- Politik
Von der Glaubensgemeinschaft zur Machtmaschine
Wie die Europäische Volkspartei immer größer und mächtiger wurde und warum sie heute vor Kraft kaum noch laufen kann (Teil 3)
Die Eroberung des Ostens1
Der dritte und letzte Teil des Beitrags über Identität und Selbstverständnis der 1976 gegründeten Europäischen Volkspartei (EVP) im Laufe ihrer Geschichte handelt von der Erkundung der Länder Mittel- und Osteuropas nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 und der Aufnahme neuer Mitgliedsparteien im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union auf 28 Staaten nach 2004. Dabei wird deutlich, dass mancherorts sehr wohl ein christlich-demokratisches Potenzial vorhanden war, das bis in die Vorkriegszeit, manchmal sogar bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte, aus westlicher Perspektive aber allzu sehr in der Vergangenheit haften geblieben war. Besonders schwierig gestaltete sich die Mission in Ländern, wo die christlichen Konfessionen, allen voran der Katholizismus, historisch als Teil eines nationalistischen oder klerikalen Narrativs missbraucht wurden. So ging die EVP vielfach den bequemeren und einträglicheren Weg des „Big is beautiful“ – und legte sich so manches faules Ei ins Nest.
Schwieriger Exportartikel
Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel und die Volksrepubliken im Einflussbereich der Sowjetunion sich auf den beschwerlichen Weg der Transformation vom real existierenden Ein-Parteien-Sozialismus zur liberalen Mehrparteiendemokratie machten, hätte man annehmen können, dass für die Christdemokratie westeuropäischen Zuschnitts überall auf dem Kontinent goldene Zeiten anbrechen würden. Die Strategen im Bonner Konrad-Adenauer-Haus und in der von dort ferngelenkten Brüsseler EVP-Zentrale waren überzeugt, dass man ihr bewährtes Politikmodell, das in der Nachkriegszeit für Frieden, Wohlstand und soziale Stabilität gesorgt hatte, den „neuen Demokratien“ einfach so überstülpen könne. Der Siegeszug der Christdemokratie in Mittel- und Osteuropa schien umso realistischer, als man davon ausging, dass alles, was dort auch nur im entferntesten nach „Sozialismus“ roch, auf immer und ewig diskreditiert sei – die Sozialdemokraten also die wesentlich schlechteren Startbedingungen hätten.
Wohl waren die Absichten löblich und die finanziellen Mittel großzügig. Auf Initiative der EVP2 wurde mit Unterstützung der Mitgliedsparteien und ihrer parteinahen Thinktanks 1991 die Christian Democratic Academy for Central and Eastern Europe mit Sitz in Budapest gegründet. Daraus entstand 1995 das Robert Schuman Institute for Developing Democracy in Central and Eastern Europe (RSI)3, ein Bildungs- und Trainingszentrum, das talentierte Jungpolitiker mit dem nötigen geistigen und handwerklichen Rüstzeug versieht.
Und doch: Ein Konzept wie die „christliche Demokratie“, das in seiner parteipolitischen Variante nur auf Dauer erfolgreich sein kann, wenn in dem jeweiligen Land einige grundlegende historische und soziologische Voraussetzungen erfüllt sind, lässt sich – im Gegensatz zu traditionellen säkularen Weltanschauungen wie Sozialismus, Liberalismus und Konservatismus – nicht einfach so exportieren. Das frappanteste Beispiel ist sonder Zweifel Polen, wo in den Jahren nach 1989 eine Myriade von Kleinstparteien mit christlich-demokratischem Etikett ihr Glück versuchte. Schon 1991 sollen es um die vierzig gewesen sein. Keine von ihnen konnte nennenswerte Erfolge verbuchen – und wenn doch mal vereinzelt ein Parlamentssitz oder Regierungsposten raussprang, war es in der Regel nur von kurzer Dauer.
Dabei schien der polnische Humus unvergleichlich fruchtbar. In keinem anderen Land Mittel- und Osteuropas war der Katholizismus so stark verankert, genoss die Kirche – sie war zu Zeiten des Kommunismus das einzige halbwegs sichere Refugium für Oppositionelle – ein so hohes Ansehen. In Rom hatte Papst Johannes Paul II. tatkräftig an der Überwindung der Teilung Europas mitgewirkt, während in Danzig ein junger Elektriker namens Lech Wałęsa mit der Gewerkschaft Solidarność und dem Abbild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau am Revers die kommunistische Staatsmacht das Fürchten gelehrt hatte. Was konnte demnach schiefgehen?
