Warum wir beim Tiere Essen nicht an Tiere denken

Über die Psychologie des Fleischkonsums

Jeden Tag beteiligen wir uns an einem Verhalten, das im kompletten Gegensatz zu dem steht, wie wir eigentlich im Idealfall handeln würden. Jeden Tag beteiligen wir uns an einem Verhalten, das von uns verlangt, dass wir unsere Gedanken verzerren, unsere Gefühle betäuben und gegen unsere Grundwerte handeln.

Und jeden Tag könnten wir uns dazu entscheiden, nicht mehr an diesem Verhalten teilzunehmen. Jedoch realisieren wir nicht, dass dieses Verhalten irrational ist. Wir sehen nicht seinen destruktiven Charakter. Und wir wissen noch nicht einmal, dass wir eine Wahl haben. Wie kann es sein, dass eine der häufigsten und wichtigsten Entscheidungen, die wir treffen, überhaupt nicht wie eine Entscheidung aussieht?

Diese Fragen haben nicht nur mich, sondern bereits eine ganze Reihe an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beschäftigt, die sich mit dem Essen von Tieren auseinander gesetzt haben. Eine der Pioniere auf diesem Gebiet ist die amerikanische Sozialpsychologin Dr. Melanie Joy. Die Harvard-Absolventin hat über zwei Jahrzehnte in diesem Bereich geforscht und dabei Erstaunliches herausgefunden über unser Verhalten zu anderen Tieren, besonders zu jenen, die wir essen.

Das Ergebnis ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist die Erkenntnis, dass es eine gesellschaftliche Prägung gibt, die sowohl unser Verhalten lenkt als uns auch daran hindert, die Irrationalität dieses Verhaltens, sowie dessen Grausamkeit zu erkennen. Die gute Nachricht jedoch: Indem wir uns dieser Prägung einfach nur bewusst werden, können wir unsere Entscheidungsfreiheit zurück erlangen. Und aktiv an der Gestaltung einer humaneren und gerechteren Welt mitarbeiten.

Wir lieben Tiere … und essen sie

Viele von uns wachsen mit Haustieren auf. Sie werden Teil unserer Familie, zu besten Freunden. In unserem Kulturkreis gibt es fast keinen Menschen, der sich nicht mindestens an ein Tier zurück erinnern kann, zu dem er oder sie Zuneigung empfunden hat. Für manche ist es der Hund oder die Katze, mit
denen sie aufgewachsen sind. Für andere ein verletzter Vogel, den sie gepflegt haben oder das Meerschweinchen in ihrem Klassensaal. Für mich war es Micky, der Hund mit dem ich als Kind aufgewachsen bin. Wir haben praktisch jeden Tag miteinander verbracht, sei es draußen beim Spielen oder drinnen beim Faulenzen. Micky hat in meinen Armen geschlafen, mit mir lange Spaziergänge gemacht und im Garten von mir kleine Tricks gelernt. Viele von uns pflegen ähnliche Freundschaften zu Tieren. Es zeigt, dass uns Tiere nicht egal sind und dass wir uns um ihr Wohlbefinden sorgen. Wir bringen unseren Kindern bei, Tieren nicht weh zu tun. Die unzähligen Tiervideos im Internet lassen unsere Herzen aufgehen. Wir regen uns auf, wenn wir von Tierquälerei erfahren. Wir zeigen ihnen gegenüber Einfühlungsvermögen: Wir teilen ihre Freude, ihre Angst, ihre Trauer.

Wie kann es also sein, dass wir einerseits viele Tiere lieben und als Familienmitglieder betrachten und andererseits täglich Millionen Tiere für unseren Konsum töten? Die Erklärung ist so einfach wie verblüffend. Stellen Sie sich vor, dass Sie Gast bei einem Abendessen sind und die Gastgeberin ist berühmt für ihre Lasagne Bolognese, die sie Ihnen dann auch auftischt. Stellen Sie sich vor, dass Sie die Lasagne so lecker finden, dass Sie die Gastgeberin nach dem Rezept fragen. Und geschmeichelt sagt diese Ihnen: „Nun das Geheimnis liegt im Fleisch. Man benötigt dazu etwa 500 Gramm besonders zartes Golden-Retriever-Hundefleisch.“ Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um über Ihre Gedanken und Gefühle nachzudenken. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass das, was Sie eben noch als Essen wahrnahmen, jetzt als ein totes Tier wahrnehmen. Was Sie eben noch als lecker empfanden, finden Sie nun ekelhaft. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich ihre Wahrnehmung des Fleisches, das vor ihnen auf dem Teller liegt, radikal geändert hat, obwohl das Fleisch an sich das gleiche ist. Unsere Wahrnehmung also funktioniert wie eine Brille, durch die wir die Welt betrachten. Und wenn es um das Thema Tiere essen geht, dann ist unsere Wahrnehmung größtenteils, wenn nicht komplett von unserer Kultur bestimmt.

