Sie kennen sowohl den „alten“ wie den „neuen“ Kontinent. In Europa empfinden Sie einen „latenten Anti-Amerikanismus“. Welche Form nimmt dieser an?

Hans Ulrich Gumbrecht: Ich denke, dass sich eine halbbewusste Vorstellung von Amerika als das vage und unsympathische Andere, das, was man selbst nicht sein will, herausgebildet hat. Dies hat natürlich auch damit zu tun, dass diese Andersheit nicht als neutral, sondern eher als eine Fehlabweichung, eingeschätzt wird. Der Sozialdemokratismus ist in Eu-ropa zum Normalfall geworden und macht zugleich die größte Differenz zu Amerika aus. Deshalb wird das amerikanische Staats- und Wirtschaftssystem manchmal als skandalös empfunden.

US-Amerikaner und Europäer haben in der Tat andere Erwartungen gegenüber dem Staat. Sie persönlich befürworten das amerikanische Modell, das die Aufgabe des Staates darauf beschränkt, die individuelle Freiheit zu sichern. Was könnte Europa Ihrer Meinung nach von den Staaten lernen?

H.U.G.: Diese Art des Zusammenlebens ist in Europa sicherlich nicht möglich, weil sie nicht der europäischen Tradition entspricht. Sich Gedanken darüber zu machen, was das amerikanische Modell für Europa bringen könnte, führt aber zu einer größer-en Freiheit gegenüber eigenen Traditionen. Es hat sich herausgestellt, dass die Einigungserwartungen in Europa zu komplex und perfekt waren und dies wirkt sich langfristig als europäische Krise aus. Muss die EU wirklich eine Wirtschaftsgemeinschaft sein? Könnte sie nicht eine gemeinsame Währung haben und intern wirtschaftlich ganz verschieden sein, so wie die amerikanischen Bundesstaaten? Vielleicht könnte ein Staat mit weniger Funktionen, also extrem gesagt ein Staat, der nur den Schutz der Freiheit gewährleistet, zumindest eine Denk-Alternative sein.

Die Popularität Trumps zeigt, dass genau dieses Argument der individuellen Freiheit genutzt werden kann, um die Freiheit anderer einzuschränken…

H.U.G.: Ja sicherlich. Laut Trump sind die Freiheiten im Obama-Staat zu stark eingeschränkt. Damit hat er einen erschreckenden Erfolg. Dabei muss aber auch gesagt sein, dass die latente Staatsfeindlichkeit in Amerika eine lange Tradition hat. Im Gegensatz zu Europa, wo man sich auf das Wachsen des Staats verlässt, mögen die Leute in Amerika den persönlichen Wettbewerb, „they like to win“.

Sie verweisen darauf, dass technologischer Fortschritt für den Einzelnen neue Freiheiten und grenzenlose Optionen schafft. Erich Fromm bezieht sich in seiner Arbeit auf die „Furcht der Freiheit“ und warnt davor, dass sich aus dieser ein Verlangen nach einer (zu) starken politischen Hand entwickeln könnte. Stimmen Sie dem zu?

H.U.G.: Kant meinte schon während der Aufklärung im 18. Jahrhundert, dass Freiheit Angst mache und die Aufklärung der Mut zu dieser Freiheit sei. Die Freiheiten, die als Resultat technologischen Fortschritts entstehen, sind allerdings nicht erkämpft worden. Elektronische Freiheitsgewinne sind solche, die uns zugefallen sind und die man vielleicht gar nicht gewollt hätte.

Trotzdem: Wie könnte man nicht mit Fromm einverstanden sein? In jedem Fall ist es besser, wenn die Bevölkerung neue Freiheitschancen als einen Zuwachs an persönlicher Autonomie und Entscheidungsfreiheit versteht. Die Komplexität der Freiheit überfordert aber viele Menschen. Stilisierte Führerfiguren wie Trump oder Mutterfiguren wie Marine Le Pen üben einen bestimmten Magnetismus aus, weil sie ein vereinfachtes Weltbild schaffen, sie teilen die Welt in schwarz und weiß. Andererseits gibt es das Bedürfnis, Teil eines „mystischen Körpers“ zu sein. Solange es keinen Führer gibt, der dieses Bedürfnis zynisch nutzt, ist der mystische Körper, also das Bedürfnis Teil einer Masse zu sein, wie beim Public Viewing oder im Fußballstadion, und nicht ständig entscheiden zu müssen, auch nicht unbedingt gefährlich. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit als prinzipiell gefährlich abzutun, scheint mir nicht demokratisch zu sein.