Akademische Analysten sind mit einer Fülle komplexer Erklärungen zur Stelle.4 Am schlüssigsten erscheint im Kontext des äußerst vielfältigen Charakters des polnischen Katholizismus die Tatsache, dass dieser, weit ausgeprägter als anderswo, als zentraler Bestandteil der nationalen Identität begriffen wird. Hinzu kommt die herausragende Stellung des Klerus vor allem in ländlichen Gebieten, dessen Drang zur klerikalen Bevormundung und die Angst vor aus dem „dekadenten“ Westen importierten gesellschaftlichen Veränderungen.
Katholische Inteligencja gegen Radio Maryja
„Christliche Demokratie“ aber bedeutet von ihrem Ursprung im nachrevolutionären Frankreich des 19. Jahrhunderts und ihrer Evolution sowohl im prä- als auch postkonziliaren Laienapostolat des 20. Jahrhunderts her das exakte Gegenteil von national, klerikal und autoritär, nämlich: universalistisch, pluralistisch-demokratisch, der Gewissensfreiheit verpflichtet. So kommt es, dass zwar nicht wenige der kurzlebigen, nach 1989 in Polen entstandenen Gruppierungen das gemeinsame Attribut „christlich“ im Firmenschild führten und dennoch oft Lichtjahre voneinander entfernt waren. Das Spektrum reichte von den Nachfahren der „historischen“, mit der katholischen Gewerkschaftsbewegung der Vorkriegszeit liierten christdemokratischen Partei der Arbeit (Stronnictwo Pracy, SP)5 über unzählige Miniparteien und Wahlallianzen im Umfeld von Solidarność bis hin zu klerikal-nationalistischen Organisationen wie der Christlich-Nationalen Vereinigung (Zjednoczenie Chrześcijańsko-Narodowe, ZChN) oder der rechtsextremen Liga Polnischer Familien (Liga Polskich Rodzin, LPR). Auch der von der Kirchenhierarchie unabhängige Sender Radio Maryja, der eine scharfe nationalkonservative Schiene gegen Europa fährt und dem immer wieder Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus vorgeworfen wird, ist Teil dieses kakofonen Tableaus.
So kam es, dass die Mehrheit der liberal-katholischen Intellektuellen und Bürgerrechtler aus dem Solidarność-Lager, darunter Tadeusz Mazowiecki, Hanna Suchocka und Bronisław Geremek6, gar nicht erst versuchten, eine eigenständige christdemokratische Partei auf die Beine zu stellen. Stattdessen lancierten sie mit anderen Weggefährten aus der Bürgerrechtsbewegung die sozialliberal-zentristische Demokratische Union (Unia Demokratyczna, UD). Mazowiecki war ihr erster Vorsitzender. 1994 fusionierte die UD mit dem von Donald Tusk geführten, freimarktwirtschaftlich orientierten Liberal-Demokratischen Kongress (Kongres Liberalno-Demokratyczny, KLD) zur Freiheitsunion (Unia Wolności, UW). Letztere trat 1996 der Europäischen Volkspartei bei, verließ diese aber 2002 und schloss sich der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) an7, ehe sie sich 2005 auflöste. Im Gegenzug nahm die EVP 2003 die von Tusk mitinitiierte Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) auf.8 Gaben in der UW noch die verdienten Menschenrechtsaktivisten aus Solidarność-Zeiten den Ton an, deckt die jüngere PO ein breiteres ideologisches Spektrum ab.
