Virale Verschwörungstheorien

Von der Cholera zu Corona

Schnelle Reiseverbindungen in einer zunehmend vernetzten Welt begünstigten die Pandemie. Auch wenn es die breite luxemburgische Öffentlichkeit nicht wahrhaben wollte, rückte die Infektionskrankheit unaufhaltsam an das Großherzogtum heran. Quarantäne, Ausgrenzung und Desinfektion galten als wirksamste Gegenmaßnahmen.

So oder so ähnlich könnte in einigen Jahrzehnten in den Geschichtsbüchern die gegenwärtige Ausbreitung des COVID-19-Virus in Luxemburg beschrieben werden. Doch stammt obiger Text keineswegs aus der imaginierten Zukunft: Sinngemäß hat ihn der Luxemburger Biologe und Medizinhistoriker Jos. A. Massard 2004 in Bezug auf die Ausbreitung der zweiten großen Cholerapandemie von 1826-1841 formuliert.1 Nachdem 1832 der epochale Ausbruch der Cholera auch Luxemburg erreichte, erlagen der Krankheit allein in Luxemburg-Stadt schon bald 215 Einwohner sowie 57 Soldaten der preußischen Garnison. Seuchen sind also in Luxemburg nichts Neues.

Gleichzeitig sind Epidemien stets ein fruchtbarer Nährboden für Verschwörungstheorien. Zusätzlich lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte der Infektionskrankheiten.2 Eines von vielen Beispielen ist der bekannte Vorwurf, dass die Pestepidemien seit dem späten Mittelalter auf eine jüdische Verschwörung gegen das Christentum zurückzuführen seien. Juden hätten die Krankheit durch Brunnenvergiftung verursacht. Der Vorwurf tauchte erstmals 1321 in Frankreich auf. Besonders die Judenpogrome um die Mitte des 14. Jahrhunderts, also zur Zeit der Luxemburger auf dem römisch-deutschen Kaiserthron, sind zum Teil auf die Legende von den vergifteten Brunnen zurückzuführen.3 So wurde im Reich 1348/49 Juden unter Folter das Geständnis abgezwungen, die Pest mit der Vergiftung des Trinkwassers hervorgerufen zu haben. In Brunnen gefundene Stofffetzen wurden als Indizien für sogenannte „Giftsäckchen“ gewertet. Vermutlich fiel auch die in Luxemburg und Echternach ansässige jüdische Gemeinschaft eben diesen Pestpogromen zum Opfer.4

Zur bereits erwähnten Cholerazeit im 19. Jahrhundert verbreitete sich abermals die Annahme einer „Brunnenvergiftung“.5 Solche Erklärungsversuche mögen aus heutiger Sicht abwegig erscheinen. Doch unterstellte Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, noch 2016 in Straßburg einigen israelischen Rabbinern, sie hätten angekündigt, das Trinkwasser vergiften zu wollen.6 Die mittelalterlichen Stereotype haben also teilweise bis in die Gegenwart überlebt!
„Do ass awer schon eppes drun, un deem wat den Här Vogel hei schreiwt.“

Die Pest wurde im 14. Jahrhundert zweifellos als bedrohlich und unerklärlich wahrgenommen. Den Forschungsergebnissen von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt zum Trotz schüren heutzutage manche das gleiche Empfinden gegenüber dem Corona­virus. Die momentan noch unklaren Ursprünge dieses neuartigen Virus rufen vielfach Verschwörungs­theoretiker auf den Plan. Auch in den Luxemburger sozialen Netzwerken trifft man auf „Coronaskeptiker“: „Et géing mech net iwerraschen, wa mer an e puer Joeren déi ganz Wouerecht iwwer dëse Virus a séng Verbreedung géife gewuer ginn“, kommentiert ein RTL-Nutzer.

