Vom Zeugs zum Zeugen

Überlegungen zu Kulturerbe, Identitäten und historischem Bewusstsein am Beispiel des Schiefermuseums Obermartelingen

Ende und Anfang

Die Schließung der Schiefergrube in Obermartelingen am 4. Oktober 1986 beendete die zweihundertjährige Geschichte der Schieferindustrie im Norden Luxemburgs. Etwa sechs Jahre später wurde der gemeinnützige Verein „D’Frënn vun der Lee“ gegründet. Zweck der Vereinigung war es, „Forschung, Sammlung und Einsatz zur Erhaltung der Schieferdenkmäler aufzubauen“.1 Die Gründung des Vereins war eine wichtige Etappe in der Umwandlung der Schieferindustrie von der wirtschaftlichen Aktivität einer der zeitweise wichtigsten Luxemburger Industriezweige zum Natur- und Kulturgut und im Aufbau eines diesbezüglichen Museums.

Zu Beginn eines Jahres, in dem das europäische Parlament dazu aufgerufen hat, „das Kulturerbe wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit [zu] rücken [und ihm] die Wertschätzung [zukommen zu lassen], die es verdient“, damit es die Identität der Europäer stärkt,2 lohnt es sich, nach allgemeineren Erkenntnissen zu fragen, die aus der Entstehungsgeschichte des Schiefermuseums Obermartelingen abgeleitet werden können. Welche Faktoren fördern den Vorgang, aus „Zeugs“ „Zeugen“ zu machen3 ? Wie läuft der komplexe Prozess der gesellschaftlichen und politischen Aneignung des Natur- und Kulturguts und die damit verbundene Bereitschaft, Verantwortung dafür zu übernehmen, ab?

Trägerkonstellation und Vernetzung

Zum ersten Vorstand der „Frënn vun der Lee“ gehörten ein Schreiner, ein Landwirt, ein Journalist, zwei Angestellte, zwei ehemalige Schieferarbeiter sowie eine Grundschullehrerin und ein Sekundarschullehrer für Geschichte. Das Verhältnis zwischenden Gründungsmitgliedern des Vereins, die aus der Gegend stammten, und Neuzugezogenen hielt sich in etwa die Waage. Die Alteingesessenen konnten sich unmittelbar über den früheren Beruf oder mittelbar über Erzählungen von Familienmitgliedern mit dem Gewerbe identifizieren. Über sie konnte der junge Verein Dinge und Wissen aus der im Verschwinden begriffenen Lebenswelt und Lebensweise sammeln. Die Zuzügler im Vorstand handelten wahrscheinlich aus einer Mischung von Geschichtsbegeisterung und Interesse an der neuen Heimat, vielleicht auch mit dem Ziel verbunden, über diesen Weg in die Gemeinschaft der Ansässigen aufgenommen zu werden.

Als erster Präsident der „Frënn vun der Lee“ fungierte der gebürtige Stadt-Luxemburger Raymond Linden (1946-2010), der damals hauptberuflich Geschichtslehrer im Lycée Michel Rodange war. Linden hatte Erfahrungen auf dem Gebiet der „vereinsgetragenen“ Hinwendung zur Geschichte. Seit 1979 leitete er den Verein „Jeunes et Patrimoine“, der seine jungen Mitglieder in Anlehnung an das erfolgreiche Modell „Jeunes et Environnement“ mit Konferenzen, Praktika, Seminaren und Ausflügen in einer ihrem Alter angepassten Form für die Geschichte Luxemburgs begeistern und an die Methoden der historischen Forschung heranführen wollte.4 Bereits 1982, also vor der Schließung des letzten Standorts, hatte Linden mit dem Denkmalschutzverein ein Seminar über die Schiefergruben organisiert. Zehn Jahre später unterstützten ihn die jugendlichen Denkmalschützer bei zwei Tagen der offenen Tür. 1996 organisierte er ein erstes Ausgrabungslager zur Industriearchäologie in Zusammenarbeit mit dem „Service national de la jeunesse“. Linden hatte verstanden, dass er eine Lobby und landesweite Unterstützung brauchte, wenn er sein Projekt verwirklichen wollte. Als 1988 die Idee eines Naturparks Obersauer Form annahm, vernetzten sich die „Frënn vun der Lee“ mit der Stiftung Oeko-Fonds und dem Mouvement écologique, um Teil dieses großen Regionalentwicklungprojekts zu werden. 1993 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass den Rahmen für Naturparks setzte und Raum für Lindens Ideen schaffte.5 Der Gemeindeverband SYCOPAN, dem auch die Gemeinde Rambrouch angehörte, auf deren Territorium sich die Schieferanlagen befanden, leitete im gleichen Jahr die gesetzliche Prozedur zur Schaffung des Naturparks Obersauer ein.6 1999 wurde der Naturpark durch ein großherzogliches Reglement Wirklichkeit. Der Artikel 13 bestimmte, das Gemeindesyndikat habe „les initiatives privées qui constituent un apport au projet de parc naturel“, einzubeziehen.7 Zu diesen privaten Initiativen gehörte auch das Projekt Schiefermuseum, für dessen Unterstützung Linden aktiv in den zuständigen Ministerien warb. Insbesondere Erna Hennicot-Schoepges, Ministerin für Kultur, Hochschule und Forschung sowie Ministerin für öffentliche Bauten von 1999-2004, unterstützte sein Vorhaben.

