Vielfalt in der Schule

Das Dossier auf den folgenden Seiten nimmt keinen Bezug auf die aktuelle, angespannte Situation an den luxemburgischen Schulen. Das ist erklärungsbedürftig. Wenn man den Medienberichten, Interviews und Stellungnahmen der Schulpartner in den letzten Wochen glauben möchte, herrscht nämlich Krieg. Diese Rentrée lässt alle Konflikte noch einmal aufbrechen, die in den letzten 10 Jahren ausgetragen wurden und die jetzt in einem gefühlten „Chaos“ kulminieren.

Für den Außenstehenden gibt es keine Chance mehr zu verstehen, was passiert und wo wir stehen. Zu viele Baustellen, zu viele unvereinbare Positionen, zu wenig Recherchen und Analysen in den Medien. Wer in den letzten Monaten und Jahren die Artikel von Ines Kurschat im Letzebuerger Land nicht gelesen hat, hat auch nicht den Hauch einer Chance die Situation zu überblicken. Man mag mit den Schlussfolgerungen der Land-Journalistin nicht immer in allen Nuancen einverstanden sein, aber sie leistet (mit gelegentlichen Analysen in der Woxx) ziemlich alleine die Arbeit, für die u.a. RTL einen goldenen Konzessionsvertrag von Herrn Bettel erhalten hat.

Aber nicht nur Außenstehende haben den Überblick verloren. Man muss befürchten, dass sich auch das Lehrpersonal in den Schulen nur noch über Facebook informiert und die Ankündigungen, Anschuldigungen, Drohungen und Richtigstellungen der einen und der anderen Seite als „Schlag“-Zeilen aufnimmt und in seine Welt- und Schulsicht einfließen lässt. Das verstärkt eine Entwicklung, die wir aus anderen Bereichen kennen: Die Lehrer fühlen sich weitgehend von der Gesellschaft missverstanden und ungeliebt, in vielen Fällen erleben sie die
Realitäten einer im völligen Umbruch befindlichen Gesellschaft als regelrechte Bedrohung (eine Bedrohung, die sowohl von den Schülern als auch von den Eltern und dem Ministerium ausgeht). Ihr Verhältnis zum Arbeitgeber wirkt dabei mitunter fast kindisch. Die Gewerkschaftsgeneration, die das Unheil mit angerichtet hat, geht jetzt langsam in den Ruhestand, zurück bleiben junge Lehrer, die ihren verhaltensauffälligen Schülern mitunter in nichts nachstehen (nicht im Hinblick auf die Arbeit in den Schulen, sondern bezogen auf das Verhalten gegenüber dem
Arbeitgeber, man erinnere sich etwa an die Demonstrationen und Versammlungen gegen die Reformpläne der ehemaligen Schulministerin Mady Delvaux).

Wo aber ansetzen? Die DP hatte aufmerksam mitverfolgt, wie Mady Delvaux mit ihren relativ zahmen Reformversuchen gescheitert war. In der Analyse war man sich mit ihr einig: Die Schule war zu einem Fremdkörper im mehrsprachigen, multikulturellen und heterogenen Luxemburg geworden. Das musste sich ändern, sollte das Experiment Luxemburg nicht in einem der Kernbereiche der sozialen Produktion scheitern. Als Claude Meisch sich mit seiner Mannschaft dieser Baustelle annahm, wollte man nicht die gleichen Fehler machen wie die unglückliche Vorgängerin und etwa den aufreibenden Weg großer Gesetzesreformen gehen. Stattdessen glaubte Claude Meisch die Gewerkschaften in Arbeitsgruppen und Verhandlungen mürbe reden zu können. In den beiden ersten Jahren der Legislatur wurde sondiert ohne Ende, doch jedes Mal wenn es konkret wurde, schlug die Stimmung um. Und mit der Zeit wurde es konkret… Eine Vielzahl von Angeboten, Schulprojekten, neuen Regelungen, Umstrukturierungen (viele von ihnen schon von der Vorgängerin eingeleitet) und am Ende auch einige große Gesetze zielten darauf, die eingespielten Abläufe in den Schulen durcheinander zubringen. Das System wurde dabei regelrecht von innen unterspült.