Corona liefert den perfekten Anlass für zum Teil sehr wirre Verschwörungstheorien: Das Virus sei angeblich im Wuhan Disease Control and Prevention Center gezüchtet worden. Andere behaupten, es sei bereits vor einigen Jahren von der Pharmaindustrie entwickelt worden, um anschließend Impfstoffe zu vermarkten. Zudem wird, ebenfalls in den sozialen Netzwerken, von verheimlichten Todesfällen berichtet. Demnach seien bereits über eine Million Chinesen am Coronavirus gestorben. Und überhaupt: Hat nicht doch Bill Gates seine Finger im Spiel? Auch Altbekanntes wird erwartungsgemäß aufgewärmt, und Antisemiten riechen verschwörerisches Handeln von US-amerikanischen Juden.

Verschwörungstheorien zum Coronavirus erhalten in Luxemburg jüngst prominente Unterstützung. So behauptet der bekannte Anwalt und regelmäßige Kommentator des Zeitgeschehens Gaston Vogel in gewohnt reißerischer Manier, das Virus wäre „avec une vraisemblance confinant à la certitude“ menschengemacht, genauer: eine biologische Waffe vom Feinsten.7

Gaston Vogel verdeutlichte seine Sicht der Dinge auf seiner privaten Internetseite. Dort legt er seinen Lesern nahe, das Virus stamme möglicherweise aus einem Hochsicherheitslabor der sogenannten Stufe BSL-4.8

Den Kommentaren ist zu entnehmen, dass sich viele RTL-Nutzer den kryptischen Andeutungen Gaston Vogels anschließen beziehungsweise die Gedanken weiterspinnen. Es wäre doch „wortwörtlich auf Google“ nachzulesen, dass die Vereinigten Staaten in den Jahren 1946 bis 1948 Syphilisexperimente in Guatemala durchgeführt hätten. Ein weiterer Nutzer zieht den Vietnamkrieg zur „Beweislage“ hinzu. Ein anderer Nutzer schreibt, Bill und Melinda Gates finanzierten die Coalition for Epidemic Preparedness Innovation und würden somit größten Nutzen aus der Pandemie ziehen. Bemerkenswert erscheint hier jedoch die Tatsache, dass viele Nutzer noch andere verschwörungstheoretische Erklärungsversuche heranziehen, sodass man nicht von einem innerhalb der „Szene“ allseits anerkannten Erklärungsansatz sprechen kann.

Auch in den sozialen Netzwerken wird wild spekuliert. Auf den Facebook-Hubpages „Lëtzebuerg wat mir an eiser Haerzer droen“ und „Lëtzebuerger Patrioten“ bekommen jeweils mehr als 500 Follower tagtäglich neue Videos von Verschwörungsdenkern zum Coronavirus unterbreitet. Dan S., ein bekanntes Gesicht aus der rechten Szene,9 betreibt seit Jahren derartige Gruppen. Das Durchstöbern dieser Hubpages legt den Verdacht nahe, dass hierzulande mehrheitlich deutschsprachige Videos von sogenannten „Erleuchteten“ herangezogen werden, um sich über das vermeintlich wahre Geschehen zu informieren. Auch hier ist ein spezifisch „Luxemburger“ Argumentationsweg nicht feststellbar.

Die Vielfalt der geteilten Theorien über die Ursprünge des Coronavirus ist bemerkenswert. Inhaltliche Differenzen oder sogar Widersprüche sind offenbar nebensächlich. Die von der sozialpsychologischen Forschung betonte Komplexitätsreduktion seitens der Verschwörungstheoretiker vermag daher nur zum Teil das Potenzial und die Verbreitung ihrer Gedanken zu erklären.10 Es bedarf qualitativer soziologischer Untersuchungen dieses Phänomens. Die vorangegangenen Schilderungen legen den Schluss nahe, dass sich bei den Luxemburger Verschwörungsdenkern sehr wohl eine kollektive Identität bildet, diese jedoch nicht den Glauben an eine gemeinsame Theorie teilen. Vielmehr liefert die Opposition zum als hegemonial empfundenen „Mainstream-Wissen“ den nötigen Konsens.11 Was sie eint, ist die Ablehnung der Orthodoxie – und nicht das gemeinsame Verschwörungswissen.

