- Politik
Von der Glaubensgemeinschaft zur Machtmaschine
Wie die Europäische Volkspartei immer größer und mächtiger wurde und warum sie heute vor Kraft kaum noch laufen kann (Teil 2)
Teil 2: Der große Umbau1
Im folgenden zweiten Teil des (mittlerweile auf drei Teile erweiterten) Beitrags über den Wandel der Europäischen Volkspartei (EVP) von 1976 bis in die Gegenwart wird dargelegt, wie die „konservative Frage“, die bis Anfang der neunziger Jahre einen Riss durch das Parteienbündnis zog und für viele hitzige Kontroversen sorgte, sich langsam aber sicher von der Tagesordnung verabschiedete. Ein historischer Wendepunkt im Streit zwischen den Bewahrern einer „reinen“ christlich-demokratischen und christlich-sozialen Lehre einerseits und den Machtpragmatikern andererseits, die ein breites Mitte-rechts-Kartell des „bürgerlichen Lagers“ anstrebten, war der Beitritt des Partido Popular aus Spanien und die Implosion der italienischen Democrazia Cristiana. Von da an setzte der große Umbau ein. Plötzlich saßen die britischen Tories mit im Boot, derweil immer neue Gesichter unter den EVP-Granden eine tiefgreifende ideologische Metamorphose verkörperten: José María Aznar, Valéry Giscard d’Estaing, Silvio Berlusconi, José Manuel Barroso, Nicolas Sarkozy…
Die Erblast des Franquismus
Spanien und Portugal stellen einen Sonderfall in der europäischen Nachkriegsgeschichte dar, weil sie bis Mitte der siebziger Jahre diktatorisch regiert wurden. Ein demokratisches Mehrparteiensystem existierte weder unter General Francisco Franco in Spanien noch im korporatistischen Estado Novo des António de Oliveira Salazar. In Portugal bildete sich nach der Nelkenrevolution vom 25. April 1974 und der Wiedereinführung der Demokratie eine relativ kleine und sehr rechtskatholische Partei mit sowohl christlich-demokratischen wie konservativen Referenzen: der Partido do Centro Democrático Social (CDS). Sie wurde rasch in die EUCD und beim EG-Beitritt Portugals 1986 in die EVP aufgenommen, machte aber zugleich bei der EDU2 mit. Aus heutiger Perspektive, wo es scheinbar unmöglich geworden ist, dass eine Partei selbst bei gröbsten Verstößen gegen die EVP-Grundwerte aus dieser ausgeschlossen wird – die Largesse gegenüber dem ungarischen Fidesz von Viktor Orbán grenzt an Narrenfreiheit –, mutet es schon seltsam an, dass das CDS wegen der „bloßen“ Ablehnung des Maastrichter EU-Vertrags und Nichtzahlung der Mitgliedsbeiträge 1993 aus der EVP rausflog.3
Wesentlich komplexer (und mit weitreichenderen Konsequenzen) stellt sich der Fall Spanien dar. Vor dem Bürgerkrieg (1936-1939) und der Errichtung der Franco-Diktatur gab es faktisch nur im Baskenland4 und in Katalonien5 so etwas wie eine lupenreine Christdemokratie freiheitlich gesinnter Katholiken.6 In den anderen Regionen interpretierte die katholische Kirche die Vorgaben der noch jungen römischen Soziallehre meist allzu einseitig zum Vorteil von Großbürgertum und Aristokratie. Progressive katholische Laienbewegungen wie die christliche Arbeiterjugend tendierten zu den Sozialisten.
Dennoch formierten sich im Umfeld der 1963 gegründeten Kulturzeitschrift Cuadernos para el Diálogo schon unter Franco vereinzelte Initiativen oppositioneller Katholiken. Nach dem Tod des Caudillo 1975 kam es zur Gründung diverser Kleinparteien wie u.a. der Izquierda Democrática (Demokratische Linke) von Joaquín Ruiz-Giménez. Ihre Wahlergebnisse bewegten sich in homöopathischen Dimensionen. Offenkundig waren die Bürger nach Jahrzehnten klerikalfaschistischen Miefs nicht für ihre Ideen empfänglich. Nach etlichen Um- und Neustrukturierungen gingen die Christdemokraten schließlich in der zentristischen Föderation Unión de Centro Democrático (UCD) des ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten nach Francos Tod, Adolfo Suárez, auf. Diese wurde tatkräftig von der deutschen CDU und ihrer Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt. Franz Josef Strauß und die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung investierten dagegen in andere Aktien: die rechtskonservative Volksallianz (Alianza Popular, AP) von Manuel Fraga Iribarne, der in den sechziger Jahren unter Franco als Informationsminister gedient hatte.7 Fraga ging es weniger um autoritäre Restauration als vielmehr darum, Erbe und Andenken des Franquismus in Ehren zu halten und dem millionenfachen Fußvolk des Regimes eine neue politische Heimat im demokratisch verfassten Spanien zu offerieren.