Insbesondere das zum Teil von der Vorgängerin schon aufgebaute Angebot an internationalen (aber öffentlichen) Schulen und internationalen Abschlüssen bringt Bewegung in die Schullandschaft. Statt diesen Teil des Bedarfs den Privatschulen zu überlassen, ist die öffentliche Schule dabei, sich auf eine Schülerpopulation einzustellen, bei denen diejenigen, die zu Hause Luxemburgisch sprechen, womöglich nur noch eine Minderheit darstellen. Die Schulen in Perl, Differdingen, Esch sowie die Abschlüsse, die vom Athenée über das Michel Lucius bis zum Lycée technique du Centre angeboten werden, richten sich ja an eine Schülerpopulation, die man bislang an die (vom Staat zum Teil hoch subventionierten) Privatschulen verwiesen hatte.

Es ist bemerkenswert, dass das Ministerium diesen Weg eingeschlagen ist. Luxemburg, als kleiner, hoch profitabler Standort in der globalen Wertschöpfungskette, hätte sehr gut den angelsächsischen Weg wählen und das lukrativste Segment des Bildungsmarktes privaten Anbietern überlassen können. Auf diese Weise hätte die öffentliche Schule weiter in ihrer kleinen, geschlossenen Welt leben können und die zurückgebliebenen Problemkinder, deren Eltern sich keinen Ausweg finanzieren können, als nicht-integrationsfähig ins Modulaire abschieben können.

Stattdessen ist die öffentliche Schule dabei, ihr Angebot massiv zu diversifizieren, sowohl was den Umgang mit den Sprachen, als auch was die Gewichtung bzw. das Angebot einzelner Fächer anbelangt. Eines der wichtigsten Instrumente auf diesem Weg ist die Schulautonomie, die den einzelnen Schulen bzw. Zusammenschlüssen von Schulen mittlerweile eine gewisse Freiheit bei der Formulierung ihres Schulprojektes gibt. Diese Freiheit bezieht sich konkret auf die Fächerzusammensetzung der Sektionen, die Unterrichtssprachen und die von der Schule insgesamt verfolgten Schwerpunkte.

Für die Gewerkschaft SEW und die Schülervertretung UNEL führt diese Stärkung der Schulautonomie zu einem Klima der Konkurrenz zwischen den Schulen; sie sehen die Gefahr, dass sich Eliteschulen bilden. Die nationale Schülerkonferenz CNEL befürchtet ihrerseits, dass sich Schulen künftig „um gute Schüler und Professoren streiten“. Was übersehen wird, ist, dass diese Situation schon immer bestanden hat, nur dass sie für ausländische Eltern nicht durchschaubar war. Nur Eltern mit ausreichendem sozialen Kapital wussten, in welche Schulen ihre Kinder gehen mussten, damit sie später eine Chance auf eine Karriere im Außenministerium hatten. Auch die Lehrer konnten schon immer auf der Grundlage der Ancienneté ihren Arbeitsort wählen, geleitet entweder vom Prestige des gewählten Etablissements oder vom Niveau der gewünschten Arbeitsbelastung.

Die Gewerkschaften sehen in all diesen Bestrebungen jedoch zuerst einmal einen Abschied von einem der Kernaufträge der öffentlichen Schule: Die Schule als Ort der (nationalen) Integration und Kohäsion, wo Schüler unterschiedlicher soziokultureller Herkunft den Umgang miteinander lernen und wo die Basis für den Zusammenhalt der Gesellschaft gelegt wird, sei in Gefahr. Dass sie gerade diese Aufgabe der Integration ausländischer Kinder in die luxemburgische Wohlstandsgesellschaft durch ihre mangelnde Flexibilität jetzt dreißig Jahre lang nicht erfüllt hat und zwei Generationen Einwanderungskinder als nicht ausreichend integrationsfähig geopfert wurden, verdrängen die Bedenkenträgern. Und hinter einem gepflegt linken Diskurs von gleichen Voraussetzungen, gleichen Chancen und gesellschaftlicher Kohäsion, verbirgt sich das rückwärtsgewandte Gedankengut der Bewegung Wee2050. Die Gewerkschaften erweisen sich hier als letzte (und vergebliche) Bastion derjenigen, die die Nation über die Schule und eine gemeinsame Spracherziehung retten wollen. Und ihre Mitglieder sind womöglich so ermattet, dass sie es noch nicht einmal mitbekommen.