Nach etlichen tektonischen Verschiebungen präsentiert sich die polnische Parteienlandschaft heute sehr viel aufgeräumter als in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Systemwechsel. Liberale, pro-europäische Katholiken aus dem Post-Solidarność-Lager findet man vor allem in der PO; konservativ-nationale und euroskeptische Katholiken in der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), der zurzeit dominierenden Formation im Land. Seitdem die (postkommunistische) polnische Linke bei den Sejm-Wahlen 2015 ihre sämtlichen Parlamentsmandate verloren hat und damit einstweilen von der Bildfläche verschwunden ist, konkurrieren PO und PiS mit unerbittlicher Rivalität. Bemerkenswert daran ist, dass beide Parteien9 auch christdemokratisches Gedankengut für sich beanspruchen, dieses jedoch höchst unterschiedlich deklinieren. Als dritter Akteur im Bunde agiert sodann noch die agrarische Polnische Volkspartei/Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe, PSL). Bürgerplattform und Bauernpartei sind auf europäischer Ebene EVP-Mitglieder, die von den Zwillingsbrüdern Lech und Jarosław Kaczyński 2001 gegründete PiS gehört wie die britischen Tories zur Alliance of Conservatives and Reformists in Europe (ACRE).10
Das Enfant terrible aus Budapest
Dass die Kaczyński-PiS der EVP offenbar nicht salonfähig genug ist, mag angesichts der tolerierten Peinlichkeiten um den Ungarn Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei erstaunen. Der 1988 als Bund Junger Demokraten (Fiatal Demokraták Szövetsége, Fidesz)11 in einem Budapester Studentenwohnheim gegründete Klub war anfangs eine Art ungarische APO gegen das kommunistische Regime, wo nur Mitglied werden durfte, wer nicht älter als 35 war. Der jugendlich-unkonventionelle Verein trat 1992 der Liberalen Internationale (LI) bei, während die EVP ihre Hoffnungen auf den damaligen Regierungschef József Antall12 und das gemäßigt-konservative Ungarische Demokratische Forum (Magyar Demokrata Fórum, MDF) setzte.
In den Folgejahren schlug der Fidesz zunehmend konservativ-nationalistische Töne an und gewann im bürgerlichen Lager Ungarns die Überhand. Dennoch blieb er international ein Teil der liberalen Parteienfamilie. Beim LI-Kongress vom 3. bis 5. März 1999 in Brüssel hielt Viktor Orbán eine fulminante Rede, in der er die These vertrat, angesichts der Erfolge der Mitte-rechts-Parteien in Zentral- und Osteuropa müsse sich das liberale Denken verändern und erneuern. Dazu gehörten der Kampf gegen Drogen und Kriminalität, die Unterstützung der Familien sowie der Erhalt von nationalen Traditionen und kulturellem Erbe. Doch die Orbán’sche Vision fand wenig Anklang beim liberalen Establishment aus dem Westen. Drum wechselte der Fidesz im November 2000 die Seiten und ging zur EVP, die ihm den roten Teppich auslegte. Der Rest ist eine noch nicht zu Ende geschriebene Geschichte aus Provokationen und Turbulenzen, Brüssel-Bashing, „illiberaler Demokratie“ und völkisch-irredentistischem Panmagyarentum.13 Als willfährigem Gehilfen bedient sich der reformierte Calvinist Orbán dabei der kleinen, im September 1989 neu erstandenen Christlich-Demokratischen Volkspartei (Kereszténydemokrata Néppárt, KDNP).14 Sie vertritt heute überwiegend katholisch-fundamentalistische Positionen, ihre Mitglieder kandidieren auf den gemeinsamen Listen des Kartells Fidesz-KDNP.15
Das Beispiel Ungarn macht auf drastische Weise deutlich, wie „Christdemokratie“ im Osten des europäischen Kontinents in erster Linie als Auftrag zur Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen Islam und Atheismus im globalen Kampf der Kulturen16 verstanden wird. Dass Frau Merkel oder Herr Juncker all das, gelinde gesagt, viel nuancierter sehen, ist einer der Hauptgründe dafür, weshalb die Europäische Volkspartei zwar wohl mit schierer Größe protzen kann, politisch aber oft nichts Konkreteres zustande bringt als feierlich proklamierte Immobilität.