Bei den Parlamentswahlen vom Oktober 1982 implodierte die UCD und der Sozialist Felipe González übernahm die Regierungsgeschäfte. Drei Monate zuvor hatten 13 christdemokratische Abgeordnete unter Führung von Óscar Alzaga die UCD verlassen und eine neue Kleinpartei, den Partido Demócrata Popular (PDP) gegründet. Dieser schloss ein Wahlabkommen mit der AP, die zur stärksten Oppositionsfraktion im Parlament avancierte. Sechs Jahre später, im Januar 1989, fusionierten AP, PDP8 und der Partido Liberal (PL) zum Partido Popular (PP). Fraga und seine bayerischen Freunde hatten ihr Ziel erreicht. Es sollte die erfolgreichste Parteineugründung der jüngeren europäischen Geschichte werden.
EVP-intern war beim EG-Beitritt Spaniens 1986 unumstritten, dass der baskische PNV, die katalanische UDC sowie der gesamtspanische PDP dazugehören müssten. Schwieriger wurde es, nachdem der PDP im nach Meinung von Kritikern „postfranquistischen“ PP aufgegangen war. Dieser nahm – wie zuvor schon die AP – ganz selbstverständlich an den Tagungen der aus Wien gelenkten EDU teil.9 In die EVP gelangte der PP in zwei Schritten (und gegen erheblichen Widerstand von Basken10 und Katalanen): 1989 durch die Aufnahme seiner Europaabgeordneten in die EVP-Fraktion; 1991 durch Erlangung der Vollmitgliedschaft in der Partei. Sogleich meldeten die Spanier ihren Führungsanspruch an und besetzten wichtige Schlüsselpositionen, zuerst in der Fraktion, später auch im Parteiapparat.11
Tangentopoli und das Ende der DC
Die Integration des spanischen PP bedeutete einen zentralen Wendepunkt in der Geschichte der EVP. Von nun an waren die Befürworter einer Umwandlung zur „political family of the centre-right“ deutlich in der Überzahl. Diese Tendenz verstärkte sich, als die italienische DC, lange Zeit tragende Säule des christdemokratischen Pols, im Zuge der Mailänder Justizermittlungen Mani pulite („Saubere Hände“) ab 1992 im Korruptionssumpf des Tangentopoli-Schmiergeldskandals versank. Binnen zwei Jahren zerbarst das gesamte Parteiensystem der Ersten Republik in tausend Stücke, die DC löste sich am 16. Januar 1994 auf. In den Folgejahren zersplitterte sie in alle Richtungen, von ziemlich rechts bis konturiert links. Ihre Altvorderen, Jungspunde und Nachgeborenen gründeten immer neue, sowohl linke wie rechte Sammelbewegungen, schmiedeten Wahlallianzen, kultivierten in Myriaden von Kleinstparteien ihr eitles Ego und überzogen sich gegenseitig mit Gerichtsprozessen. Am schlimmsten aber dürfte der Tatbestand wiegen, dass die rechten Wähler der DC, deren Kinder und Enkel heute aus Überzeugung und ohne schlechtes Gewissen rechts (Forza Italia) oder noch rechter (Lega) wählen.
