Warum Demokratien „Call-outs“ brauchen

Demokratien sind auf Menschen angewiesen, die soziale Ungerechtigkeiten benennen und bekämpfen. Dass ein solches Engagement sich keiner großen Beliebtheit erfreut, wird nicht zuletzt an der sogenannten „Call-out-culture“ deutlich.

„The Problem with Call-Out-Culture“, „Why call-out culture is Presumptuous & Damaging“, „The cruelty of Call-out-Culture“ – wenn in den letzten Jahren in den Medien von der sogenannten „Call-Out-Culture“ die Rede war, dann meist auf eine negative Weise. Doch worum handelt es sich bei diesem recht neuen Phänomen überhaupt? Und worauf bezieht sich die negative Bewertung? Ein „Call-out“ besteht darin, jemanden darauf hinzuweisen, dass sein Verhalten oder sein Sprachgebrauch in irgendeiner Weise diskriminierend ist.1 Letzteres kann darauf zurückzuführen sein, dass die Person oder Institution es einfach nicht besser wusste, es kann aber auch daran liegen, dass sie etwa offen rassistisch oder sexistisch ist. Und so erfordert jeder Fall eine etwas andere Art von „Call-out“.

Je nachdem, wie er artikuliert wird, ist ein „Call-out“ eine kurze Zurechtweisung („diese Formulierung ist rassistisch“), es kann sich aber auch um eine längere Diskussion handeln, bei welcher argumentiert wird, weshalb die jeweilige Handlung oder Aussage diskriminierend ist. Meistens wird dann von „Call-out“ gesprochen, wenn dies in den sozialen Netzwerken passiert. Im Gegensatz zu einem Privatgespräch, hat dies den Vorteil, dass viele Menschen gleichzeitig erreicht werden können. Was sich, laut dieser Beschreibung, nach einem sinnvollen und unentbehrlichen Teil einer funktionierenden Demokratie anhört, ist mittlerweile eine Praktik, der Menschen des gesamten politischen Spektrums mit Skepsis oder gar Abneigung gegenüber stehen. Hier stellt sich die spannende Frage, durch welche Argumente dieser pessimistische Diskurs rund um „Call-Out-Culture“ gefüttert wird und weshalb diese soviel Anklang finden.

Zu „woke“?

Um das Phänomen unter die Lupe zu nehmen, bietet es sich an, auf eine rezente, prominente Wortäußerung zu diesem Thema einzugehen, die repräsentativ ist für die Kritik, die häufig an „Call-outs“ geäußert wird. Etwas mehr als zwei Monate ist es her, dass eine Videoaufnahme des früheren US-Präsidenten, Barack Obama, im Internet veröffentlicht wurde. Dieser hatte seinen Auftritt beim Gipfel der Obama Foundation zum Thema Jugend-Aktivismus dazu genutzt, um Kritik an der „Call-Out-Culture“ zu üben.

„This idea of purity and you’re never compromised and you’re always politically ‚woke’ and all that stuff. You should get over that quickly. The world is messy. There are ambiguities.“ Er bezog sich damit spezifisch auf das Verhalten junger Menschen in den sozialen Medien. „Like, if I tweet or hashtag about how you didn’t do something right or used the wrong verb,“ so Obama, „then I can sit back and feel pretty good about myself, cause, ‚Man, you see how woke I was, I called you out.’“ Das reiche allerdings nicht aus, um sich als Aktivist*in bezeichnen zu können. „There is this sense sometimes of: ‚The way of me making change is to be as judgmental as possible about other people.’“

Im ersten zitierten Satz macht Obama die Zielgruppe seiner Kritik unmissverständlich deutlich. „Woke“ (wörtlich übersetzt: wachsam) ist eine umgangssprachliche Bezeichnung, mit Wurzeln im afroamerikanischen Englisch, die laut Merriam-Webster-Dictionary eine Person beschreibt, die sich bewusst mit Fakten und Problematiken im Bereich der sozialen Gerechtigkeit auseinandersetzt. Generell wird das Wort also zur Beschreibung progressiv eingestellter Menschen benutzt, denen an einer gerechteren Welt gelegen ist. Eine Person, die „woke“ ist, bemüht sich, diskriminierende Haltungen zu „ent-lernen“, die von klein auf verinnerlicht wurden, sich ihre eigenen Privilegien bewusst zu machen und diskriminierende Sprache und Verhaltensweisen als solche zu erkennen. Es ist ein Lernprozess, der nie völlig abgeschlossen ist. Die Vorstellung unfehlbar zu sein, steht also diametral zur Definition von „woke“.