Die Form

Als Linden und seine Freunde zu Beginn der 1980er Jahren mit ihren Bemühungen um die Inwertsetzung der industriellen Hinterlassenschaft anfingen, waren die Gebäude in Obermartelingen noch in privater Hand. Nach der Schließung des Standortes stellte sich die Frage der Umnutzung des Geländes. Linden war es bewusst, dass ein symbolischer Ort wichtig für die Zurschaustellung des Kulturguts war, wenn er bei einer breiten Öffentlichkeit ein Bewusstsein für seine Pflege wecken wollte. Ein gutes Beispiel dafür war das einige Jahre zuvor auf private Initiative in Konz (D) entstandene Freilichtmuseum Roscheider Hof. Was der Roscheider Hof für den Erhalt der ländlichen Bausubstanz im Rheinland und in Rheinland-Pfalz und für die Erinnerung an die damit verbundene Lebensweise leistete, konnte ein Freilichtmuseum in den noch intakten Gebäuden für die dortige Schieferindustrie ausrichten.

Linden hatte gute Kontakte zum Mouvement écolologique und zum Oeko-Fonds. Die vom Oeko-Fonds Ende der 1980er Jahre erstellte Vorstudie zur Schaffung eines Naturparks sah in ihrem Globalplan „Schutz, Pflege und Gestaltung der Landschaft, insbesonders ihrer natürlichen Ressourcen und Kulturdenkmäler“, vor.8 Damit knüpfte sie an das Konzept der in Frankreich seit Anfang der 1960er geförderten und durch ein Dekret De Gaulles aus dem Jahr 1967 institutionalisierten „parcs naturels régionaux“ an. Parallel dazu hatte der „Erfinder“ der Neuen Museologie Hugues de Varine-Bohan das von Georges Henri Rivière in den 1930er und 1940er Jahren entwickelte Konzept der „Ecomusées“ ausgebaut. Das ideale Ökomuseum stellte die Beziehung des Menschen zur (natürlichen wie industriellen) Umwelt in den Mittelpunkt. Es bezog sich auf ein überschaubares Territorium und arbeitete interdisziplinär. Programmatisch zentral für das Ökomuseum ist die Idee, dass die Bevölkerung des Territoriums über den Einbezug in die Museumsprogrammierung und -aktivitäten zum eigentlichen Träger des Museums wird. Prototyp der neuen Museumsform war das Anfang der 1970er Jahre entstandene „Musée de l’Homme et de l’Industrie“ in Le Creusot, an dem de Varines selbst mitgearbeitet hatte. Mit dieser Museumsform, die sich einfach in das Konzept eines Naturparks integrieren ließ, konnten sich die „Frënn vun der Lee“ identifizieren.