Der einst starke linke DC-Flügel war von 1994 bis 2002 im neugegründeten Partito Popolare Italiano (PPI) organisiert. Innerhalb der EVP versuchte er, das ideelle Erbe der DC am Leben zu erhalten – ohne viel Erfolg. Der Wähleranteil des PPI betrug noch knapp zehn Prozent, weniger als ein Drittel des vormaligen DC-Kapitals, sein moralisches Ansehen war ramponiert. Drum setzte die neue EVP-Achse Berlin-Madrid recht bald auf ein neues, unverbrauchtes Pferd im italienischen Stall: Silvio Berlusconi. Als Herold eines freien, unverfälschen Marktes mit ausgeprägter Aversion gegen staatliche Regulierung, Fiskus und „rote“ Richter passte der Milliardär auch ideologisch besser ins Konzept. Dessen Selfmade-Retortenpartei Forza Italia (FI), 1994 als politischer Ableger des Mailänder Fininvest-Konzerns gegründet, trat 1998 der EVP-Fraktion im Straßburger Parlament bei. Am 1. Oktober 1999 wurde sie mit Handkuss als Vollmitglied in die Parteienfamilie des europäischen centro-destra aufgenommen.
Als der Cavaliere seine Forza-Partei 2009 mit der nationalkonservativen Alleanza Nazionale (AN)12 zur neuen Bewegung „Il Popolo della Libertà“ (PdL) verschmolz, zogen automatisch auch die früheren Nostalgiker des Faschismus in die EVP ein – ohne dort noch irgendwie peinliche Berührung zu provozieren. Infolge der ungezählten Skandale Berlusconis und interner Rivalitäten fiel das „Volk der Freiheit“ im November 2013 jedoch mit Karacho auseinander, aus dem PdL wurde Forza Italia 2.0. Viele Ex-AN-Leute gingen wieder eigene Wege, Duce-Enkelin Alessandra Mussolini aber blieb an Bord. Als Europaabgeordnete wurde sie 2014 Mitglied der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.
Das Gastspiel der Tories (1992-2009)
Nicht nur wegen des Stenz’ aus Mailand, sondern generell sollte das Jahr 1999 für die EVP eine Zäsur darstellen: Dank ihrer geschickten – oder eher skrupellosen? – Erweiterungspolitik mit der Aufnahme immer neuer Formationen aus dem rechten Spektrum überflügelte sie zum ersten Mal seit Einführung der EP-Direktwahl die sozialistisch/sozialdemokratische SPE und avancierte zur stärksten Kraft in Straßburg.13 Dort nannte sie sich jetzt Fraktion der Europäischen Volkspartei und Europäischer Demokraten (EVP-ED). Mit der Namensänderung kam zum Ausdruck, dass nicht alle nationalen Parteien, deren Gewählte in der Parlamentsfraktion saßen, zugleich Mitglieder der Europapartei EVP waren. Dies galt vor allem für die zahlenmäßig zweitgrößte Länderdelegation aus dem Vereinigten Königreich, der neben den Abgeordneten der britischen Konservativen auch ein Vertreter der protestantischen Ulster Unionist Party (UUP) aus Nordirland angehörte.
Die eigenständige Fraktion der Europäischen Demokraten (ED) mit Tories und dänischen Konservativen hatte sich bereits am 30. April 1992 aufgelöst, um eine Fraktionsgemeinschaft mit der EVP einzugehen. Damit hatten jene deutschsprachigen christdemokratischen Parteien (CDU, CSU, ÖVP), denen ein „bürgerliches“ europäisches Sammelbecken gegen Sozialisten und Linkskräfte vorschwebte – zu diesem Zweck hatten sie 1978 parallel zur EVP die EDU gegründet14 – ein wichtiges Etappenziel erreicht. Insbesondere Helmut Kohl warf nach dem Sturz der sperrigen Margaret Thatcher sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale, um die von dem umgänglicheren John Major geführten Tories in die EVP-Familie zu integrieren.15 Kohl war zeitlebens davon überzeugt, dass es ihm und seinesgleichen gelingen würde, die britischen Konservativen für das „rheinische Modell“ der sozialen Marktwirtschaft zu gewinnen und sie zu überzeugten Pro-Europäern zu konvertieren. Er verkannte die Tatsache, dass das deutsche CDU-Modell einer mittigen Catch-all-Partei mit drei Säulen (christlich-sozial, konservativ, liberal) eben nicht eins zu eins auf die historisch gewachsene politische Kultur anderer Länder übertragbar ist – und schon gar nimmer auf ein insularisches Traditionsbollwerk wie die seit 1834 bestehende Conservative and Unionist Party.