„Woke“ Menschen setzen „Call-outs“ ein, um andere für Social-Justice-Problematiken zu sensibilisieren und ihnen dabei zu helfen zu erkennen, wie ihr Verhalten oder ihr Sprachgebrauch diskriminierende Gesellschaftsstrukturen reproduziert. Es geht nicht um „verbs“, wie Obama banalisierend sagt, sondern um Menschenrechte. „Woke“ zu sein, heißt nicht, seine Mitmenschen in „dumm“ und „aufgeklärt“ zu unterteilen, sondern vielmehr, Menschen insgesamt als lernfähig wahrzunehmen. Jemand, der tatsächlich „woke“ ist, sollte also kein Problem damit haben, selbst von anderen auf diese Weise zur Rede gestellt zu werden. Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen – abwertend gerne „Social-Justice-Warriors“ genannt – wird oft unterstellt, durch ihr Engagement nur arrogant ihre eigene moralische Überlegenheit defilieren zu wollen. An keiner Person wird dies besser deutlich als an Greta Thunberg, deren schiere Existenz als prominente Klimaaktivistin blanken Hass hervorzurufen vermag.

Auch wenn eine solche pauschale Diskreditierung „woker“ Menschen nicht berechtigt ist, so bedeutet das nicht, dass das Gefühl moralischer Unantastbarkeit, das manche Progressive hegen, einfach ignoriert werden sollte. Haltungen wie „Ich bin kein*e Rassist*in, also kann auch nichts, das ich tue oder sage, rassistisch sein“ oder „Ich habe das nicht sexistisch gemeint, also ist es auch nicht sexistisch“, sind bedenklich, verhindern sie doch eine kritische Selbsthinterfragung. Ähnlich verhält es sich mit Menschen, die so sehr auf die privilegierte Stellung anderer fokussiert sind, dass die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien ausbleibt.

Unendlicher Spaß

Das positive Gefühl, das Obama beschreibt, dürfte allerdings die traurige Ausnahme darstellen. Ein „Call-out“ ist meist eine längere Diskussion, die oft keinen positiven Ausgang hat. Im schlimmsten Falle wird auf den oder die Zurechtweisende mit Beleidigungen, Belästigungen oder gar Gewalt- oder Mordandrohung reagiert. Das wird in Kauf genommen, um sich für eine gerechtere Welt einzusetzen. Für die allermeisten Menschen ist es wohl bequemer, bei einer Ungerechtigkeit nichts zu sagen als einzugreifen. In Anbetracht dessen zeugt ein „Call-out“ in vielen Fällen von Zivilcourage.
Die Erfahrung kann aber noch aus anderen Gründen negativen Stress bewirken: Jedem „Call-out“ geht eine Diskriminierung und demnach auch eine Verletzung voraus. Besonders wenn der „Call-out“ von einer oder einem Betroffenen ausgeht (also beispielsweise eine schwarze Person auf einen rassistischen Tweet hinweist), können mit ihm äußerst negative Gefühle einhergehen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Verantwortung von „Call-outs“ nicht nur Betroffenen zu überlassen: Auch Weiße sollten auf Rassismus, Heterosexuelle auf Homophobie, Dünne auf Fat Shaming, cis Personen auf Transfeindlichkeit, normschöne Menschen auf Lookismus, Menschen ohne Behinderung auf Ableismus oder Christ*innen auf Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit hinweisen. Leider gilt immer noch die traurige Realität: Charakteristischerweise werden „Call-outs“ von Nicht-Betroffenen ernster genommen als solche von Betroffenen. Hier liegt, abgesehen von der Sichtbarkeit, ein weiterer Vorteil öffentlicher „Call-outs“: Beschließt eine Person, sich aus Selbstschutz aus der Diskussion zurückzuziehen, kann sogleich eine andere weitermachen.

Die berechtigte Wut über soziale Ungerechtigkeit kann, muss aber nicht, zu einem aggressiven Tonfall führen. Manche fühlen sich infolge dessen mit etwas konfrontiert, das im Englischen als „Tone Policing“ bezeichnet wird. Es ist ein weit verbreitetes Pseudoargument, dass ein „Call-out“ mehr oder weniger angebracht ist, je nachdem wie sich der oder die Zurechtweisende dabei fühlt und ausdrückt. Es reiht sich ein in die Tendenz, soziales Engagement an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Wenn beispielsweise gefordert wird, dass ein „Call-out“ nur dann sinnvoll ist, wenn sachlich und ruhig diskutiert und einwandfrei argumentiert wird, dann ist das eine Form von „Silencing“: Die Schwelle, um sich an einer Debatte beteiligen zu können, wird derart hoch angesetzt, dass nur die Allerwenigsten sie erreichen können. Mit dem Resultat, dass kritisch Denkende zum Schweigen gebracht werden.