Akzeptanz und Widerstände

In seinem forum-Beitrag über das Schiefermuseum schreibt Raymond Linden, dass die Erinnerung an die Schiefergruben zu Beginn seiner Bemühungen „noch vielfach wach“ waren. „In den bei den Jubilarfeiern veröffentlichten Büchlein fehlt[e] der Gedanke an die Schiefergruben und den „Leekëppert“ nicht.“ Ernüchtert hält er aber auch fest: „Doch konkret setzte sich kaum jemand für den Erhalt von Dokumenten, Geräten und Architektur ein.“9 Dieser schwierigen Aufgabe stellten sich die „Frënn vun der Lee“ und arbeiteten ein Konzept für ein Freilichtmuseum aus. Nachdem der Staat positive Signale zu seiner Finanzierung gesendet hatte, kaufte der Gemeinderat von Rambrouch Anfang 1993 mit staatlicher Unterstützung das Wohnhaus und den Park, das Verwaltungsgebäude, die Spalthäuser, Magazine und Reparaturwerkstätten auf einer Fläche von acht Hektar sowie das Firmenarchiv. Der Plan der „Frënn vun der Lee“ schien aufzugehen. Die écomusée-Stratégie des „forschenden Lernen unter Beteiligung von interessierten Bevölkerungsgruppen“10 setzten die „Frënn vun der Lee“ schon früh mit Sammelappellen an die früheren Schieferarbeiter und den Aufbau einer „Oral history“-Gruppe um. Als die Gemeindeführung nach den Wahlen von 1993 zunehmend auf Distanz zum Projekt ging, zahlten sich die vielschichtigen Bemühungen der „Frënn vun der Lee“ um die Schaffung eines Bewusstseins für die
historische Bedeutung der Schieferindustrie auf lokaler und nationaler Ebene sowie ihre kluge Vernetzungspolitik aus. Das Bestreben der Gemeindeverwaltung Rambrouch, die Schiefergruben zu verkaufen und das Gelände als Industriegebiet zu nutzen, scheiterte am Widerstand der anderen Mitglieder des Gemeindeverbands SYCOPAN. Das hatte zur Folge, dass die Gemeinde Rambrouch den Verband 1996 verließ. Mit privaten Spenden konnte der Verein seine Museumsarbeit fortführen. 1996 erhielt das Projekt den Henry Ford European Conservation Award. Als die Gemeinde das Museum 1999 schließen ließ, setzte das Kulturministerium das Anwesen kurzerhand auf die Zusatzliste des Denkmalschutzes und bewahrte es damit vor dem Verschwinden. „Vertreter aus Politik und Wissenschaft“11 konnten in der Folge den Staat davon überzeugen, der Gemeinde die Schiefergruben abzukaufen, was 2003 auch geschah.

25 Jahre nach der Gründung des Unterstützungsvereins geht es dem Museum gut. Zwischen Ostern und November 2016 zählte es 3.325 Besucher, davon 901 Kinder, die im Rahmen von Ferienaktivitäten und Schulausflügen einen ganzen Tag im Museum verbrachten.12 Der Vorstand ist jetzt dabei, zusammen mit staatlichen Instanzen ein neues Museumskonzept auszuarbeiten, mit dem das Haus auf die Zukunft vorbereitet werden soll.

Und die Moral von der Geschicht?

Trotz einiger Rückschläge liest sich die Entwicklung des Schiefermuseums wie eine Erfolgsgeschichte mit Modellcharakter für zukünftige Kulturerbe-Projekte. Über eine gezielte Einbindung der regionalen Einwohnerschaft in die Aktivitäten und die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen landesweit haben die „Frënn vun der Lee“ auf breiter Basis ein Bewusstsein für die historische Bedeutung „ihrer“ Schieferindustrie geschaffen. Es ist ihnen gelungen, aus dem „Zeugs“, das ein verschwundener Wirtschaftszweig hinterlassen hat, anerkannte „Zeugen“ eines Kulturerbes zu machen. Damit verdeutlicht die Initiative Obermartelingen die Bedeutung des Geschichtsbewusstseins als Grundlage für die gesellschaftliche Bereitschaft, ein Kulturgut zu akzeptieren, mit dem sich a priori nicht alle Mitglieder unmittelbar identifizieren können. Sie zeigt aber auch, dass dieser Prozess seine Zeit braucht: Im Obermartelinger Fall waren es 25 Jahre oder eine Generation.