Weil vielen EVP-Gründungsmitgliedern angesichts des missionarischen Eifers von deutschen Unionsparteien und spanischem PP zur Einbettung der Tories mulmig zumute war16 und sie eine Profanierung des christsozialen Kanons fürchteten, musste zuerst eine Art identitärer Schutzdeich errichtet werden. Dies geschah in Form eines behutsam austarierten Grundsatzprogramms, das der EVP-Kongress in Athen im November 1992 einvernehmlich guthieß. Fortan sollte jede beitrittswillige Partei nur dann als Neumitglied aufgenommen werden, wenn sie sich ausdrücklich zum Athener Programm – ein äußerst geduldiges Stück Papier – bekannte.
Die schlauen Briten zogen einen solchen Schritt nie ernsthaft in Erwägung. Zwar profitierten ihre EP-Abgeordneten von 1992 bis 2009 ausgiebig von der Zugehörigkeit zur größten Fraktion (und drückten dieser wirtschafts- und sozialpolitisch einen stramm regulierungsfeindlichen Stempel auf), doch den Antrag auf Parteimitgliedschaft in der EVP reichten sie nicht ein. Abgesehen von wenigen europhilen Galionsfiguren17 blieben die Tories überwiegend eine euroskeptische Partei. Obschon die Türen der EVP ihnen zeitweilig sperrangelweit offen standen, hätte ein Beitritt den chronischen internen Zwist zwischen EU-Befürwortern und -Gegnern massiv befeuert. Kein Kulturpessimist, in keiner europäischen Denkfabrik, hätte damals vorausahnen können, dass es künftig tatsächlich einmal zum EU-Austritt Britanniens käme. Das geistige Fundament für den Brexit war jedoch immer vorhanden. Als David Cameron sich 2005 um die Führung der Konservativen Partei bewarb und in der Stichwahl gegen den harten Euroskeptiker David Davies antrat, versprach er der Parteibasis, er werde die Mitgliedschaft der Tory-Delegation in der EVP-ED-Fraktion aufkündigen. Als er das Versprechen nach den Europawahlen 2009 in die Tat umsetzte und mit der Alliance of European Conservatives and Reformists (AECR) eine neue europäische Partei ins Leben rief18, mag dem Häuflein aufrechter Föderalisten in der EVP ein Stein vom Herzen gefallen sein. Für diejenigen, die seit Gründung des Parteienbündnisses 1976 nicht müde geworden waren, die enge Seelenverwandtschaft von Christdemokraten und Konservativen zu beschwören, war es eine peinliche Desavouierung.
Fischen im liberalen Teich
Mit Blick auf die skurrilen Tories dürften sich die Dinge in der EVP ein für alle Mal erledigt haben. Alle anderen Neuankömmlinge, die seit den frühen neunziger Jahren hinzustießen und ihren Teil dazu beitrugen, dass aus der fröhlich-frommen Pfadfindertruppe eine fettleibige Lobby von Hochfinanz und Big Business wurde, haben sich nach eigenem Bekunden reibungslos integriert. Das gilt z.B. für die Union pour un mouvement populaire (UMP), die 2002 als fusionierte Einheitspartei der republikanischen Rechten in Frankreich das Licht der Welt erblickte.19 Unter Parteichef Nicolas Sarkozy wechselte sie 2015 nach Finanzskandalen und Wahlniederlagen den Namen. Doch auch die neue Marke „Les Républicains“ (LR) konnte nicht verhindern, dass mit der Wahl Emmanuel Macrons zum Staatspräsidenten 2017 eine profunde Neustrukturierung der französischen Parteienlandschaft in Gang kam.
Auch auf europäischer Ebene finden die innerfranzösischen Umwälzungen ihren Niederschlag, da sich die Macron-Formation „La République en marche“ im neugewählten Europaparlament mit den Liberalen alliieren wird. Fürs Erste wird es dabei bleiben, doch auf längere Sicht ist nicht auszuschließen, dass die EVP-Strategen alle Hebel in Bewegung setzen werden, um den Macronisten einen Wechsel schmackhaft zu machen. Schließlich gelang der EVP ein solcher Coup schon mehrmals. Kein Geringerer als Valéry Giscard d’Estaing, Präsident der Republik von 1974 bis 1981, kehrte der Liberalen und Demokratischen Reformfraktion (LDR) im Dezember 1991 den Rücken und schloss sich mit drei französischen Kollegen20 der EVP an. Als Nachfolger der legendären Simone Veil hatte Giscard nach der Europawahl 1989 sogar den LDR-Fraktionsvorsitz übernommen. Seine Vision war es, einen starken liberal-konservativen Pol aufzubauen, eine dritte Kraft im Plenum, die mit Christdemokraten und Sozialdemokraten konkurrieren könnte.21 Damit verfolgte er im Grunde ein ähnliches Ziel wie die machtbewussten Deutschen innerhalb der EVP. Nachdem sich der spanische Partido Popular 1989 für letztere entschieden hatte, war Giscards Traum schnell ausgeträumt. Bei seinem aufsehenerregenden Transfer zwei Jahre später war nicht jedermann in der EVP ob der illustren Neuakquirierung entzückt. Der Präzedenzfall aber war geschaffen.
