Was auf meinen Teller kommt
Einführung ins Dossier
Die Zahl der Hunger leidenden und an Mangelernährung sterbenden Menschen nimmt weltweit von Jahr zu Jahr zu. Im Gegensatz dazu werden in Luxemburg jährlich über 100 Kilo Lebensmittel pro Person einfach weggeworfen. Wer sucht, der findet das Kilogramm Fleisch im hiesigen Supermarkt für weniger als 10 Euro, und im Bioladen kann man importierte Papayas kaufen, die günstiger angeboten werden als Obst aus Luxemburg. Seit Jahrzehnten läuft weltweit viel schief in der Ernährungspolitik. Und nicht erst seit der Coronakrise ist klar, dass sich in dieser Hinsicht in den kommenden Jahren vieles – und das grundlegend – ändern muss. Wenn wir – allen voran die politischen Entscheidungsträger*innen – das Problem ernst nehmen, stehen wir vielleicht vor der größten Wende in der modernen Geschichte des globalen Ernährungssystems.
Europäische Ideen
Am 20. Mai dieses Jahres hat die EU-Kommission ihre Farm-to-fork-Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem vorgestellt (siehe den Beitrag von Jeannette Muller in diesem Heft), die Teil des europäischen Green Deal ist, der wiederum zum Ziel hat, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Dabei gilt es, alle Akteur*innen des Lebensmittelsystems (siehe dazu die Info-Grafik in der Mitte des Heftes) mit ins Boot zu holen: also die Vertreter*innen der Produktion, der Verarbeitung und des Vertriebs, der Entwicklung und Forschung sowie die Konsument*innen. Zeitgleich mit der Farm-to-fork-Strategie veröffentlichte die Europäische Kommission ihre Biodiversitätsstrategie. In beiden Papieren ist eine Reduktion des Einsatzes von Pestiziden bis 2030 um 50 % vorgesehen, im gleichen Zeitraum sollen die ökologisch genutzten Flächen auf 25 % der gesamt genutzten Fläche anwachsen. Der große Haken bei diesen schönen Plänen: Die Strategiepapiere sind nicht bindend und noch zahnlos. Nun gilt es, die Vorschläge u. a. in die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) zu überführen, deren Erneuerung 2021 für die kommenden sieben Jahre ansteht.
Jenseits der großen EU-Politik aber tummeln sich bereits zahlreiche Menschen aus Zivilgesellschaft, Landwirtschaft, Forschung, Lokalpolitik etc., die nicht darauf warten wollen, dass von oben reformiert wird, was von unten schon lange stinkt. Wer die Beiträge in diesem Dossier liest, der erkennt, dass eine Palette an Ideen, Vorschlägen und Visionen vorliegt, wie wir das Ernährungssystem nachhaltiger, ökologischer, fairer, gesünder und resilienter gestalten können. Die Beiträge in unserem Dossier offenbaren Chancen und Potenziale, aber auch Bedenken für eine veritable Reform unseres Ernährungssystems.
Mehr Macht den Räten
In Aufbruchsstimmung befinden sich derzeit die Ernährungsräte. Das sind in der Regel Zusammenschlüsse von Akteur*innen aus Forschung und Zivilgesellschaft, Produktion und Vertrieb sowie bisweilen auch Lokalpolitik und Verwaltung, die ihr Wissen zum Thema austauschen, bündeln und politische Vorschläge für den Umbau des Ernährungssystems entwickeln (siehe zum geplanten luxemburgischen Ernährungsrat den Beitrag von Rachel Reckinger und Norry Schneider sowie zum Konzept der Ernährungsräte im Allgemeinen das Interview mit Anna Wißmann). Ein Beispiel aus unserem Nachbarland Belgien für die Potenziale einer Umstellung des lokalen Ernährungssystems zeigen Delphine Dethier und Elisabeth Gruié in ihrem Artikel über eine Initiative, die sich bereits seit sechs Jahren dafür stark macht, das Lebensmittelsystem in Lüttich und Umgebung nachhaltiger, solidarischer und fairer zu gestalten: die ceinture alimentaire. Was die weltweite Bewegung der Ernährungsräte sowie solche Initiativen wie die aus Lüttich eint, ist die Überzeugung, nicht mehr verzichten zu können auf Relokalisierung der Ernährungsproduktion und damit auf eine stärkere Resilienz des Ernährungssystems – nicht nur, aber vor allem in Krisenzeiten (siehe dazu den Beitrag von Rachel Reckinger). Dass eine lokalere und regionalere Ernährungsproduktion auch klimapolitisch mehr als sinnvoll ist, liegt auf der Hand.
