Von Multi- zu Polykulturalismus
Leben mit Diversität in Luxemburg
„Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ‚Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“1
Leben bedeutet Veränderung, Veränderung bedeutet Leben, Stillstand hält das Leben an. So ist Identitätsentwicklung ein lebenslanges Projekt und man spricht von gelungener Identitätsentwicklung, wenn es gelingt, sich über Situationen hinweg als die gleiche Person wahrzunehmen, dabei aber auch neue Erfahrungen aufzunehmen und zu integrieren. Gesellschaften sind auch einem stetigen Wandel unterworfen. So beschreibt z. B. Florian Illies2 in seinem Werk 1913 sehr treffend die Umbrüche zu dieser Zeit – die damals ähnlich bedrohlich erlebt wurden, wie heute die zunehmende Globalisierung und der technologische Wandel. Wir erleben in Luxemburg die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft, und der Umgang mit Diversität, das Erleben von Kulturkontakt auf individueller und gesellschaftlicher Ebene, ist der rote Faden, der sich durch meine Forschung3 an der Universität Luxemburg zieht.
Die bunten Busse mit der Aufschrift multiplicity sind im Stadtbild der Hauptstadt überaus präsent. Multiplicity ist Teil des City Brandings und auf der Webseite der Ville de Luxembourg ist zu lesen: „Eine starke Identität – Die kosmopolitische und multikulturelle Stadt Luxemburg ist eine moderne und offene Stadt. (…) Kosmopolitisch und mehrsprachig – Die Stadt Luxemburg zählt fast 122.500 Einwohnerinnen und Einwohner, wovon 70 % aus dem Ausland stammen. Menschen mit mehr als 160 Nationalitäten leben hier Seite an Seite und machen aus unserer Stadt eine der weltweit multikulturellsten Hauptstädte.“4
Multikulturalismus in Theorie und Praxis
In der Selbst- bzw. Außendarstellung wird auf diese Pluralität also mit Stolz verwiesen. Eine grundsätzliche Befürwortung der multikulturellen Gesellschaft konnte ich auch in meinen Studien im Rahmen meiner vom Fonds national de la recherche (FNR) geförderten Doktorarbeit5 nachweisen. Große Zustimmung gibt es zu Aussagen wie „Es ist gut, dass so viele Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund hier in Luxemburg zusammenleben“. Allerdings zeigt sich auch das, was Forscher6 als Principle-implementation gap beschreiben, also das Phänomen, dass zwischen einem Grundsatz und den Vorstellungen zu seiner Umsetzung eine Lücke besteht. Das Prinzip findet Zustimmung – Uneinigkeit herrscht bezüglich der Frage der Anwendung. Multikulturalismus als Idee, als Möglichkeit über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, kulinarische Vielfalt und ein Selbstverständnis der Weltoffenheit – damit kann sich ein Großteil der Mitbürger anfreunden. Etwas schwieriger wird es dann bei der praktischen, gesellschaftlichen Umsetzung dieser Prinzipien. So berichtete zum Beispiel das Luxemburger Wort7 kürzlich über den Personalmangel bei der Luxemburger Polizei und erklärte, dass sich EU-Ausländer in Zukunft bei der Police Grand-Ducale bewerben können. Zur Zeit der Veröffentlichung des Online-Artikels am 19. Mai 2020 bestand die Möglichkeit, über diesen Vorstoß mit einer der folgenden Antwortmöglichkeiten abzustimmen: a) Das ist doch gut – Personalmangel ist ein Problem, und wir brauchen Polizisten b) Wenn es mit der Sprache klappt – warum nicht? c) Auf gar keinen Fall. Wir sind in Luxemburg, es ist die „Police Grand-Ducale“ – ich bin dagegen. Bei 261 Abstimmungen (inklusive meiner eigenen) hatte dies zu folgendem Ergebnis geführt: a) 6 % b) 38 % und c) 55%. Natürlich ist dies keine repräsentative Umfrage, stimmt aber mit den Ergebnissen meiner Forschung überein. Die konkrete Frage der Rekrutierung von Nicht-Luxemburgern bei der Polizei ist auch in meinen Untersuchungen auf die größte Ablehnung gestoßen8.