Aus 7 Millionen Tierarten erachten wir
nur eine Handvoll als essbar

Global gibt es rund 7 Millionen verschiedene Tierspezies. In Fleisch essenden Kulturen rund um die Welt neigen Menschen jedoch dazu nur eine kleine Hand voll dieser Tierarten als essbar einzustufen. Alle anderen Tiere erachten sie als nicht essbar und deren Konsum deswegen als abstoßend. Die Frage hierauf ist also: Warum empfinden wir keinen Ekel bei den Tieren, die wir gelernt haben als essbar einzustufen?

Den Großteil meines Lebens habe ich meine Entscheidung, Schweine, Kühe, Hühner und Fische zu essen nie wirklich in Frage gestellt, weil mir noch nicht einmal bewusst war, dass ich eine Wahl habe. Niemand hat mich je gefragt, ob ich davon überzeugt war, Tiere zu essen. Ich habe also nie darüber nachgedacht, wie seltsam es doch eigentlich ist, dass ich mit einer Hand meinen Hund streicheln konnte, während ich mit der anderen z.B. Schweinefleisch aß; Fleisch das einst zu einem Tier gehörte, das mindestens genau so intelligent, empfindsam und sich seiner selbst bewusst war wie mein Hund. Und ehrlich gesagt wollte ich auch nicht über diesen Widerspruch nachdenken. Es war einfach leichter, es nicht zu tun.

Irgendwann konnte ich es aber nicht mehr verdrängen. 2010 war ich auf Hof Butenland, einem Lebenshof für gerettete Nutztiere in Norddeutschland. Öber die Schicksale jedes einzelnen dieser Tiere zu lernen hat etwas in mir verändert. Und plötzlich wollte ich verstehen, wie es sein konnte, dass rational denkende und mitfühlende Menschen wie ich Tiere essen. Die Forschungsarbeiten von Dr. Melanie Joy lieferten mir dann die Antwort.

Karnismus: Zum Tiere essen erzogen

Melanie Joy zufolge ist der Verzehr von Tieren in ein Öberzeugungssystem (bzw. Ideologie) eingebettet. Dieser Ideologie gab sie den Namen Karnismus. Wir neigen meist dazu anzunehmen, dass nur vegetarisch und vegan lebende Menschen einer Ideologie nachgehen. Aber wenn das Essen von Tieren keine Notwendigkeit ist, was der Fall für die meisten Regionen dieser Erde ist, dann ist deren Verzehr eine Entscheidung. Und Entscheidungen beruhen immer auf Öberzeugungen.

Karnismus ist dabei einerseits eine dominierende Ideologie. Dies bedeutet, dass sie so weit verbreitet ist, dass uns ihre Doktrin eher als eine Gegebenheit anstatt als eine Entscheidung vorkommt. Und andererseits ist Karnismus eine gewaltvolle Ideologie. Fleisch kann nicht ohne das Töten von Tieren hergestellt werden. Widersprüchlicherweise stehen diese Ideologien im krassen Gegensatz zu den Grundwerten der meisten Menschen, wie Mitgefühl, Gerechtigkeit und Authentizität. Deswegen müssen sie gewisse psychologische und soziale Abwehrmechanismen benutzen, die unsere Gedanken verzerren und unsere Gefühle betäuben, so dass wir gegen unsere Grundwerte handeln, ohne dass wir dabei vollständig realisieren, was wir gerade tun.

Der erste Abwehrmechanismus ist Unsichtbarkeit. Weltweit werden rund 1,2 Milliarden Nutztiere pro Woche getötet. Das sind in einer Woche mehr Tiere als Menschen in unserer gesamten Geschichte in sämtlichen Kriegen getötet wurden. In Luxemburg gibt es rund dreimal mehr Nutztiere als Menschen. Die meisten von uns bekommen jedoch (mit Ausnahme von ein paar Kühen) keines dieser Tiere je lebend zu Gesicht. Ihre Körperteile umgeben uns jedoch praktisch andauernd: Luxemburg hat den weltweit höchsten Pro-Kopf-Fleischkonsum. Warum sehen wir sie also niemals lebendig? Weil wir sie nicht sehen sollen. Auch in Luxemburg kommt der Großteil der Fleisch-, Eier- und Milchprodukte aus Massentierhaltung.

Unsichtbarkeit allein reicht natürlich nicht aus. Hinweise auf die Wahrheit umgeben uns praktisch andauernd. Also braucht Karnismus einen weiteren Abwehrmechanismus: Rechtfertigung. Diese geschieht hauptsächlich über das, was Dr. Melanie Joy die drei Ns der Rechtfertigung nennt: Tiere essen ist normal, natürlich, notwendig. Interessanterweise wurden die gleichen Rechtfertigungsstrategien benutzt, um andere dominierende und gewaltvolle Ideologien in der Menschheitsgeschichte zu ermöglichen: Sklaverei ist normal, natürlich, notwendig. Männliche Dominanz ist normal, natürlich, notwendig. Heterosexuelle Privilegierung ist normal, natürlich, notwendig. Ein Beispiel für diese Rechtfertigung ist zum Beispiel der längst wissenschaftlich widerlegte Glaube, als vegan lebender Mensch bekomme man nicht ausreichend Protein. Oder die Aussage, wir hätten schon immer Fleisch gegessen und deswegen dürften wir es auch heute.