Das Schema wiederholte sich 1996 mit dem Übertritt des Partido Social Democrata (PSD) aus Portugal. Der Parteiname macht deutlich, dass sich Gründervater Francisco Sá Carneiro in den siebziger Jahren noch stark am Vorbild der deutschen SPD unter dem nüchternen Realpolitiker Helmut Schmidt orientierte. Doch ein Antrag auf Mitgliedschaft in der Sozialistischen Internationale scheiterte 1975 am Veto des Partido Socialista (PS) von Mário Soares. Unter Aníbal Cavaco Silva bewegte sich der PSD ab 1985 spürbar nach rechts und wurde Teil der liberalen Parteienfamilie. Mit neun bzw. acht Abgeordneten stellte er nach den Europawahlen von 1989 und 1994 die jeweils zweitstärkste nationale Delegation in der liberalen [E]LDR-Fraktion.22 1996 folgte der fliegende Wechsel zur EVP.23 Wie die Karriere von José Manuel Durão Barroso beweist, machte er sich für den PSD bezahlt.24
Das agrarische Kuriosum
Was in dem hier dargelegten Spannungsfeld zwischen Europäischer Volkspartei und Liberalen durchaus verwundert, ist der Umstand, dass die EVP sich nie ernsthaft um die nordischen Agrarparteien aus Schweden und Finnland bemüht hat. In der Tat weisen die schwedische und finnische Zentrumspartei (Centerpartiet bzw. Suomen Keskusta)25 große kulturelle Ähnlichkeiten mit kontinentaleuropäischen Christdemokraten auf. Zum Ersten definieren sie sich als Parteien des politischen Zentrums, als integrierende Brückenbauer an der Schnittstelle divergierender sozio-ökonomischer Interessen, und zum Zweiten sind ihre Sympathisanten mehrheitlich im ländlichen Raum beheimatet. Die Agrarparteien Skandinaviens sind die Stimme der bäuerlichen Landwirtschaft; sie wollen Klein- und Mittelbetriebe fördern, treten ein für administrative Dezentralisierung und regionale Subsidiarität. Lange vor Entstehung der Grünen waren sie die ersten, die den Umweltschutz thematisierten.
Als ehemals reine Bauernparteien sind die Agrarier sehr wohl vergleichbar mit Organisationen wie dem Österreichischen Bauernbund, den Coldiretti in Italien oder dem Boerenbond in Flandern.26 Markantester Unterschied ist ihr säkularer Charakter. Zu keinem Zeitpunkt in ihrer über hundertjährigen Geschichte beriefen sie sich auf konfessionelle Referenzen. Dass sie sich auf transnationaler Ebene lieber zu den Liberalen als zu den Christdemokraten gesellten, mag mit der politischen Historie in Dänemark und dem nordischen Zusammengehörigkeitsgefühl zu tun haben. Weil die altehrwürdige dänische Venstre („Linke“) im Liberalismus des 19. Jahrhunderts wurzelt und sie sich auch nie als spezifische Bauernpartei verstand, war sie 1947 Mitbegründer der Liberalen Internationale. Andererseits stellte die ländliche Bevölkerung – besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – immer das Gros ihrer Wählerschaft.27 Wahlsoziologisch betrachtet ist die Venstre demnach auch „Schwesterpartei“ der bäuerlichen Zentrumsparteien in Schweden und Finnland28 – eine mögliche Erklärung dafür, dass letztere sich bei Europas Liberalen besser aufgehoben spüren als in der Europäischen Volkspartei.