Junckers Intimfeind aus Prag
Auch in Tschechien verfolgte die EVP nach 1989 eine hegemoniale Erweiterungsstrategie. Diese erschien umso zwingender, als die Sozialdemokratie dort auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte. Anders als in Polen und Ungarn entstammen die tschechischen Sozialdemokraten17 nicht den gewendeten kommunistischen Staatsparteien, sondern sind ein nationales Eigengewächs aus den Zeiten der Habsburgermonarchie seit 1878. Als ihr konfessionelles Alter Ego fungierte die Tschechoslowakische Volkspartei (Československá strana lidová, ČSL) von 1919.18 Deren Handicap bestand darin, dass sie nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 als Blockpartei innerhalb der Nationalen Front – ähnlich der Ost-CDU in der DDR – weiterbestehen durfte und bis 1989 ununterbrochen in Parlament und Regierung vertreten war.19 Folglich fokussierte sich das Interesse der EVP in Tschechien nicht auf die kompromittierte ČSL, sondern auf die 1991 aus dem Bürgerforum20 hervorgegangene Demokratische Bürgerpartei (Občanská demokratická strana, ODS) von Václav Klaus.21 Dieser war ein Bewunderer Margaret Thatchers, radikaler Marktwirtschaftler, Euroskeptiker und später ein prominenter Leugner des Klimawandels.22 Und weil die ODS als tschechisches Abbild der britischen Tories sogleich sehr erfolgreich war, genoss sie die uneingeschränkte Unterstützung von EVP, CDU/CSU und Österreichischer Volkspartei. Deren Emissäre in Prag predigten für das Modell der großen bürgerlichen Sammelpartei, sprich für die dreifaltige Vereinigung von Christdemokraten (KDU-ČSL)23, Liberalen (ODA)24 und Konservativen (ODS). Doch erstens war Václav Klaus ein Polarisierer, und zweitens war die „alte Tante“ KDU-ČSL zuversichtlich, auch im neuen Staat auf eine stabile katholische Wählerbasis bauen zu können. Womit sie aus heutiger Sicht recht behalten sollte. Mit einem Durchschnittswert von 7,8 Prozent bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus (1990-2017) war sie als Scharnier zwischen Links und Rechts an sechs (von insgesamt neun) Regierungen beteiligt. Die ODS war mit 23,3 Prozent im Schnitt dreimal so stark, sie gehörte aber lediglich fünf Regierungen an.
Trotz des Liebeswerbens der EVP um die ODS blieb diese aus dogmatischen Gründen auf Distanz – im Gegensatz zu vielen anderen klassisch-konservativen Parteien in Ost, West, Nord und Süd.25 Zwar gehörten ihre Europaabgeordneten nach dem EU-Beitritt Tschechiens 2004 der EVP-ED-Fraktion in Straßburg an, doch zu einer formalen Parteimitgliedschaft kam es nicht. Im Gegenteil: Im Schulterschluss mit den Tories verließ die ODS 2009 das EVP-Konglomerat, um fortan unter dem Dach der antiföderalistischen AECR (ab 2016: ACRE) eigene Wege zu gehen.26
Die Nachfahren der Ludaken
Im Vergleich zu ihren tschechischen Cousins gelten die Slowaken als sehr viel religiöser und kirchentreu. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass der politische Katholizismus in der Slowakei bis Ende des Zweiten Weltkriegs in stramm nationalistischen Gewässern segelte und durch seine Abhängigkeit von Nazideutschland dem Sündenfall erlag. Während der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) genoss die ČSL im slowakischen Landesteil nicht viel Rückhalt. Die Katholiken dort fühlten sich mehrheitlich einer gleichberechtigten slowakischen Nation zugehörig und forderten Autonomie. Sie unterstützten die Slowakische Volkspartei (Slovenská ľudová strana, SĽS), die der katholische Priester Andrej Hlinka 1913 ins Leben gerufen hatte.27 Ihre Anhänger wurden als Ludaken („Volksparteiler“) bezeichnet. Die SĽS war eine ideologisch sehr heterogene Sammelpartei. Ihr „linker“ Flügel, zu dem Hlinka sowie nach dessen Tod 1938 sein Nachfolger Jozef Tiso, ebenfalls ein Priester, gehörten, verfolgte eine national-klerikale Politik, der rechte Flügel um Vojtech Tuka war reinrassig faschistisch und antisemitisch. Chefdenker Tiso propagierte in Anlehnung an die päpstliche Sozialenzyklika Quadragesimo anno von 1931 einen christlichen Ständestaat.28 Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei erklärte die Slowakei auf Druck Hitlers am 14. März 1939 ihre Unabhängigkeit mit Jozef Tiso als Staatspräsident. Der bis heute von Teilen der Bevölkerung als Märtyrer verehrte Kleriker-Politiker wurde am 18. April 1947 als Landesverräter und Kriegsverbrecher hingerichtet.