Bezeichnenderweise wird in Diskussionen rund um „Call-out-culture“ mehr darüber gesprochen, was die Zur-Rede-Stellenden anders machen müssten, als darüber, wie diejenigen reagieren sollten, an die der „Call-out“ gerichtet ist – aufmerksam zuhören, sich entschuldigen oder sich informieren, falls man die vorliegende Problematik nicht versteht, sind nur einige der bestehenden Optionen. Und bezeichnenderweise wird mehr Kritik an „Call-outs“ geübt als an der sozialen Ungerechtigkeit, gegen die sie sich richten.

Nie gut genug

Gründe dafür, dass sich mittlerweile eine Kultur des „Call-outs“ gebildet hat, gibt es viele. Junge Menschen sind heutzutage überdurchschnittlich gut für unterschiedliche Diskriminierungsformen sensibilisiert. Hinzu kommt die Wirkung des Internets allgemein und der sozialen Medien im Speziellen: Einerseits sind problematische Haltungen, die vorher eher im privaten Raum geäußert wurden, durch Twitter und Co. viel sichtbarer geworden. Andererseits kann Gegenrede nun von einer breiten Öffentlichkeit miterlebt werden, mit dem Resultat, dass sich heutzutage viele durch Diskussionen in den sozialen Netzwerken politisieren.

Die Behauptung, „Call-outs“ würden nicht ausreichen, um sich als Aktivist*in zu bezeichnen, ist vergleichbar mit der Aussage: Sich mit einem Schild auf die Straße zu stellen reicht nicht aus, um sich als Aktivist*in zu bezeichnen: Sie schafft eine unnötige Dichotomie zwischen „richtigem“ und „falschem“ Engagement, zwischen Kontexten, in denen es in Ordnung ist, sich gegen Diskriminierung einzusetzen und solchen, wo es das nicht ist. Und diesbezüglich scheint der Konsens zu herrschen, dass Online-Aktivismus eigentlich nicht wirklich zählt.

Um aber kurz beim Vergleich zwischen Demonstrationen und „Call-outs“ zu bleiben: Letztere sind eine unangenehmere Form von Engagement, weil es schwieriger ist, sich ihnen zu entziehen. In den sozialen Medien oder auf Youtube kann potenziell jede*r kritisiert werden und die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene problematische Verhalten Konsequenzen hat, ist größer. Eine Demo ist dagegen leicht zu ignorieren, wenn man will. Anhand des Hashtags MeToo wird aber deutlich, dass sozialer Widerstand unangenehm sein muss, um etwas zu bewirken: Viele Männer fühlen sich durch die Bewegung überrumpelt und missverstanden. Die Konsequenz ist jedoch, dass sich Frauen nun tendenziell sicherer fühlen können.

Dennoch ist die Macht, die von „Call-outs“ ausgeht, schwindend gering. In Fällen, wo sich ein regelrechter Shitstorm bildet, werden meist Konzerne oder Menschen mit viel Sichtbarkeit und Macht kritisiert, Instanzen also, die über die Mittel verfügen, um damit umgehen zu können. Solche Shitstorms kommen davon abgesehen nicht von ungefähr, üben doch gerade Großkonzerne und berühmte Menschen einen großen Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs aus – wegzuschauen wäre da unverantwortlich.

Für alle anderen, die mit „Call-outs“ konfrontiert sind, gilt: Wer seine Meinungen öffentlich kommuniziert, muss auch in Kauf nehmen, öffentlich dafür kritisiert zu werden. Da es bei „Call-outs“ aber immer auch um die Kritik an gesellschaftlichen Machtstrukturen geht, sollte von Fall zu Fall abgewogen werden, ob es angebracht ist, Menschen, die weniger privilegiert sind als man selbst, öffentlich zur Rede zu stellen. Beschämung, Klassismus oder Victim Blaming sind jedenfalls nicht Sinn der Sache. Ein Beispiel für letzteres konnte man in Luxemburg letzten März erleben, als eine erwachsene Frau eine junge Schülerin öffentlich dafür kritisierte, dass „Fuck me, not the Planet“ auf ihrem Demo-Schild stand.2

Wie Obama richtig zum Ausdruck brachte: „The world is messy“. Und wie nicht anders zu erwarten, trifft dies ebenso auf Online-Aktivismus zu. Die Frage, wie konstruktives Engagement gestaltet werden kann oder sollte, stellt sich also durchaus. Was in Obamas Vortrag und im gesamten Diskurs rund um „Call-out-Culture“ aber fehlt, ist Wertschätzung gegenüber Online-Aktivist*innen. Sie kämpfen einen wichtigen Kampf. Und eine demokratische Gesellschaft kann es sich nicht leisten, sie zu vergraulen.

  1. Auch wenn es keine offizielle Übersetzung des Begriffs ins Deutsche gibt, so bedeutet er sinngemäß, jemanden zur Rede zur stellen.
  2. https://www.woxx.lu/polemik-fick-mich-nicht-den-planeten (letzter Aufruf: 17. Dezember 2019)

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