Wie ein Damoklesschwert schwebt der Vorwurf der Oberflächlichkeit lautlos über dem Begriff der Mode: Ist sie nur Fashion, nur Ausdruck schnelllebiger Trends, nur Kleidung? Oder kann sie als etwas Künstlerisches begriffen werden, als ein Medium, das unsere Persönlichkeit nach außen transportiert und uns von anderen unterscheidet? Mode ist nicht nur Ausdruck individueller, sondern auch kollektiver Identität: Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft, eine Momentaufnahme. Was also erfahren wir über unser Denken und Handeln, wenn wir das Phänomen näher untersuchen?
Die hohe Kunst des Verdrängens
Dass die Kleidung, die wir tagtäglich tragen, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus Asien stammt, dürfte niemanden überraschen; die Art und Weise, wie in Billigproduktionsländern wie China, Indien und Bangladesch produziert wird, wohl auch nicht – nämlich unter umweltbelastenden, inhumanen und lebensbedrohlichen Bedingungen. Der Einsatz gefährlicher Chemikalien, Hungerlöhne, selbst Kinderarbeit stehen auf der Tagesordnung. Konsumieren wir deshalb weniger? Nein, nachweislich hat sich die Textilproduktion zwischen 2000 und 2014 weltweit verdoppelt. Seit der Jahrtausendwende boomt die sogenannte fast fashion. Zu den Konzernen, die am meisten von dieser Entwicklung profitier(t)en, zählen insbesondere H&M und Zara.1
Ein Lichtblick stellt allerdings eine rezent vom Umweltministerium in Auftrag gegebene und von TNS Ilres durchgeführte Umfrage dar, die darauf hinweist, dass das Bewusstsein für nachhaltigere Mode und Secondhand in Luxemburg gestiegen ist. Laut der Umfrage kaufe oder benutze jede*r zweite*r Bürger*in gebrauchte Ware. Als beliebteste Produkte gelten Kleidung, Schuhe und andere Accessoires.2 Darüber hinaus öffnen immer mehr Secondhand-Läden ihre Türen in Luxemburg-Stadt, zuletzt ein Pop-up-Store der Caritas, der zusätzlich als Informationsstelle fungieren soll.
Höher, schneller, weiter?
Das Credo der Textilindustrie von morgen könnte demnach lauten: hochwertiger, nachhaltiger, weniger. Neben dem Aspekt der Modeproduktion und des -konsums spielt jedoch noch eine ganz andere Dimension eine Rolle im vorliegenden Dossier. Um sich vage an Jean-Louis Zeiens Beitrag anzulehnen, machen Leute Kleider und Kleider Leute. In diesem Sinne referieren unsere Autor*innen in diesem Monat mehrfach auf die gleichnamige Novelle des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller. Ihr Inhalt, und auch die Redewendung an sich, gilt heute genauso wie vor 150 Jahren. Die äußere Erscheinung eines Menschen beeinflusst unsere Wahrnehmung, unser Bild von ihm. Die Art und Weise, wie sich jemand kleidet, nehmen wir bewusst und unbewusst wahr. Anhand des Visuellen beginnen wir, unsere Mitmenschen zu kategorisieren und in bestimmte Schubladen zu stecken: Der Anzugträger ist Bänker, die Frau mit Schürze und Gummihandschuhen Putzfrau, der*die junge Erwachsene mit Irokese arbeitslos und der*die Dicke selber schuld.
Die Macht der Norm
Ein soziales Problem, das im Interview mit Influencer Yaya van Chique anklingt, bei dem es aber sicherlich noch einer breiteren Diskussion in Luxemburg bedarf, ist der sogenannte Lookismus. Hierbei handelt es sich um die Stereotypisierung, Diskriminierung und Hierarchisierung von Menschen aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes. Unsere Recherchen ergaben, dass man im Großherzogtum bisher nur über wenige handfeste Daten zu diesem Phänomen verfügt, obwohl die Debatte seit mehreren Jahren vor sich hin köchelt. Lediglich das sogenannte Observatoire des discriminations aus dem Jahr 2020 hält fest, dass 22 % der Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der apparence physique standen.3 Der Mangel an Statistiken ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Centre pour l’égalité du traitement (CET) sich nur um jene Diskriminierungsmotive kümmern kann und darf, welche vom Gesetzgeber klar definiert sind, also: Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Religion und Alter. Während in den Vereinigten Staaten oder Teilen Australiens Diskriminierung aufgrund des Aussehens beispielsweise im professionellen Rekrutierungsprozess verboten ist, ist dies in Luxemburg nicht explizit strafbar.