Sicher kann man die 1990 entstandene Christlich-Demokratische Bewegung (Kresťanskodemokratické hnutie, KDH) nicht unmittelbar mit den Ludaken der Vorkriegszeit vergleichen. Parteigründer Ján Čarnogurský, Ministerpräsident der slowakischen Teilrepublik im Rahmen der kurzlebigen föderalen ČSFR und ehemaliger Dissident, dessen Vater Pavol ein prominentes Mitglied der Hlinka-Partei gewesen war, distanzierte sich von dieser, weil sie in der Zwischenkriegszeit viele Fehler begangen und sich in der Ära des Slowakischen Staats auch schwerer Verbrechen, insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung, schuldig gemacht habe.29
Hätte es diese Klarstellungen Čarnogurskýs nicht gegeben, die EVP hätte wohl ebenfalls keinerlei Bedenken gehabt, die KDH in ihre Reihen aufzunehmen. Das war gleichermaßen der Fall, als im Wirrwarr der autokratischen Regierungsperiode des Populisten Vladimír Mečiar (1994-1998) eine zweite Oppositionspartei mit christdemokratischem Anstrich, die Slowakische Demokratische und Christliche Union (Slovenská demokratická a kresťanská únia, SDKÚ)30, die Bühne betrat. Ihr Anführer war Ex-KDH-Mann Mikuláš Dzurinda31, dessen Amtszeit als Ministerpräsident (1998-2006) vom radikalen Umbau des Wirtschafts-, Sozial-, Renten- und Steuersystems – darunter die Einführung der Flat Tax – geprägt war. So entpuppten sich die zwei christdemokratischen Parteien der Slowakei, auch auf EVP-Ebene, als Protagonisten einer möglichst unregulierten Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Ablehnung einer vertieften europäischen Integration und des gescheiterten EU-Verfassungsvertrags. Gewerkschaftsaffine Christsoziale im Benelux und der Großregion Saar-Lor-Lux können daraus nur eine Schlussfolgerung ziehen: Nicht überall, wo das „C“ draufsteht, ist auch ein „C“ drin – zumindest nicht so, wie es die altehrwürdige katholische Soziallehre eigentlich vorschreibt.
Dämonen der Vergangenheit
Ist der Katholizismus in der Slowakei durch die Ludaken historisch belastet, gilt das in Kroatien, wo das römisch-katholische Bekenntnis Teil des nationalen Kanons ist, in noch weit höherem Maße für die Ustaschen. Nicht dass man versucht wäre, diese als die schwärzesten aller schwarzen Schafe in der zugegeben komplexen Geschichte des politischen Katholizismus zu katalogisieren – in diese Sparte gehören sie nämlich definitiv nicht hinein. Die Ustascha (Ustaša – Hrvatska revolucionarna organizacija) unter Poglavnik (Führer) Ante Pavelić war eine der mörderischsten, totalitärsten Ausgeburten eines durch und durch rassistischen, menschenverachtenden Faschismus. Ihre Verbrechen, vor allem in der Zeit des Unabhängigen Staates Kroatien (1941-1945), stehen denen der Nazis in nichts nach. Dennoch genoss sie die aktive Unterstützung einer Minderheit nationalistisch gesinnter katholischer Geistlicher. Auch wurde dem Zagreber Erzbischof Alojzije Stepinac32 oft vorgeworfen, er habe nicht alles in seiner Macht stehende getan, um die Ustascha zu stoppen.