Und wenn wir in ein System wie Karnismus hineingeboren werden, dann verinnerlichen wir ihn automatisch. Wir lernen die Welt durch die karnistische Brille zu betrachten. Der dritte Abwehrmechanismus besteht deswegen darin, unsere Wahrnehmung zu verzerren. Zum Beispiel lernen wir, Tiere in essbar und nicht essbar zu klassifizieren. Und wir lernen, Nutztiere nicht als Individuen mit eigener Persönlichkeit, sondern als Dinge zu betrachten.

Karnismus, Rassismus, Sexismus?

Voltaire sagte mal: Wer dich dazu veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch dazu veranlassen, Gräueltaten zu begehen. Und Karnismus ist nur eine dieser vielen Gräueltaten, eine dieser vielen gewaltvollen Ideologien, die leider Teil unserer Geschichte sind. Und obwohl die Erfahrungen jeder einzelnen Opfergruppe immer einzigartig und nicht vergleichbar sind, so sind die Ideologien dahinter dennoch strukturell ähnlich; die Mentalität, die diese Gewalt auslöst, ist die gleiche.

Es ist die Mentalität von Dominanz und Unterwerfung, von Priviligierung und Unterdrückung. Es ist die Mentalität, die uns dazu bringt, einen Jemand in ein Etwas zu verwandeln, ein Leben auf eine Produktionseinheit zu reduzieren, die Existenz von jemandem komplett auszulöschen. Es ist die Macht geht vor Recht Mentalität, die uns dazu auserkoren fühlen lässt, komplette Kontrolle über Leben und Tod von denjenigen mit weniger Macht auszuüben, nur weil wir es können. Und uns dabei auch noch gerechtfertigt zu fühlen, denn es sind ja nur: Wilde, Weiber, Schwuchteln, Vieh.

Bereits Leo Tolstoi bemerkte deswegen, dass es Schlachtfelder geben wird, solange Schlachthäuser weiterhin existieren. Denn wenn wir dabei scheitern, die Gemeinsamkeiten, die sich durch all diese gewaltvollen Ideologien hindurchziehen, zu erkennen, werden wir immer wieder Gräueltaten in neuen Formen begehen. Aber wenn wir es schaffen, diese Gemeinsamkeiten zu identifizieren, werden wir in der Lage sein, alle Grausamkeiten in sämtlichen Formen aufzulösen.

Wir haben das Potential, die Welt zu verändern

Dies führt uns nun zu der Frage nach der Lösung für das Problem. Wie können wir ein authentischeres und freieres Leben führen und wirklich nach unseren Grundwerten leben? Die Lösung liegt bereits in Ihren Händen: Bevor Sie mit dem Lesen dieses Artikels begonnen haben, war Ihnen Karnismus wahr-
scheinlich nicht bewusst. Sie konnten die unsichtbare Ideologie, die uns von unserem rationalen Denken, unseren Gefühlen und unseren Grundwerten trennt und eine massive Ungerechtigkeit globalen Ausmaßes auslöst, nicht sehen. Jetzt können Sie es sehen. Jetzt ist es Ihnen bewusst. Ihr Bewusstsein ist der erste Schritt hin zur Lösung. Auf Basis Ihres Bewusstseins zu handeln ist der Rest.

Praktisch jede gesellschaftliche Revolution, jeder soziale Umbruch wurde durch jene ermöglicht, die sich für das Bewusstsein von Leid entschlossen und danach handelten. Denken Sie zum Beispiel an Mahatma Gandhi, Martin Luther King Jr. oder Nelson Mandela.

Die gute Nachricht ist: Es gibt eine Alternative zum Karnismus. Die vegane Bewegung ist eine der am schnellsten wachsenden sozialen Gerechtigkeitsbewegungen der Welt. Und die gute Nachricht ist auch, dass wir geringfügige Veränderungen machen können, die große Auswirkungen haben werden. Wir können unseren Konsum an Fleisch, Milch und Eiern Stück für Stück reduzieren und ihn irgendwann ganz aufgeben. Zu Beginn können wir zum Beispiel ein veganes Gericht pro Tag essen oder an einem Tag in der Woche vegan leben. Und wir können das Bewusstsein für Karnismus stärken. Zum Beispiel indem wir mit unseren Bekannten darüber reden. Hilfe bieten dabei auch die beiden Websites www.karnismus-erkennen.de und www.carnism.org. Somit wird das Bewusstsein für Karnismus bald eine kritische Masse erreichen, was zu einem globalen Paradigmenwechsel führen wird. Wir haben also das Potential, die Welt zu verändern. u

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