Nichtsdestotrotz sollte man, unabhängig davon, ob nun eine strafrechtliche Verfolgung gewährleistet ist oder nicht, nicht aus dem Blick verlieren, dass Diskriminierungsformen auch auf intersektionaler Ebene in Erscheinung treten können. Die Kultur- und Justizministerin Sam Tanson ging im März 2019 mit an ihre ministerielle E-Mail- sowie Postadresse gesandte Nachrichten von Kritiker*innen an die Öffentlichkeit, in denen man sie wegen ihres grauen Kurzhaarschnitts und diverser Outfits beleidigte. Auf die Nachfrage von forum, wie sie diese Geschehnisse in der Rückschau bewerte, reagiert die grüne Staatsfrau im Gegensatz zu jenen, die ihr ein relooking empfahlen, sachlich und kommt nicht umhin, einen gewissen gender bias in Bezug auf die Problematik festzustellen. Es sei kaum bestreitbar, dass insbesondere Frauen oder wie in ihrem Fall weibliche Politiker*innen wegen Äußerlichkeiten angefeindet würden und man sich allzu schnell mit verqueren mutmaßlichen Verbindungen zwischen Kompetenz und Aussehen konfrontiert sähe. Für sie steht fest: „Was ich auch weiterhin anprangern werde, ist, dass bestimmte Grenzen überschritten werden. Diese Grenzüberschreitung findet meiner Auffassung nach dann statt, wenn jemand für etwas beurteilt wird, für das er oder sie gerade überhaupt nicht zur Disposition steht. Ich bin nicht in die Politik gegangen, um an Modewettbewerben teilzunehmen, sondern um Dinge zu bewegen. Ich höre mir bereitwillig jedwede Kritik an meiner politischen Arbeit an, ich akzeptiere jedoch weder Beleidigungen noch Aggressionen.“
Obwohl Lookismus in Luxemburg bislang nicht messbar ist, scheint das Phänomen in den vergangenen Jahren, in Kombination mit body- und slutshaming auf offener Straße oder im Netz, zugenommen zu haben. Am Beispiel Tanson lässt sich zweifellos feststellen, dass es in Luxemburg keine extravaganten, provokanten Fleisch-Roben à la Lady Gaga braucht, um die Gemüter zu erhitzen. Hier reichen anscheinend schon Blümchenmuster und graue Haare, um als Person abgelehnt oder sogar (verbal) angegriffen zu werden. Solche Reaktionen demonstrieren die wahre Macht der Mode, die nicht nur über unser Selbstwertgefühl entscheidet, sondern über unseren Stellenwert in der Gesellschaft, unseren Erfolg oder Misserfolg in der Welt.
Überblick
In ihrem Beitrag erzählt Meisterschneiderin Anne Bauler, wie sie zu ihren textilen Wurzeln zurückkehrte, obwohl sie zunächst in einem anderen Bereich tätig war. Sie berichtet von ihrem (Um-)Weg ins Handwerk und von der immensen Bedeutung der Flexibilität: Als Selbstständige hat sie sich verschiedene Standbeine aufgebaut, um selbst in Krisenzeiten über die Runden zu kommen. Denn noch sei in Luxemburg die Nachfrage nach maßgeschneiderter Kleidung zu gering, so die maître couturière.
Ihre Kolleginnen Céline Bijleveld und Anabela Menezes kennen sich ebenfalls bestens in diesem Metier aus. Im Kurzinterview erklären die Schneiderinnen jeweils, welchen Stellenwert fair fashion für sie einnimmt, wovon sie sich inspirieren lassen und wie es sich als Damenschneiderin anfühlt, Filialen internationaler Modeketten zu betreten.
Nachhaltig und fair geht es mit einem Artikel von Jean-Louis Zeien weiter: Der hiesige Fairtrade-Präsident begibt sich auf die Suche nach „der billigsten Nadel“ der Welt und wird in Billigproduktionsländern wie Bangladesch und Indien – neuerdings auch Äthiopien – fündig. In diesem Zusammenhang geht er auf die Tragödie um das Fabrikgebäude Rana Plaza in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka ein, welches 2013 einstürzte. 1.136 Arbeiter*innen kamen dabei ums Leben. Acht Jahre später sei Rana Plaza immer noch ein Symbol für all das, was in den internationalen Lieferketten falsch laufe, schreibt Zeien, und stellt dabei in Frage, ob die Tragödie tatsächlich ein Weckruf für die (Textil-)Industrie gewesen sei.