Warum ist das für die heutige Zeit und die Geschichte der EVP relevant? Nun, letztere war, wie so oft, bei der Wahl eines neuen Bündnispartners in einem Land, dessen Terrain sie noch nicht erschlossen hatte, nicht gerade wählerisch. Tatsache ist, dass die eindeutig stärkste Partei des Landes, die Kroatische Demokratische Union (Hrvatska demokratska zajednica, HDZ), erst 2002 – bzw. 2013 als Vollmitglied – in die EVP aufgenommen wurde. Tatsache ist aber auch, dass sie schon ab Beginn der neunziger Jahre von Brüssel und den deutschen Unionsparteien umworben und hofiert wurde – trotz ihrer faktischen Ein-Parteien-Herrschaft unter dem Autokraten Franjo Tuđman, trotz dessen umstrittener Rolle während der Jugoslawienkriege, trotz ihrer Unterstützung für den international nicht anerkannten Separatistenstaat Kroatische Republik Herceg-Bosna, trotz aller Sympathiebekundungen für mutmaßliche bzw. schuldig gesprochene Kriegsverbrecher, trotz der Verharmlosung des Ustascha-Regimes und der Versuche zu dessen Rehabilitierung…
Die HDZ galt in jenen Jahren als größter Paria im Dunstkreis der EVP, mäßigte ihren militanten Nationalismus nach Tuđmans Tod 1999, wollte zu einer respektablen nationalkonservativen Partei mit christlich-demokratischem und pro-europäischem Einschlag werden. Das ist ihr mittlerweile auch durchaus gelungen.33 Und doch bleibt bis heute der fade Beigeschmack, dass die EVP um der puren numerischen Stärke willen immer wieder bereit ist, den letzten weißen Flecken ihrer Seele zu verkaufen.
Das wiederum kann man der zweiten EVP-Mitgliedspartei aus dem Balkanstaat, der Kroatischen Bauernpartei (Hrvatska seljačka stranka, HSS), nicht vorwerfen. Tatsächlich hat das Präsidium der kleinen Agrarierpartei34 am 23. Februar 2019 einstimmig beschlossen, die EVP nach 17 Jahren loyaler Zugehörigkeit zu verlassen. Laut ihrem Vorsitzenden Krešo Beljak waren zwei Gründe für den Schritt ausschlaggebend: 1) Der Versuch von Viktor Orbán, über Mittelsmänner Einfluss auf den kroatischen Medienmarkt zu gewinnen, um dort Hass und „inakzeptable Ideen“ zu verbreiten; sowie 2) die als revisionistische Entgleisung kritisierte Rede von EP-Präsident Antonio Tajani (Forza Italia) bei einer Gedenkfeier am Mahnmal für die italienischen Opfer jugoslawischer Partisanen im Zweiten Weltkrieg in Basovizza (Triest).35
Politik im VIP-Zelt
Dass die EVP bei ihrer arithmetisch fraglos höchst erfolgreichen Eroberung des Ostens lieber auf Masse statt Klasse, auf Macht statt Moral setzt, zeigt sich zu guter Letzt auch in den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas, die seit 2004 der EU beigetreten sind (Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien) – und darüber hinaus. In fast all diesen Ländern wurden christlich-demokratische oder zentristisch-agrarische Parteien systematisch ignoriert und an den Rand gedrängt. Stattdessen paktierte man bevorzugt mit den „Big Players“ vor Ort. Dass dabei auch so mancher dubiose, autoritäre, korrupte oder populistische Parvenü36 es in den erlauchten Zirkel der EVP-Staats-, Regierungs- und Parteichefs schaffte, sollte uns angesichts der epochalen Tragik des programmatischen Ausverkaufs und elektoralen Niedergangs der europäischen Christdemokratie nicht mehr als eine Randnotiz wert sein.
- Fortsetzung von Teil 1: „Die konservative Frage“, in: forum 395, Mai 2019, S. 12-16; und Teil 2: „Der große Umbau“, in: forum 396, Juni 2019, S. 10-16.
- Federführend war die 1989 von der EVP-Fraktion im Europaparlament lancierte Robert Schuman Foundation for Cooperation Between Christian Democrats in Europe. Der langjährige Trierer CDU-Europaabgeordnete Horst Langes war Vorsitzender der in Luxemburg ansässigen Stiftung.
- www.schuman-institute.eu
- Tim Bale & Aleks Szczerbiak, „Why is there no Christian Democracy in Poland (and why does this matter)?“, Sussex European Institute, SEI Working Paper no 91, 2006.