Der ideologische Rahmen der Gegenseite materialisiert sich dagegen im Fach Vie et société. Hier wird die Heterogenität der Gesellschaft als Grundlage ihres Reichtums erklärt und der Rahmen formuliert, in der sich alle vernünftigerweise bewegen sollen. Das verbliebene Wahlvolk (bzw. 80% davon) wird mit einem zusätzlichen Conseil national de la langue luxembourgeoise und weiteren Luxemburgischkursen versucht ruhig zu stellen, doch wird das kaum jemanden darüber hinweg täuschen, dass der Abschied von der luxemburgisch-katholischen Leitkultur in dieser Legislaturperiode vollzogen wurde. Und wenn Luxemburg ein Teil der globalen Wertschöpfungskette bleiben möchte, wird sich daran auch unter einer CSV-Regierung nichts mehr ändern. Der Wertekanon einer pluralistischen, mehrsprachigen, liberalen und demokratischen Gesellschaft ist Konsens bei allen, die nicht zurück auf den Acker wollen.

Die Einführung des Faches Vie et société ist aber auch eine gute Illustration für den Lauf der Dinge: Mit großer Skepsis war die Einführung dieses Faches vor einem Jahr kommentiert worden. Die Übernahme eines Teils der Religionslehrer ist dann gescheitert, die anderen werden den Unterricht noch eine Weile mit der Faust in der Tasche halten – nicht weil das Fach unbrauchbar wäre (die Kirche wäre gerne bereit gewesen, gemeinsam mit den anderen Religionsgemeinschaften dieselben Inhalte zu vermitteln), sondern weil die betroffenen Lehrkräfte lange Zeit über ihr Schicksal im Unklaren waren und ihre zusätzliche Ausbildung teilweise als Zumutung erlebten. Noch vor fünf Jahren war der Vorschlag im CSV-Nationalkongress, den Religionsunterricht aus der Sekundarschule zu verbannen, eine absolute Sensation, die Verhandlungen mit der Kirche dann ein politisches Meisterstück, die Abschaffung des Religionsunterrichtes durch die neue Regierung ein vorgeblicher Angriff auf die Menschenrechte, die Implementierung des neuen Faches ein Kraftakt, das Management der sozialen „Kosten“ ein unschönes und unwürdiges Lavieren und schließlich, kaum zwei Jahre später, ist das alles vergessen. Der Sprung ist geschafft.

Die Reformen und Initiativen, die Claude Meisch in den letzten Jahren zum Teil überstürzt, zum Teil unausgegoren auf den Weg gebracht bzw. von seiner Vorgängerin übernommen hat, haben Lehrkräfte, Schüler, Ministeriumsbeamte und Eltern in vielen Fällen völlig überfordert, sie haben zu Unruhe und Unübersichtlichkeit geführt und sie haben viele angehende Lehrer und Chargés de cours demotiviert, – doch diese Reformen werden zu einem guten Teil Bestand haben und in den nächsten Jahren das System Schule zu einem neuen Gleichgewicht führen. Der/die nächste MinisterIn wird versprechen, „Ruhe“ ins System zu bringen, aber nicht dadurch, dass alles wieder rückgängig gemacht wird, sondern dadurch dass den Etablissements die Zeit gegeben wird, die Veränderungen zu verdauen und in die Abläufe zu integrieren. Dem derzeitgen Team, das das „Chaos“ verursacht hat, werden alle insgeheim dankbar sein, dass es die Kärrnerarbeit auf sich genommen hat.

 

(Der Artikel wurde am 26. Oktober aktualisiert. In der ursprünglichen Version war eine Passage enthalten, in der das Lycée technique de Bonnevoie auf ironische Art und Weise Erwähnung fand. Da die Passage missverständlich war und noch dazu die Gefahr bestand, dass ein negatives Bild vermittelt wurde, das nicht der Realität entsprach, wurde sie gestrichen.)

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