Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten
Einführung ins Dossier
Ob das Cover dieser Ausgabe hält, was es verspricht, kann wohl mit einem entschiedenen Jein beantwortet werden. Der dort erwähnte „forum-Report“ hat mit den bahnbrechenden Berichten über das Sexualverhalten der Amerikaner:innen aus der Feder des Forschers Alfred Kinsey, die Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre erschienen, wenig gemein. Weder wurden für dieses Dossier, wie im Falle von Kinseys Forschungsarbeit, 18.000 Befragungen durchgeführt, noch werden die hier präsentierten Befunde das bisher erbrachte akademische Wissen zum Thema in seinen Grundfesten erschüttern. Während Kinsey seinerzeit große Teile der Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte, da er wissenschaftlich belegte, dass Oralverkehr, Sex vor der Ehe, Selbstbefriedigung und homosexuelle Erfahrungen zum Alltag vieler Amerikaner:innen gehören, sind all dies Aktivitäten, die man den Einwohner:innen des Großherzogtums heutzutage wohlwollend wünscht, da diese sexuellen Handlungen 70 Jahre nach Kinsey glücklicherweise als Bestandteil sexueller und affektiver Gesundheit gelten dürfen.
Dennoch können die vorliegenden Artikel eventuell auf eine andere Art neue Überlegungen und Erkenntnisse über Sex im Großherzogtum bei den Leser:innen zu Tage fördern, da Aspekte angesprochen werden, die in der aktuellen luxemburgischen Medienlandschaft sonst eher wenig bis gar keine Erwähnung finden. Jeff Mannes äußert sich in dieser Ausgabe beispielsweise ohne jedwede Sensationslust, dafür aber mit spannenden Interpretationsansätzen, zum sexuellen Fetischismus. Interessante Einblicke in die globalen Trends des Pornokonsums bietet ein Exkurs durch die Jahresberichte der Gratis-Pornoplattform Pornhub, in dem auch die sexuellen Vorlieben der Luxemburger:innen nicht zu kurz kommen. Auch wird hier – statt die Tatsache hinzunehmen, dass bei fast jedem x-beliebigen Dorf- und Stadtfest in Luxemburg Alkohol und sexuelle Interaktion (nicht selten unkoordiniert) aufeinanderprallen – für einen bewussten Umgang mit Drogen beim Sex plädiert. Dies ist nachzulesen in einem informativen Beitrag des Projektleiters von PIPAPO, Carlos Paulos. Neben den gerade erwähnten, wartet dieses Heft mit zahlreichen weiteren Artikeln auf, die sich nicht primär durch neue Forschungsergebnisse, sondern vielmehr durch alternative Perspektiven auf bereits vorhandene Wissensbestände auszeichnen.
Wenngleich beispielsweise Radio 100,7 oder auch die Wochenzeitung woxx mit einer beeindruckenden Regelmäßigkeit auf zahlreiche Facetten des Themenfeldes Sex eingehen und Onlinepublikationen wie reporter.lu sich immer wieder Inhalten rund um das Thema Sexualität widmen, so bleibt die angeblich schönste Nebensache der Welt in vielen Medien nun mal recht… nebensächlich. Mit Blick auf diesen Befund schließt sich forum keineswegs selbst aus, denn auch diese Zeitschrift nahm sich der Themen Sex und Sexualität im Rahmen ihres mehr als vierzigjährigen Bestehens lediglich in vier Ausgaben titelgebend an: Nr. 55 im Jahr 1989 (Jugend und Sexualität), Nr. 132 im Jahr 1991 (Kinder und sexueller Missbrauch), Nr. 193 im Jahr 1999 (Homosexualität) und Nr. 277 im Jahr 2008 (Sexuelle Identität). Dann gab es noch mehrere Ausgaben, die sich im weitesten Sinn damit befassten: Nr. 24/1978 (Abtreiben), Nr. 109/1989 (Kinderkriegen in Luxemburg), Nr. 209/2001 (Schwangerschaft und Geburt), Nr. 327/2013 (La fin de l’homophobie?) und Nr. 368/2016 (Beziehungen in Luxemburg).
Was bei der Themenwahl in vielen Medien auffällt, ist, dass wenn Sex überhaupt angesprochen wird, er sehr häufig negativ konnotiert ist. Es werden also oft unangenehme, teils extrem heftige Konsequenzen, die im Zusammenhang mit Sex stehen können, journalistisch aufgegriffen. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es ohne Zweifel wichtig, diese Seite der Thematik nicht zu verschweigen. Indes prägt der negative Fokus auch den Umgang mit dem Thema im Allgemeinen und lässt positivere Alternativen in den Hintergrund treten. Der Eindruck verhärtet sich, dass man bei der medialen Aufarbeitung von Sex nur die Wahl zwischen zwei Extremen hat. Nämlich tragischen Schicksalen und absolut hirnrissigem Klamauk.
