Erinnern Sie sich?
Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald,
es war so dunkel und auch so bitter kalt.
Sie kamen an ein Häuschen…
Diese und alle anderen Geschichten erzählen von Gefahr, Hoffnung und Rettung.
Nehmen Sie die Geschichte von Noah. Die Flut steigt. Die Menschen sehen die Warnungen nicht. Ein einziger erfasst die Situation und handelt richtig, nicht nur für sich alleine sondern für alles, was um ihn herum lebt. Er rettet aus der alten Welt sich selber und seine Familie in die neue Welt.
Die Gefahren, von denen in den Geschichten des hebräischen und des klassischen Altertums erzählt wird, sind selbstverschuldete Gefahren (und jede klassische Katastrophen- oder Horrorerzählung greift das Thema der Hybris unweigerlich auf). Der Mensch ist der Urheber seines eigenen Verderbens.
Für das Thema des selbstverschuldeten Unglücks bietet die Bibel natürlich schon im Buch Genesis die erste und stärkste Vorlage: Die Vertreibung aus dem Paradies. Glück und Sicherheit müssen seitdem erarbeitet werden „im Schweiße seines Angesichts“.
Auch eine der ersten geschriebenen Heldensagen, Homers Illiade, ist eine Geschichte vom selbstverschuldeten Untergang. Hochmut, Dummheit, Habgier, Eitelkeit raffen die Edelsten Griechenlands hinweg. Das Geschehnis vor den Toren Trojas ist die Geschichte einer Katastrophe. Das Ende – die Überlistung der Trojaner, der Sieg und die Zerstörung der konkurrierenden Stadt – hat nichts Süßes, eine ganze Generation ist hinweggerafft.
Was aber seit mehr als 2000 Jahren jedes Kind fasziniert, ist der zweite Teil der Geschichte: die Erzählung von der Heimkehr des Helden. Odysseus und seine Gefährten müssen die unwahrscheinlichsten Abenteuer bestehen, und nicht Kraft sondern Kreativität, nicht Macht sondern Intelligenz führen Odysseus durch die Gefahren.
Geschichten und Märchen sind Variationen über das gleiche Thema: Rettung aus der Gefahr und Wechsel in eine neue Welt.
Folgende Bestandteile finden sich in jeder guten Geschichte: der Held, die Gefahr, der Weg mit seinen Prüfungen, der Freund und Helfer, die Rettung, der Lohn.
Beginnen wir mit dem letzten Punkt: Wir wissen, was der Lohn ist (eine Prinzessin, manchmal auch ein Prinz) – es ist der verdiente Platz in der Gemeinschaft oder wie wir heute sagen in der Gesellschaft. Das wichtige Wort hier ist „verdient“, denn es geht beim Erwachsenwerden, um die Übernahme von Verantwortung. Der Lohn ist einfach Verantwortung. Es geht um Reife, im Märchen geht es natürlich sehr häufig um sexuelle Reife.
Die Rettung: Der Moment der Rettung ist das Ergebnis von Mut, Intelligenz, Kreativität und Vertrauen. Es ist der Moment des radikal Neuen.
Dann der Freund: Der Held ist nie allein, ohne die Hilfe eines treuen Helfers hätte er weder den Mut noch die Kraft.
Der Weg. Er ist lang und selten gibt es nur eine Prüfung. Wir erleben eine Abfolge, Rückschläge, Zweifel (in Märchen sind es meistens drei Prüfungen). Der Weg ist beschwerlich und der Sieg nicht sicher.
Die Gefahr, sie ist ungeheuerlich. Die Gefahr übersteigt den Held. Die Menschheitsgeschichte ist geprägt von Gefahren, Ängsten, die traumatisierend sind. Die den normalen Sterblichen überfordern.
Aber es gibt ja den Held. Das sind Sie – das Kind, das zuhört. Der Held siegt durch viele gute Eigenschaft und durch eine herausragende: Vertrauen (nicht nur in sich!).
Krabat von Otfried Preussler ist die idealtypische Geschichte. Sie lesen Sie an einem Abend und werden danach alles unternehmen, damit Ihre Kinder sie auch lesen.
Meine persönliche Lieblingsgeschichte ist noch eine andere: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen… (Gebr. Grimm). Auch die lohnt es sich, noch einmal zu lesen. Sie zeugt von einer enormen Verachtung der Gefahr, nicht einer Unkenntnis, aber einer gewissen Naivität, die dem Held erlaubt zu siegen, dadurch dass er die Prüfungen nach herkömmlichen Kriterien falsch versteht, sie eigentlich unterläuft.
Mythen, Märchen, Geschichten zeigen, dass die Menschen immer großen Prüfungen gegenüberstanden: Kriege, Hungersnöte, Pest, Überschwemmungen, schlechte und grausame Herrscher. Was die Geschichten auch lehren, ist, dass diese Nöte überwunden werden durch Vertrauen, Mut zum Neuen und Solidarität.
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