Sie befürworten ein, um es mit den Worten Charles de Gaulles auszudrücken, „Europe des patries“. Wie sieht dieses Europa für Sie aus?

H.U.G.: In einem Europa der „Heimaten“ kommen die Länder sich wechselseitig näher. Demnach ist jeder in Europa von mehreren „Patries“ beeinflusst und hält diese in einer individuellen, manchmal spannungsvollen Konfiguration. Zur Zeit der anfänglichen Reflexionen über eine europäische Gemeinschaft fand ich diese Idee der „Europe des patries“ äußerst altmodisch. Insbesondere weil ich als Deutscher dachte, das „Vaterland“ solle es nicht mehr geben. Angesichts der Komplexität der EU heute, denke ich mittlerweile, dass es eine Überforderung ist, ein einheitliches Europa und eine einzige europäische Gesellschaft schaffen zu wollen. Ich frage mich auch, ob das wirklich wünschenswert ist. Es gibt einen sehr starken Druck, kulturelle Differenzierungen zu nivellieren, aber genau das ist meiner Meinung nach eine Schwäche. Parteien wie Front National oder AfD hätten sicherlich weniger Zulauf, wenn europäische Politik eine Politik der Nationen wäre, anstatt auf eine abstrakte Konstruktion zuzusteuern.

Bestehen in der „Europe des patries“ die Staatsgrenzen von heute?

H.U.G.: Es könnte natürlich auch ein Europa der Regionen sein. Nehmen wir z.B. den Freistaat Bayern: Er könnte mittels eines Plebisziten aus der Bundesrepublik austreten und sich etwa mit Österreich zusammenschließen. Es gibt ein solches Bedürfnis nach einer Landschaft, einer Region, in der man sich zu Hause fühlt. Dieses Bedürfnis ist nicht unbedingt an die existierenden Staatsgrenzen gebunden.

Sie erklären anhand Ihrer These über die „Zeitlichkeit“, dass die Optionen für die Zukunft (und Europa) sich heute immer weiter beschränken und die Bedrohungen zunehmen. War das Zeitfenster vor einigen Jahrzehnten tatsächlich größer und gab es weniger Bedrohungen?

H.U.G.: Die Natur der Bedrohungen hat sich auf jeden Fall geändert und wir haben den Eindruck, dass die Gefahren, die auf uns zukommen, sich verstärkt haben. Darauf will ich aber eigentlich nicht hinaus, ich möchte zeigen, dass das Vertrauen in die Gestaltbarkeit der Zukunft und vor allem in das Projekt Europa geschrumpft ist. Die Energie, die noch vor 20 Jahren hinter diesem Projekt stand, ist schwächer geworden. Ich glaube, dass die Europäer das Projekt zwar noch wollen, aber gleichzeitig gibt es das Gefühl, dass es nicht mehr weitergeht oder eben so nicht funktionieren kann, wie man es sich früher vorstellte.

Gibt es Ihrer Meinung nach einen Wendepunkt, der dieses Vertrauen abgeschafft hat?

H.U.G.: Ein konkretes Ereignis oder einen bestimmten Zeitpunkt kann ich nicht ausmachen, aber momentan erinnert mich die Stimmung in Eu-
ropa an die Zeitspanne vor der deutschen Wiedervereinigung. Ende der 1980er, als ich von Deutschland in die Staaten gezogen bin, war die Hoffnung auf die Wiedervereinigung geschwunden. Der Fall der Mauer war dann eigentlich eher das Resultat einer Kettenreaktion. Die Deutschen waren sehr erstaunt, als es am Ende zur Wiedervereinigung kam. In den 1960ern hingegen hätte man sie eher als die Erfüllung eines Projektes erlebt.

Vielleicht wird eine solche Kettenreaktion ja auch für Erstaunen in der EU sorgen… Wir danken für das Gespräch! u

Das Interview wurde am 13.4.2016 anschließend an den vom Institut Pierre Werner organisierten Vortrag „Welchen Nationalismus braucht die EU?“ geführt. (KN)

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