Um dem ein Stück weit entgegenzuwirken, wurde bei diesem Dossier der Versuch eines Balanceakts unternommen. Ohne der sogenannten Sexpositivität allzu sehr zu verfallen, wird Sex als etwas a priori Positives angesehen, dem man sich über zahlreiche Wege sowohl thematisch wie auch praktisch annähern kann. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der sexuellen Bildung, die im 21. Jahrhundert nicht mehr über Pauschalisierungen, einen eingeschränkten Informationszugang und Angst einflößende Warnungen funktionieren kann, sondern Unterstützung beim Erlernen der Selbstliebe und der Grenzsetzung bieten muss. In drei verschiedenen Texten wird auf das junge Publikum, Aufklärung an luxemburgischen Grundschulen sowie Sex betreffende Informationsangebote für Geflüchtete eingegangen.
Im Reich der (Wort-)Sinne
In gleich mehreren Beiträgen geht es außerdem um Kommunikation, die unabhängig von sexuellen Vorlieben eine wesentliche Rolle spielt und gerade Muttersprachler:innen (sowie Sexualpartner:innen, die sich die Sprache aneignen wollen) vor teils recht unterhaltsame Herausforderungen stellt, wie die Sprachwissenschaftlerin Caroline Döhmer auf S. 48 darlegt. Auch im Beitrag über den luxemburgischen Sex-Podcast namens „Méi wéi Sex“ geht es um Begriffe und Ausdrücke, die man von Situation zu Situation verhandeln muss. (Da mehrere aktuelle wie ehemalige Mitarbeiter:innen des Podcasts an diesem Dossier mitgewirkt haben, stand die Frage im Raum, wie dieses Format abgedeckt werden könne, ohne deontologische Grundsätze zu verletzen. So kam es zu der Entscheidung, die Hörer:innenschaft im Rahmen eines Aufrufes um kritisches Feedback und Verbesserungsvorschläge zu bitten. Die vielfältigen Rückmeldungen sind nun auf Seite 52 zu finden.)
Des Weiteren sei an dieser Stelle auf ein anderes luxemburgisches Format, nämlich „déi roud Couche“ verwiesen, das auf Radio 100,7 ausgestrahlt wird. Tessy Steffen-König und Marc Clement behandeln hier jeden ersten Samstag im Monat eine Stunde lang Themen, die mit Sex und Sexualität zu tun haben. Diese Sendung unterscheidet sich insofern vom Sex-Podcast, als hier Gespräche mit Expert:innen zu hören sind, während bei „Méi wéi Sex“ eher Anekdoten und Wissen auf Peer-Group-Ebene ausgetauscht werden. Diese sich ergänzenden Formate zeigen, dass sexuelle Bildung im Zusammenspiel mit Rundfunk eine gewisse Tradition in Luxemburg pflegt. Hierbei sei daran erinnert, dass die 1929 geborene und 1999 verstorbene Gynäkologin und langjährige Präsidentin des Planning Familial Marie-Paule Molitor-Peffer schon in den frühen Neunzigern auf RTL Radio für Aufklärung einstand und diesbezügliche Fragen beantwortete.
Um eine andere Form der Kommunikation – oder besser gesagt, um ihr Ausbleiben – geht es im Beitrag von Caroline Lentz. Dort wirft die Literaturwissenschaftlerin die Frage auf, warum sich Luxemburg in Schweigen hüllt, während in Frankreich immer mehr Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen sowie Sportlerinnen das Wort ergreifen, um öffentlich über sexuelle Übergriffe, die ihnen widerfahren sind, zu sprechen. Die Autorin versucht Gründe für die Zurückhaltung auf luxemburgischer Seite zu eruieren und Möglichkeiten aufzuzeigen, das Schweigen zu brechen. (Obwohl das letzte Wort in der internationalen #metoo-Debatte noch längst nicht gesprochen ist, sei an dieser Stelle doch etwas Zufriedenheit über die Verurteilung Harvey Weinsteins erlaubt.) Der Jurist Frank Wies hat außerdem sein Fachwissen in Bezug auf das gesetzliche Mindestalter für sexuelle Kontakte und die Rechtsprechung bei sexuellen Übergriffen für dieses Dossier zur Verfügung gestellt.
Eyes wide shut
In einer Zeit, in der von der Sexualisierung etlicher visueller Inhalte durchaus die Rede sein kann, fragt man sich eventuell, wo da noch Raum für Unsichtbarkeit bleibt. Diese besteht indes nicht, wie man annehmen könnte, in einem Manko an Nacktheit, sondern vielmehr darin, dass verschiedene Formen von Sex und Sexualität nach wie vor ein Schattendasein fristen. Dazu zählt, wie Tessie Jakobs in ihrem Beitrag auf S. 66 erläutert, auch die Asexualität, welche in einer sexnormativen Welt entweder verkannt oder eben gar nicht erst beachtet wird. Anhand der britischen Serie Sex Education zeigt die luxemburgische Journalistin und Filmwissenschaftlerin, wie man solchen Formen von Sexualität einen medialen Platz geben, sie realistisch abbilden und dadurch zu kontroversen Diskussionen beitragen kann. Von einem kontroversen Wagnis kann wohl auch im Fall des 2018 erschienenen Buches Sex Radical Cinema gesprochen werden. Einen inhaltlichen Einblick sowie eine persönliche Einschätzung bietet Viviane Thill auf Seite 69.