Implizite Einstellungen offenbaren versteckte Vorurteile
Im Folgenden möchte ich Projekte zweier meiner ehemaligen Bachelor-Studierenden9 vorstellen, die sich auf innovative, jedoch methodisch unterschiedliche Weise mit Facetten des living with diversity befassten. So hat die Luxemburgerin Jana Steinbach10 unter Anleitung meiner Doktorandin Maria Stogianni11 eine experimentelle Studie über die Einstellung zu Diversität durchgeführt. Wenn Menschen dazu aufgefordert werden, zu einer sensiblen Thematik ihre Meinung zu äußern, sind die Antworten oft von sozialer Erwünschtheit geprägt. Dies kann die Aussagen bei expliziten Messverfahren wie Selbstberichten mittels standardisierter Fragebögen beeinflussen. Diese mögliche Verfälschung kann man durch die Nutzung von indirekten Verfahren umgehen. Frau Steinbach hat in ihrer Studie den Implicit Association Test (IAT)12 verwendet. Der IAT ist eines der beliebtesten experimentellen Paradigmen zur Messung von impliziten Einstellungen. Man geht davon aus, dass der IAT Zugang zu unbewussten „impliziten“ mentalen Repräsentationen bietet, die durch Selbstberichte nicht zugänglich sind. Studienteilnehmer erhalten die Aufgabe, bestimmte Begriffe Kategorien zuzuordnen, und die Schnelligkeit der Reaktion wird als Maß genommen. Als Zielkonzepte hatten wir zunächst eine Liste mit luxemburgisch klingenden Namen (z. B. Henri, Gilles, Louis, Weber, Hoffmann und Schmit) und nicht-luxemburgisch klingenden Namen (z. B. Giuseppe, Achmed, Nuno, Lombardi, Teixera und Al-Halabi) erstellt. Diese mussten dann in verschiedenen Durchgängen angenehmen Attributen (z. B. Geschenke, Urlaub, Harmonie, Freude, Entspannung) und unangenehmen Konzepten (z. B. Virus, Kotze, Stress, Kakerlake, Hass) zugeordnet werden. Das Erfassen von impliziten Einstellungen basiert auf der Annahme, dass die Stärke der Assoziation die Leistung beeinflusst. Teilnehmer erledigen Aufgaben schneller und genauer, wenn sie das Zielkonzept und das Attribut als kongruente Assoziation (z. B. Luxemburger + angenehm) ansehen. In der Tat hatten einige Teilnehmer große Schwierigkeiten, den luxemburgisch klingenden Namen negative Attribute zuzuordnen. Die Zuordnung von positiven Attributen fiel deutlich leichter, was sich in einer höheren Reaktionsgeschwindigkeit widerspiegelte.
Das Fremde als Bedrohung
Teilnehmer wurden auch gebeten, einen Fragebogen zur gefühlten Bedrohung durch Zuwanderer (Perceived Threat Scale, PTS13) auszufüllen. Auf einer Skala von 1 („trifft überhaupt nicht zu“) bis 10 („trifft sehr zu“) wird das Ausmaß der Zustimmung zu Aussagen wie „Zuwanderer nehmen den Einheimischen in einem Land Arbeitsplätze weg“ oder „das kulturelle Leben eines Landes wird durch Zuwanderer untergraben“ abgefragt. Für die Stichprobe konnte ein Durchschnittswert von 2,51 ermittelt werden – d. h. die Bedrohung durch Zuwanderer wird als sehr gering wahrgenommen. Bei dem expliziten Messverfahren finden wir also einen sehr niedrigen Wert – das implizite Verfahren suggeriert jedoch, dass negative Assoziationen mit der Out-Group leichter fallen als mit der In-Group.