- Die SP war 1937 von den Publizisten Wojciech Korfanty und Karol Popiel teils nach dem Vorbild der Deutschen Zentrumspartei gegründet worden. Letzterer war von 1941 bis 1943 Minister in der polnischen Exilregierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Machtübernahme durch die Kommunisten existierte die SP als gleichgeschaltete Blockpartei noch bis 1950. Die in den Westen geflüchteten Mitglieder führten die Parteiaktivität ihrerseits weiter. Mit Hugon Hanke (1955) und Zygmunt Muchniewski (1970-1972) stellte die Partei der Arbeit zweimal den Ministerpräsidenten in der Londoner Exilregierung. Die 1989 in Polen neu gegründete Christlich-Demokratische Partei der Arbeit (Chrześcijańsko-Demokratyczne Stronnictwo Pracy, ChDSP) erklärte sich zur Nachfolgerin der alten SP, kam aber nie über den Status einer Splitterpartei hinaus.
- Mazowiecki war von August 1989 bis Dezember 1990 der erste nicht-kommunistische Regierungschef in einem Mitgliedstaat des Warschauer Pakts; Suchocka war Ministerpräsidentin von Juli 1992 bis Oktober 1993; Geremek amtierte von 1997 bis 2000 als Außenminister und erhielt 1998 wegen seiner Verdienste um die europäische Einigung den Karlspreis.
- Aus Protest gegen diesen Schritt trat der Christdemokrat Mazowiecki seinerseits aus der UD aus.
- Nachdem Tusk im Rennen um den UW-Parteivorsitz gegen Bronisław Geremek verloren hatte, verließ er die UW und gründete Anfang 2001 mit anderen Mitstreitern die PO. Auch Lech Wałęsa trat der Partei bei.
- Sowohl PO als auch PiS gehören zur Erbmasse der zerfallenen Wahlaktion Solidarität (Akcja Wyborcza Solidarność, AWS), einem 1996 aus rund 50 Gruppierungen gebildeten Wahlbündnis ehemaliger Oppositioneller. Unter dem Protestanten Jerzy Buzek – der für die EVP 2009 als erster Osteuropäer zum Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt wurde – regierte sie Polen von 1997 bis 2001.
- Luxemburgisches ACRE-Mitglied ist die ADR.
- Heute heißt die Partei offiziell Fidesz – Ungarischer Bürgerbund (Magyar Polgári Szövetség, Fidesz-MPSZ).
- Der untadelige József Antall war der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Ungarns nach der Wende. Er regierte vom 23. Mai 1990 bis zu seinem Tod am 12. Dezember 1993.
- Zu den zentralen politischen Zielen Orbáns gehört die Revision des Vertrags von Trianon vom 4. Juni 1920, durch den das Königreich Ungarn zwei Drittel seines Territoriums an die Nachbarländer verlor. Als „Ausnahmestaatsmann“ bewundert er den Reaktionär Miklós Horthy, Reichsverweser von 1920 bis 1944 und Verbündeter Hitlerdeutschlands im Zuge des Dreimächtepakts von 1940.
- Die originäre KDNP wurde am 13. Oktober 1944 gegründet und im Januar 1949 aufgelöst. Von Anfang an entluden sich Spannungen zwischen dem christlich-sozialen linken Parteiflügel um den Journalisten István Barankovics und dem klerikal-konservativen rechten Flügel unter General József Pálffy. Letzterer war ein enger Vertrauter von Kardinal-Erzbischof József Mindszenty.
- In der Regierung Orbán IV ist der KDNP-Vorsitzende Zsolt Semjén stellvertretender Ministerpräsident sowie Minister ohne Geschäftsbereich für gesamtungarische Politik, Kirchen und Nationalitäten.
- Siehe Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York, Simon & Schuster, 1996.
- Tschechische Sozialdemokratische Partei (Česká strana sociálně demokratická, ČSSD).
- Die Ursprünge des politischen Katholizismus im heutigen Tschechien reichen auf die Christlich-Soziale Partei in Böhmen (Křesťansko-sociální strana v Čechách) von 1894 und die Katholische Nationalpartei in Mähren (Katolická národní strana) von 1897 zurück. Als Partei der Deutschsprachigen in der Tschechoslowakei formierte sich 1919 die Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei (DCVP), die gute Beziehungen zur ČSL pflegte.