Über fast und fair bzw. slow fashion sprachen wir zudem mit dem luxemburgischen Influencer Yaya van Chique. Trends wurden dabei jedoch nur am Rande thematisiert. Vielmehr geht es in dem Gespräch um Schönheitsempfinden, Mode, Macht und Menschen – und um unser Selbstwertgefühl, das von Kleidung gestärkt oder aber auch völlig zerstört werden kann.
Mitbegründerin des luxemburgischen Modelabels vol(t)age Claudie Grisius begreift Mode als ersten Schritt zur Selbsttherapie. In ihrem „Manifest“ entwickelt sie philosophische und kosmopolitische Gedanken und berichtet von unvergesslichen Erlebnissen aus Kindertagen, die erst durch das Tragen bestimmter Textilien entstanden sind. So sind die Sportsocken, die sie als Mädchen so mochte, für sie bis heute ein Sinnbild der Aufregung, der Energie und des Elans. Diese ekstatischen Emotionen versucht sie über das Medium Mode auf ihre Kund*innen zu übertragen. Empowerment lautet hier das Stichwort.
Für Diskussions-Stoff sorgt Anne Schaafs Rezension über die Netflix-Serie Worn Stories. Selbst – oder vielleicht sogar besonders – Modemuffeln legt Schaaf diese Doku-Serie ans Herz. Denn, wie sich Menschen über ihre äußeren Hüllen unterhalten, sage weit mehr über eine Gesellschaft aus, als man vielleicht annehmen könnte, ist die Autorin überzeugt.
Auch die „äußeren Hüllen“, in die wir unsere Haustiere stecken, sagen einiges über uns Menschen aus. Auf Instagram und Co. werden Katzen, Hunde, selbst Schweine mit modischen Outfits und Accessoires als Influencer*innen inszeniert. woxx-Journalistin Isabel Spigarelli hinterfragt, was passiert, wenn wir menschliche Schönheitsideale auf Tiere projizieren und letztere zu fleischgewordenen Accessoires werden.
Im krassen Gegensatz zur schnelllebigen Welt der Social-Media-Trends steht ein historischer Abriss über Luxemburgs Textilwirtschaft von Paul Ewen, Mitglied der Amis du Vieux Larochette. In Fels wurde diese in den 1980er Jahren – nach über 640 Jahren ununterbrochener Produktion – schließlich eingestellt. Es versteht sich demnach von selbst, dass die Industrie den Ort maßgeblich prägte und es, wenn nun auch auf eine andere Art und Weise, immer noch tut. Erst vor Kurzem wurde beschlossen, das dort ansässige Textilmuseum zu erweitern und aufzuwerten. D’Textilindustrie vu Gëschter a vun Haut heißt das Konzept, das gemeinsam mit Fairtrade Luxembourg, der Gemeinde Fels und Besitzer Georges Ginter ausgearbeitet wurde und u. a. die Folgen von fast fashion und Konsum beleuchten soll.
Historische und soziokulturelle Perspektiven bietet Nathalie Roelens’ Beitrag über die unbezähmbare Vitalität der Kleidung. Die Professorin für Literaturtheorie an der Universität Luxemburg geht dabei – von Mallarmé bis Barthes – auf die fließenden, formvollen, schwebenden, schwindelerregenden sowie erotischen Eigenschaften von Mode ein.
Von einem Exkurs über „das, was wir Seele nennen“ wird das Dossier schließlich abgerundet. Modedesignerin Esther Haller schildert, warum sie im Rahmen ihrer Bachelorarbeit ausgerechnet Totengewänder entwarf. Haller legt dar, wie der „banal gedachte Begriff der Bekleidung im wahrsten Sinne des Wortes zum Ausdruck existenzieller Überlegungen“ wird und stellt Leben und Tod, Geist und Materie einander gegenüber. So ist der Körper an sich am Ende mit nichts anderem als einem letzten modischen Gewand gleichzusetzen, welches es zu überwinden gilt.
- https://greenwire.greenpeace.de/system/files/2019-04/s01951_greenpeace_report_konsumkollaps_fast_fashion.pdf (letzter Aufruf: 27. Oktober 2021).
- https://environnement.public.lu/fr/actualites/2021/10/reemploi-tns.html (letzter Aufruf: 27. Oktober 2021).
- https://cet.lu/wp-content/uploads/2020/12/Observatoire2020-Rapport-FR.pdf (letzter Aufruf: 27. Oktober 2021).
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