Inspiriert durch die Forschung zu Cultural Mixing14 führte Fee Krumeich15 eine innovative Online-Studie durch. Ziel war es, mithilfe von visuellen Stimuli auf kreative Art und Weise eine Auseinandersetzung mit kulturellen Einflüssen hervorzurufen. Studien in den USA haben gezeigt, dass hybride Bilder, d. h. Bilder, die aus typisch US-amerikanischen und typisch chinesischen Reizen zusammengesetzt sind, eher als Verunreinigung wahrgenommen werden und negative Reaktionen hervorrufen. Wir wollten die in den USA gewonnenen Erkenntnisse in einem europäischen Kontext replizieren. Eine erste Herausforderung bestand darin, Bilder zu finden, die in verschiedenen europäischen Ländern einen übergreifend hohen Erkennungswert haben. Viele Gebäude, Persönlichkeiten oder Symbole werden nur in einem länderspezifischen Kontext verstanden. Die Selektion der visuellen Stimuli war eine Herausforderung. Nach Pilotstudien haben wir uns auf sechs Kategorien festgelegt, für die wir jeweils ein europäisches und arabisches Äquivalent identifizierten: stilisierte Skyline (Europa/Dubai), Geldschein (20 Euro/Geldschein aus Ägypten), Architektur (Reichstag/Al-Aqsa Moschee), Landkarte (Schengenraum/arabischsprachige Länder), Flagge (Europa/Algerien) und Kunst (Delacroix/Bosco). In einem nächsten Schritt wurden diese Bilder dann zusammengesetzt und zu hybriden Bildern16 kreiert.
In der Studie wurden zuerst die europäischen Bilder präsentiert und die Teilnehmer nach jedem Bild gebeten, ihre positiven und negativen Emotionen mithilfe einer Skala anzugeben. Die gleiche Prozedur folgte dann für die arabischen Bilder und die hybriden Bilder.
Bei der Skyline oder dem Geldschein haben viele Teilnehmer die Vermengung erst gar nicht wahrgenommen. Andere Bilder haben zum Teil sehr heftige Reaktionen ausgelöst. Diese haben wir festgehalten, indem wir bei den hybriden Bildern zusätzlich zu den Emotionsskalen auch eine Satzergänzungsaufgabe eingefügt haben. Teilnehmer wurden gebeten, folgenden Satz zu ergänzen: „Wenn ich das Bild betrachte, fühle ich hauptsächlich ____________,weil ___________. Diese Aufgabe erzielte für uns den höchsten Erkenntnisgewinn. Wir konnten die emotionale Reaktion des Teilnehmers dokumentieren und nachzeichnen, warum Teilnehmer auf ihre Weise reagiert haben. Neben den Reaktionen auf die visuellen Stimuli erfasste die Studie auch Konzepte, die im Bereich der Diversitätsforschung relevant sind. Zu diesen gehören zum Beispiel die Einstellung zu Multikulturalismus, Patriotismus, Ethnozentrismus, Islamophobie oder auch die politische Orientierung.
Insgesamt 310 Teilnehmer aus 45 Nationen mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren haben an der Studie teilgenommen. Die Analyse der Satzergänzungsaussagen hat gezeigt, dass die meaning-making trajectories, die Bemühungen der Teilnehmer, die Stimuli zu deuten, extrem heterogen waren. Die internen Dialoge der Teilnehmer ließen auf höchst unterschiedliche Grenzen kultureller Toleranz schließen. Natürlich haben wir mit unseren hybriden Bildern provoziert. Wir geben den Teilnehmern aber die Möglichkeit zu reagieren – und der Großteil hat dieses Angebot angenommen und konstruktiv umgesetzt. Sie können ihre Emotion zum Ausdruck bringen (Ich fühle…) und diese Reaktion begründen (weil…). Auf Emotion folgt Reflexion. In dieser Reflexion kommen auch sich widersprechende Stimmen zum Vorschein – der innere Dialog wird in den Antworten sichtbar. Die Aussagen zeugen von Widersprüchen, die angesichts der komplexen Fragestellung aber auch gerechtfertigt sind. Was diese Analysen zeigen, ist, dass wir uns in einem ersten Schritt weg von einfachen, dichotomen Mustern, wie z. B. Mehrheit – Minderheit, Wir – die Anderen, Ost – West, Links – Rechts weg begeben sollten. Wenn das dichotome Denken durchbrochen wird, wenn der Dialog des anderen gehört wird, kann vielleicht ein echter Diskurs entstehen.