Durch die Entscheidung für ein zeitgemäßes Museumskonzept, das neben den Geschichtsbegeisterten auch organisierte Naturaktivisten ansprach, gelang es dem Verein, sich mit einer verbreiterten Basis auf staatlicher Seite Gehör zu verschaffen. Damit belegt das Beispiel die Bedeutung von strategischen Allianzen, aber auch die Notwendigkeit eines gesetzlichen Rahmens. Die „Frënn vun der Lee“ haben sich durchgesetzt, weil sie ein Recht auf die Wahrung ihrer Geschichte und Kulturerbes hatten und dieses mit Bedacht und Klugheit durchsetzen konnten.

Und nicht zuletzt: Die Arbeit des Vereins geschah und geschieht noch immer in außeruniversitären Kreisen. Insofern ist die Geschichte des Schiefermuseums auch ein Plädoyer für einen landesgeschichtlichen Lehrstuhl an der Universität Luxemburg, der sich aktiv um die wissenschaftliche und gesellschaftliche Anerkennung von Heimatforschung bemüht. Die „Symbiose von professioneller Forschung und freier lokaler Regionalforschung“13, die ihren Ausdruck auf verschiedenen Plattformen finden kann, trägt wesentlich zum Fundament eines historischen Bewusstseins bei, das es dem Einzelnen ermöglicht, andere Identitäten und Lebenskonzepte neben den eigenen gelten zu lassen.

1. Linden, R., „Die Schieferindustrie Luxemburgs im Kanton Redingen. Auf dem Weg zum Freilichtmuseum „Schiefer““, in: forum 225 (2003), S. 31-34, hier S. 33.
2. Europäisches Parlament. (2017, April 21). 2018: „Europäisches Jahr des Kulturerebes. Aktuelles Europäisches Parlament, url: http://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/eu-affairs/20170407STO70800/2018-europaisches-jahr-des-kulturerbes [12.12.2017].
3. Korff, G., „Die Wonnen der Gewöhnung. Anmerkungen zu Positionen und Perspektiven der musealen Alltagsdokumentation (1993)“, in: M. Erberspächer, G. König, & B. Tschofen (Eds.), Museumsdinge deponieren – exponieren, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 155-166, hier S. 161.
4. Pauly, M., „jeunes et patrimoine“, in : forum 36 (1979), S. 26.
5. Art. 1 : „La création, la planification et la gestion d’un parc naturel doivent à la fois garantir la conservation, la restauration et la mise en valeur du patrimoine naturel et culturel et assurer aux habitants du parc les possibilités d’un développement économique et socio-culturel durable et respectueux de ce même patrimoine“, in: Loi du 10 août 1993 relative aux parcs naturels, url: http://legilux.public.lu/eli/etat/leg/loi/1993/08/10/n1/jo [12.12.2017].
6. Naturpark Öewersauer. „Geschichte und Organisation“, in: naturpark-sure.lu: http://www.naturpark-sure.lu/index.php?id=32;lang=de [11.12.2017].
7. Règlement grand-ducal du 6 avril 1999 portant déclaration du Parc Naturel de la Haute-Sûre, url: http://legilux.public.lu/eli/etat/leg/rgd/1999/04/06/n7/jo [12.12.2017].
8. Oeko-Fonds (1989). „Den Naturpark Uewersauer – eng Chance fir d’Regioun“, S. 19.
9.Linden, S. 32.
10. Korff, G., Die „Ecomusées“ in Frankreich – eine neue Art, die Alltagsgeschichte einzuholen (1982), (Anm. 3), S. 75-84, hier S. 79.
11. Linden, S. 34.
12. Michels, D. (2017, März 22). „Eine Gattersäge zum Gesburtstag. „Frënn vun der Lee“ hielten ihre diesjährige Generalversammlung ab“, url: https://www.wort.lu/de/mywort/haut-martelange/news/eine-gattersaege-zum-geburtstag-58fe17bba5e74263e13afb82 [11.12.2017].
13. Irsigler, F. (1989). „Zum Stellenwert von Heimatgeschichte heute, in: Hochwälder Geschichtsblätter, 2, S. 5-7, hier S. 5.

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