Idealisten und Materialisten
Eher ein Schattendasein – zuhause und in der EVP – führen Nordeuropas kleine und vergleichsweise junge christdemokratische Parteien.29 Weil die politische Geografie in den skandinavischen Ländern nie von einem Staat-Kirche-Konflikt zwischen Laizisten und Religiösen geprägt war, gab es dort lange überhaupt keine Christdemokraten.30 Anders als in Mitteleuropa sind die christlichen Parteien Skandinaviens auch keine breiten Volksparteien mit quasi immanentem Anspruch auf Regierungsmacht, sondern reine Bekenntnisparteien31, die für dezidiert christliche Werte in ethischen, gesellschaftlichen und sozialen Fragen eintreten. Dazu gehören auch Umwelt- und Klimaschutz sowie eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung.
Auf eine vollkommen andere Wählerbasis als Agrarier und Christdemokraten stützen sich die skandinavischen Konservativen, also die Moderata samlingspartiet (MS) in Schweden, die Nationale Sammlungspartei (Kansallinen Kokoomus, KOK) in Finnland, Det Konservative Folkeparti (KF) in Dänemark und – außerhalb der EU – die norwegische Høyre (Rechte). Sie sind vor allem stark in den Großstädten und haben ihre Anhänger im wohlhabenden Bürgertum. Es handelt sich um klassische wirtschaftsliberale Parteien mit dem Credo des schlanken (Sozial-)Staats und niedriger Steuern. Doch anders als ihre Gesinnungsgenossen von den britischen Tories gelten all diese Free-Market-Parteien als ausgesprochen pro-europäisch. Als sie Mitte der neunziger Jahre32 in die EVP aufgenommen wurden, regte sich keinerlei Widerstand mehr. Die alten christsozialen Kämpfer hatten da schon kapituliert.
Der dritte Teil dieses Beitrags erscheint in der Juli-Ausgabe von forum.
- Fortsetzung von Teil 1: „Die konservative Frage“, in: forum 395, Mai 2019, S. 12-16.
- EUCD: Europäische Union Christlicher Demokraten; EDU: Europäische Demokratische Union (siehe Teil 1, S. 15-16).
- Die Wiederaufnahme des CDS-PP (Partido Popular) in die EVP erfolgte 2009.
- Die 1895 gegründete Euzko Alderdi Jeltzalea-Partido Nacionalista Vasco (EAJ-PNV) ist die größte Partei im spanischen Baskenland. Sie unterstützte die Zweite Spanische Republik und war unter Franco verboten.
- Die Unió Democràtica de Catalunya (UDC) existierte von 1931 bis 2017. Ihr Gründer Manuel Carrasco i Formiguera wurde 1938 trotz Protesten des Vatikans auf Anweisung Francos hingerichtet.
- Der Partido Social Popular (PSP) konstituierte sich 1922 nach italienischem Vorbild, blieb aber eine Fußnote in der spanischen Geschichte. Er wurde 1924 nach dem Militärputsch von General Miguel Primo de Rivera wieder aufgelöst.
- An der Gründung der AP waren sechs frühere Minister der Franco-Diktatur beteiligt: Manuel Fraga Iribarne, Cruz Martínez Esteruelas, Federico Silva Muñoz, Laureano López Rodó, Gonzalo Fernández de la Mora und Licinio de la Fuente.
- Wenige Monate zuvor, im März 1988, hatte der PDP sich noch in Democracia Cristiana (DC) umbenannt.
- Der Österreicher Alois Mock war von 1979 bis 1998 Präsident der Europäischen Demokratischen Union.
- Auf Betreiben von José María Aznar, PP-Chef und spanischer Ministerpräsident von 1996 bis 2004, wurde der PNV, eine christlich-demokratische Partei mit über hundertjähriger Tradition, 1999 ohne viel Federlesens aus der EVP ausgeschlossen.
- Das Amt des EVP-Generalsekretärs wird seit 20 Jahren von PP-Leuten besetzt. José María Aznar beförderte 1999 seinen angehenden Schwiegersohn Alejandro Agag Longo auf den Posten. Nachdem Agag sich 2002 in die Privatwirtschaft verabschiedet hatte (und u.a. Karriere als Manager im Autorennsport machte), übernahm sein Landsmann Antonio López-Istúriz White die Funktion.
- Die AN war 1995 aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) hervorgegangen. Parteichef Gianfranco Fini wollte aus der Schmuddelecke der italienischen Politik heraus und seine Formation in eine „destra rispettabile“ umwandeln.