Kulturen im Austausch
Leben mit Diversität ist ein komplexes Feld. Um die Facetten besser verstehen zu können, brauchen wir innovative methodische Zugänge. Ein weiteres Ziel der oben zitierten experimentellen Studie war die Untersuchung der Rolle von Diversitätsideologien in Bezug auf die Einstellung zu Diversität. Leider kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht näher darauf eingehen, möchte aber zumindest erwähnen, dass man zwischen drei Diversitätsideologien unterscheidet17: Colourblindness (Farbenblindheit) betont den gemeinsamen Kern der Menschheit, Multikulturalismus die Bewahrung der Unterschiedlichkeit (Die Menschheit als schönes Mosaik), Polykulturalismus hingegen den Wandel und Austausch zwischen kulturellen Gruppen. Durch den interkulturellen Austausch verändern und entwickeln sich Kulturen dynamisch weiter. Kulturen spiegeln die Geschichte des Austausches zwischen Kulturen wider. Kulturen sind also keine statischen Gebilde, sondern entwickeln sich im Austausch ständig weiter.
Wie eingangs erwähnt, bedeutet Leben Veränderung. Diversität bedeutet Leben. Menschen können sich an veränderte Bedingungen anpassen. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Anpassung. Auch jetzt leben wir wieder in einer Zeit technischer und gesellschaftlicher Umbrüche, die unser Leben bereits verändert haben und weiter verändern werden. Der Idee des Polykulturalismus folgend, ermöglicht kultureller Austausch Weiterentwicklung. Bequemlichkeit des Denkens, Wiederholung der gleichen Denkschemata ohne Offenheit für Neues bedeutet Stillstand. Die Studie von Frau Krumeich ist ein Beispiel dafür, wie komplexe Denkschemata durch einen innovativen methodischen Ansatz aufgedeckt werden können. Es ist bereichernd, mit neugierigen Studierenden zu arbeiten, die die Offenheit besitzen, sich den schwierigen gesellschaftlichen Fragen zu stellen und empirische Antworten suchen. Wir hoffen, dadurch einen kleinen Beitrag zu leisten, Offenheit zu fördern, Stillstand zu verhindern und so zu vermeiden, dass wir eines Tages erschrocken erbleichen.
- Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 2012.
- Florian Illies, 1913, Berlin, Fischer Verlag, 20146.
- Die Forschung wird vom Fonds national de la recherche Luxembourg (C16/SC/11337403/SWITCH/Murdock) unterstützt.
- https://www.vdl.lu/de/die-stadt/kurzgefasst/multiplicity (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden am 19. Juni 2020 zuletzt aufgerufen).
- Elke Murdock, Multiculturalism within the Luxembourg context. A study of individual difference variables influencing attitudes towards the plural composition of society, 2014 (unveröffentlichte Doktorarbeit an der Universität Luxembourg).
- https://doi.org/10.1037/a0035830
- https://www.wort.lu/de/politik/eu-auslaender-werden-sich-in-zukunft-bei-der-police-grand-ducale-bewerben-koennen-5ec4239dda2cc1784e35e204
- Elke Murdock, Multiculturalism, Identity and Difference: Experiences of Culture Contact, London, Palgrave Macmillan, 2016.
- Die Studierenden waren alle Absolventen des Bachelor académique en Psychologie (BAP) an der Universität Luxemburg und haben Im Rahmen dieses Studiums ihre Bachelor-Thesis durchgeführt.
- Jana Steinbach, Wie vielfältig ist Luxemburg? Explizite und implizite Einstellungen luxemburgischer Staatsbürger zur Immigration und zu interkulturellem Gruppenkontakt, 2019 (unveröffentlichte Bachelorarbeit an der Universität Luxemburg).
- Frau Stogianni war verantwortlich für das experimentelle Design inklusive Programmierung. Eine wissenschaftliche Publikation zu dieser und weiteren experimentellen Studien ist in Vorbereitung.
- https://doi.org/10.1037/0022-3514.74.6.1464
- https://doi.org/10.1353/sof.2003.0038
- https://doi.org/10.1177/0022022116670514
- Fee Krumeich, European-Arabic Culture Mixing: Affective Responses and Dialogical Trajectories in an Ethnically Diverse Sample. An Online Visual Priming Study in the European Context, 2020 (unveröffentlichte Bachelorarbeit an der Universität Luxemburg).
- Bei der Kreation dieser hybriden Bilder hatte Frau Krumeich Unterstützung von ihrem Kommilitonen Kevin Berna – ebenfalls ein Absolvent des Bachelor académique en Psychologie (BAP).
- https://doi.org/10.1177/0022022118793528
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