In Luxemburg üben, anders als im Ausland, Verschwörungstheorien bislang keinen nennenswerten Einfluss auf die Politik aus. Doch tragen existenzielle Krisen wie die derzeitige Corona-Pandemie zur Verunsicherung in der Gesellschaft bei. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass auf institutioneller Ebene bereits auf von staatlicher Stelle verbreitete Verschwörungstheorien reagiert wird: Die Arbeitsgruppe EU vs. Disinformation des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) widmet sich aufmerksam den insbesondere vonseiten Russlands in die Netzwerke eingespeisten Falschinformationen zur Corona-Pandemie.12 Viel von dieser Desinformation findet sicher auch den Weg in die Köpfe der oben vorgestellten Luxemburger „Corona-Skeptiker“. Davon abgesehen ist auch in Luxemburg ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der Politik und dem sogenannten „Establishment“ spürbar. So meint auch Gaston Vogel, der eine hohe Medienpräsenz genießt: „Nous vivons dans un monde de menteurs“.13

Die in diesen Tagen sprießenden „alternativen“ Erklärungen zum Coronavirus sind nur ein Beispiel für die im Internetzeitalter ubiquitär gewordenen Verschwörungstheorien. Es gilt, Ursprünge, Argumentation und Rezeption dieser Theorien zu erforschen und darüber aufzuklären, damit sie sich nicht, über die Ränder des politischen Systems, als wirkmächtige Gefährder unserer demokratischen Gesellschaften verfestigen.

Diese Fassung wurde um einige Endnoten im Vergleich zur Druckfassung ergänzt. (2. April 2020)

  1. Jos A. Massard, „Mit größter Heftigkeit. Cholera-Epidemien und öffentliche Hygiene im 19. Jahrhundert am Beispiel Luxemburg“, in: Musée d’histoire de la ville de Luxembourg, „Sei sauber…!“ Eine Geschichte der Hygiene und öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Europa, Luxemburg, 2004, S. 192-203.
  2. Karl-Heinz Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Landsberg/Lech, ecomed, 1997.
  3. Alfred Haverkamp, „Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte“, in: Ders. (Hg.), Zur Geschichte der Juden in Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart, Hiersemann, 1981, S. 27-93.
  4. Jean-Marie Yante, „Les juifs dans le Luxembourg au moyen âge“, in: Bulletin trimestriel de l’Institut archéologique du Luxembourg 62 (1986), S. 3-33.
  5. Olaf Briese, Angst in den Zeiten der Cholera. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums, Bd. 1, Berlin, Akademie Verlag, 2003, S. 209–212.
  6. https://www.nytimes.com/2016/06/24/world/middleeast/mahmoud-abbas-claims-rabbis-urged-israel-to-poison-palestinians-water.html?_r=2 (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 25. März 2020 aufgerufen).
  7. https://www.rtl.lu/meenung/lieserbreiwer/a/1466031.html.
  8. http://www.vogel.lu/coronavirus-et-ses-origines/, vgl. hierzu auch https://www.washingtonpost.com/world/2020/01/29/experts-debunk-fringe-theory-linking-chinas-coronavirus-weapons-research/.
  9. Maxime Weber, „Die rechte Szene Luxemburgs und Verschwörungstheorien“, in: forum 353, Juli 2015, S. 41-44.
  10.  Vgl. Karen M. Douglas/Robbie M. Sutton/Aleksandra Cichocka, „The psychology of conspiracy theories“, in: Current Directions in Psychological Science 26 (2017), S. 538-542.
  11. Vgl. hierzu Florian Buchmayr, „Im Feld der Verschwörungstheorien – Interaktionsregeln und kollektive Identitäten einer verschwörungstheoretischen Bewegung“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44 (2019), S. 369-386.
  12. https://euvsdisinfo.eu/eeas-special-report-disinformation-on-the-coronavirus-short-assessment-of-the-information-environment/
  13. http://www.vogel.lu/coronavirus-et-ses-origines/

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