Wenn alles so einfach wäre
Bei der Umstellung des Ernährungssystems gilt es aber auch, die spezifischen Produktionsbedingungen im Auge zu behalten, die sich von Land zu Land anders gestalten. Beispiel Gemüse. Nur 3 % des hiesigen Gemüsebedarfs lässt sich durch luxemburgische Produktion decken. Dass der Anteil erhöht werden müsste, ist klar. Vor welche Herausforderungen dieses Anliegen aber die Gemüsebauern und -bäuerinnen mit spezifischen Bodenbedingungen, die Verbraucher*innen mit ihren Gewohnheiten, die politischen Gestalter*innen vor dem Hintergrund eines immensen internationalen Preisdrucks im Rahmen eines neoliberalen Wirtschaftssystems stellt, zeigt Frank Adams in seinem Beitrag, der daneben aber auch die Potenziale verdeutlicht, die in einer Optimierung des hiesigen Gemüseanbaus liegen. Gerade auf unsere Gewohnheiten zielt der Beitrag der „Lebensmittelretter*innen“ Daniel Waxweiler und Michelle Kleyr ab. Sie decken die Perversionen von Lebensmittelverschwendung auf, zeigen aktivistische Gegenstrategien und haben konkrete Forderungen an die Gesetzgeber*innen. Mathieu Wittmann stellt eine Initiative vor, die interessierten Menschen ganz konkret vor Augen führt, wie sich unser Ernährungssystem gesünder, fairer und resilienter umstellen ließe: eine Fläche von 2.000m2 für unser Essen. An der Schnittstelle von Dossier und Teil 3 des Heftes bringen wir einen Beitrag von Yves Steichen, der sich mit einer ganz besonderen Art der Ernährung auseinandersetzt: dem Kannibalismus (hier glücklicherweise nur in seiner filmischen Repräsentation).
Quo vadis, Ernährungspolitik?
Ein Ziel des geplanten luxemburgischen Ernährungsrates ist die Ausarbeitung einer nationalen Ernährungsstrategie, wie sie Städte wie Köln schon auf lokaler Ebene umgesetzt haben. Natürlich bringen solche groß angelegten und umfassenden Pläne auch Kritiker*innen auf den Plan. Das ist schön und gehört zu unseren demokratischen Spielregeln nicht nur dazu, sondern kann auch dabei helfen, eine Ernährungswende optimal zu gestalten. Je mehr Menschen sich an einer solchen Debatte beteiligen, desto mehr Substanz erhält das von den Ernährungsräten propagierte Schlagwort von der Ernährungsdemokratie. Weil unsere Esstraditionen zu den „eingefleischtesten“ Gewohnheiten gehören, die wir von Kindheit an erlernt haben, provoziert jeder Änderungsvorschlag Widerstand, gar Blockaden. Die deutschen Grünen mussten ein Wahldebakel einstecken, weil sie vorgeschlagen hatten, in öffentlichen Kantinen einen „Veggie-Day“ einzuführen. Unterstellungen wie die der „Ernährungspolizei“ oder der Vorwurf der „grünen Verbotsmentalität“ sind schnell bei der Hand. Indes, solche Angriffe mögen auf biopolitische Fundamentalist*innen zutreffen, die weltweit Rauchverbote durchgesetzt haben, oder auf ein System, wie Julie Zeh es in ihrem Roman Corpus delicti schildert, in dem es eine strafrechtlich geahndete Pflicht zum gesunden Leben gibt. Doch die individuelle Sünde, wenn man so will, spielt in den aktuellen Plänen zur Umstellung unseres Ernährungssystems keine Rolle. Es geht um mehr Transparenz für die Verbraucher*innen, bessere Produktions- und Subventionsbedingungen für die ökologische Landwirtschaft und eine insgesamt lokalere und nachhaltigere Ernährung. Auch geht es darum, eine Debatte zu lancieren, um Ernährungsdemokratie gegen die von den internationalen Lebensmittelkonzernen subtil diktierten Ernährungsgebote durchzusetzen. Niemand hat die Absicht, die Möglichkeit eines ungesunden Lebenswandels zu verbieten. Nur die Möglichkeit sollte bestehen, darauf so gut wie möglich verzichten zu können, wenn man es will.
Weltweit gibt es auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene die unterschiedlichsten Lösungsansätze, um am globalen Ernährungssystem etwas zu ändern. Die Ernährungsräte sind dabei, sich in dieser Hinsicht zu vernetzen und auszubreiten. Die Politik ist gut beraten, auf das dort versammelte Expert*innenwissen zu hören. „Wenn diese zukunftsfähigen Lösungen im gegenwärtigen Wirtschaftssystem keine Chance zu haben scheinen, weil sie nicht auf Profit für wenige, sondern auf das Wohl aller aus sind“, schreiben die Food-Aktivist*innen Valentin Thurn, Gundula Oertel und Christine Pohl, „dann müssen nicht etwa diese Lösungen verändert werden, sondern das Wirtschaftssystem, das sie behindert.“1 Letztlich geht es also darum, ein System zu etablieren, in dem die Bürger*innen selbst entscheiden können, was auf ihre Teller kommt. Mehr Ernährungssouveränität erlaubt lokalere Ernährung. Förderung ökologischer Landwirtschaft erlaubt gesünderes Essen. Und Bildung und transparentere Lebensmittelkennzeichnung erlauben Selbstbestimmung. Mögliche Pisten zu diesen Zielen skizzieren die Autor*innen auf den folgenden Seiten.
- Valentin Thurn/Gundula Oertel/Christine Pohl, Genial lokal. So kommt die Ernährungswende in Bewegung, München, oekom Verlag, 2018, S. 127.
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