- Hingegen wurde die ČSSD in die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (Komunistická strana Československa, KSČ) zwangsintegriert.
- Das Bürgerforum (Občanské fórum, OF) hatte sich während der Samtenen Revolution am 19. November 1989 als politische Plattform von Bürgerrechtlern gebildet. Sein Aushängeschild war der Autor Václav Havel, den das Parlament am 29. Dezember 1989 zum Staatspräsidenten wählte.
- Václav Klaus war Ministerpräsident (1992-1998), Vorsitzender des Abgeordnetenhauses (1998-2002) und Staatspräsident (2003-2013) der Tschechischen Republik (bis 31. Dezember 1992: Tschechische und Slowakische Föderative Republik).
- Jean-Claude Juncker kokettierte gerne damit, Václav Klaus sei sein politischer Intimfeind, mit dem er sich an Bord eines Flugzeugs fast einmal eine Schlägerei geliefert hätte.
- 1992 nahm die ČSL ihren heutigen Namen an: Křesťanská a demokratická unie – Československá strana lidová (KDU-ČSL).
- Demokratische Bürgerallianz (Občanská demokratická aliance, ODA).
- Siehe Teil 1 und 2.
- Aus Tschechien gehört neben der KDU-ČSL heute noch die Partei TOP 09 (Tradice, odpovědnost, prosperita, deutsch: Tradition, Verantwortung, Wohlstand) zur EVP. Sie wurde 2009 vom ehemaligen KDU-ČSL-Vorsitzenden Miroslav Kalousek gegründet, nachdem die Christdemokraten Cyril Svoboda vom linken Parteiflügel zu ihrem neuen Chef gewählt hatten. Schillerndste Persönlichkeit von TOP 09 ist Karel Schwarzenberg, Familienoberhaupt des gleichnamigen fränkisch-böhmisch-österreichischen Fürstengeschlechts.
- Ab 1925 nannte sie sich Hlinkas Slowakische Volkspartei (Hlinkova slovenská ľudová strana, HSĽS), von 1938 bis 1945 Hlinkas Slowakische Volkspartei – Partei der Slowakischen Nationalen Einheit (Hlinkova slovenská ľudová strana – Strana slovenskej národnej jednoty, HSĽS-SSNJ).
- Die Programmatik der Ludaken in den dreißiger Jahren ist vergleichbar mit dem Austrofaschismus unter den Bundeskanzlern Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg in Österreich.
- Jan Pauer, „Diskurse über Politik, Gesellschaft und Geschichte“, in: Wolfgang Eichwede/Jan Pauer (Hg.), Ringen um Autonomie – Dissidentendiskurse in Mittel- und Osteuropa, Berlin/Münster, Lit Verlag, 2017, S. 493f.
- Die SDKÚ ging 2000 aus der Slowakischen Demokratischen Koalition (Slovenská demokratická koalícia, SDK) hervor, die 1997 als Wahlbündnis von fünf Parteien (darunter die KDH) begonnen hatte und 1998 aus wahlrechtlichen Gründen in eine eigenständige Partei umgewandelt wurde.
- Mikuláš Dzurinda ist heute Vorsitzender des Wilfried Martens Centre for European Studies (www.martenscentre.eu), dem 2007 gegründeten EVP-Thinktank in Brüssel.
- Stepinac wurde 1998 im kroatischen Marien-Wallfahrtsort Marija Bistrica von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. In Teilen der katholischen Weltkirche war die Entscheidung nicht unumstritten.
- Der aktuelle HDZ-Chef und kroatische Premierminister Andrej Plenković gilt als konziliant und genießt in der EU einen besseren Ruf als die meisten seiner Vorgänger.
- Die HSS wurde 1904 unter dem Namen Kroatische Volks- und Bauernpartei (Hrvatska Pučka Seljačka Stranka, HPSS) vom legendären Bauernführer Stjepan Radić gegründet.
- Tajani hatte in seiner Rede das „italienische Istrien“ und „italienische Dalmatien“ hochleben lassen.
- Janez Janša (Slowenien), Traian Băsescu (Rumänien), Bojko Borissow (Bulgarien), Sali Berisha (Albanien), Aleksandar Vučić (Serbien), Nikola Gruevski (Nordmazedonien) u.a.
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