- Bei der Europawahl vom Juni 1999 fielen 233 Sitze (von 626) an die EVP und ihre Verbündeten, 180 an die SPE.
- Siehe Teil 1, S. 15-16.
- Obschon er als Kohls „Junior“ dem Kanzler politisch sehr nahe stand, gab sich Jean-Claude Juncker immer als Gegner einer Aufnahme der Tories in die EVP zu erkennen.
- DC (Italien), CVP und PSC (Belgien), CDA (Niederlande), CSV (Luxemburg), CDS (Frankreich), FG (Irland), PNV (Baskenland), UDC (Katalonien).
- Edward Heath, Kenneth Clarke, Michael Heseltine, Douglas Hurd, Chris Patten, u.a.
- Deren EP-Fraktion heißt European Conservatives and Reformists (ECR). Im Oktober 2016 änderte die Partei ihren Namen in Alliance of Conservatives and Reformists in Europe (ACRE).
- Unter dem Dach der UMP sollten sämtliche Traditionslinien der französischen Droite zusammenwachsen: Gaullisten, Konservative, Liberale, Radikale, Zentristen, Christdemokraten… Doch am Beispiel der von Jean-Louis Borloo gegründeten Parteienkonföderation UDI (Union des démocrates et indépendants), des Mouvement démocrate (MoDem) von François Bayrou und nicht zuletzt von Emmanuel Macrons „La République en marche“ wird deutlich, dass das Vorhaben einer CDU à la française krachend gescheitert ist. Ein Jahr vor Gründung der UMP war 2001 der neogaullistische RPR (Rassemblement pour la République) in die EVP aufgenommen worden. Die RPR-Europaabgeordneten waren der EVP-ED-Fraktion schon 1999 beigetreten. Von 1973 bis 1999 hatten sie gemeinsam u.a. mit der irischen Fianna Fáil eine separate Fraktion gebildet, die das Konzept eines vereinten Europas souveräner Nationen vertrat.
- Alain Lamassoure, Jeannou Lacaze sowie der mächtige Pressemagnat Robert Hersant.
- Laurent de Boissieu, „L’intégration des partis politiques français dans le système partisan européen“, in: Revue internationale de politique comparée, 4, 2009, S. 721-735.
- 1985-1994: Liberal and Democratic Reformist Group (LDR); 1994-2004: Group of the European Liberal Democrat and Reform Party (ELDR).
- Innerhalb des weltanschaulich sehr breit aufgestellten PSD gibt es auch eine kleine christlich-demokratische Strömung. Prominentester Vertreter ist der aktuelle Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa.
- EVP-Mann Barroso war von 2004 bis 2014 Präsident der Europäischen Kommission.
- Neben der Senterpartiet (SP) in Norwegen gehören auch die Estnische Zentrumspartei (Eesti Keskerakond), der Bauernverband Lettlands (Latvijas Zemnieku savienība, LZS) sowie der Bund der Bauern und Grünen Litauens (Lietuvos valstiečių ir žaliųjų sąjunga, LVŽS) zur Gattung der nordischen Agrarparteien.
- Der Österreichische Bauernbund ist eine Teilorganisation der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), Coldiretti und Boerenbond sind aus der Katholischen Aktion hervorgegangen.
- Claus Bjørn, „Venstre – the Party of the Rural Population in Denmark“, in: Heinz Gollwitzer (Hg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart, Gustav Fischer, 1977, S. 147ff.
- Neben den „grünliberalen“ Agrariern gibt es in beiden Ländern auch „echte“, d.h. „blaue“ liberale Gruppierungen: die Liberalerna in Schweden und die 2011 zu einem Thinktank mutierte Liberaalit in Finnland.
- Die finnische Kristillisdemokraatit wurde 1958 gegründet, die schwedische Kristdemokraterna 1964 und die dänische Kristendemokraterne 1970. Nach der Europawahl 2019 wird – wie schon zuvor – nur die schwedische KD im Europaparlament vertreten sein. Sie errang zwei Sitze (+1).
- Älteste christliche Partei in Skandinavien ist seit 1933 die norwegische Kristelig Folkeparti (KrF).
- Viele ihrer Mitglieder und Wähler gehören protestantischen Freikirchen an.
- Die dänischen Konservativen wurden 1993 EVP-Vollmitglied, die Parteien aus Schweden und Finnland 1995.
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