Obwohl sie in dieser Ausgabe nicht in einem eigenen Beitrag gewürdigt werden, haben mehrere, unter anderem auch luxemburgische filmische Produktionen eine Erwähnung in dieser Einführung verdient, weil sie sich gekonnt dem Sichtbarmachen sexueller Identitäten gewidmet haben: Da wäre zum einen die Folge „Vënz de Prënz“ der Dokumentarreihe RoutWäissGro zu nennen, die man in der Mediathek auf rtl.lu findet. Im Rahmen dieses Formats begleiteten die Filmemacher Thierry Besseling und Loïc Tanson den jungen luxemburgischen Transmann Vincent in seinem Alltag. Leider sind bisweilen zahlreiche Reportagen über Transgeschlechtlichkeit von stereotypen Formulierungen und klischeehaften Darstellungen gesäumt. Bei dieser Dokumentation ist ebendies nicht der Fall. Es handelt sich um ein respektvolles Porträt, das zeigt, wie politisch das Private werden kann.
Obwohl das Veröffentlichungsdatum schon etwas zurückliegt, darf auch Jacques Molitors Sweetheart Come als ein weiterer wichtiger Beitrag für die luxemburgische Debatte über sexuelle Identität(en) gelten. Der Dokumentarfilm, den man auf der Plattform vimeo abrufen kann, geht beispielsweise auf Glauben im Zusammenhang mit Sex sowie auf Möglichkeiten, bei körperlichen Einschränkungen barrierefrei intim zu werden, ein. In Bezug auf letzteres kann abschließend eine uneingeschränkte Empfehlung für den halbdokumentarischen Film Touch me not ausgesprochen werden, der bei der Berlinale 2018 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Dieses persönliche Forschungsprojekt der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie zum Thema Intimität hat es in sich und nähert sich dem Thema Sex auf ungewöhnliche Weise.
Einen ebenfalls ungewöhnlichen Ansatz verfolgte auch die Kuratorin und Direktorin der Saarbrücker Stadtgalerie, Andrea Jahn, als sie mit IN THE CUT eine Ausstellung konzipierte, die einen rein feministischen Blick auf den männlichen Körper wirft. Auf Seite 58 beschreibt sie den Rechercheprozess sowie Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Projekts.
Ein Aspekt, der in diesem Dossier nicht behandelt wird, ist Sexarbeit. Aus Zeitgründen kam der Artikel über gewerkschaftliche Selbstorganisation von Sexarbeiter:innen leider nicht zustande. Jedoch hat das Thema durch COVID-19 an Dringlichkeit gewonnen. Und zwar weil auch dieser Arbeitszweig unter den aktuellen Einschränkungen leidet und Existenzen bedroht sind. Wer sich in der Zwischenzeit informieren will, kann unter anderem die Beiträge der deutschen Physiotherapeutin und Sexarbeiterin Kristina Marlen verfolgen.1 Vor Kurzem veröffentlichte sie auf Facebook einen Text mit dem Titel Hure in Quarantäne, in dem sie auf die Problematiken, welche die aktuelle Situation in Deutschland impliziert, eingeht.
Sie selbst habe Rücklagen für zwei bis drei Monate, das sei aber längst nicht bei jeder:m der Fall. Einige müssten trotz der hohen Gefährdung für sich selbst und andere aus der wirtschaftlichen Not heraus weiterarbeiten. Diese Personen würden durch alle Hilfsprogramme für Selbstständige fallen und hätten keinen Anspruch auf Grundsicherung, erklärt Marlen und weist daraufhin, dass dies gerade für diejenigen der Fall sei, deren Aufenthaltsstatus ungesichert sei. Sie betont zudem: „Es gibt Kunden, die die Notlage noch zusätzlich ausnutzen und die Preise drücken.“ Was sie hier beschreibt, trifft zum Teil wohl sicherlich auch auf luxemburgische Sexarbeiter:innen zu.
Kristina Marlen spricht jedoch noch ein anderes Problem an, das aktuell vielleicht aus dem Blickfeld gerät: „Nun sind wir alle Zuhause und es heißt, wir sollten 2 Meter voneinander Abstand halten. Glücklich, wer nun einen Partner oder eine Partnerin hat: das Privileg der Berührung ist dem monogamen Paar vorbehalten. Keine gute Zeit für Singles und lose Subjekte (wie mich). Und für alle, für die Familie kein sicherer Ort ist. […] [I]ch habe Sorge, was aus unserer Kultur der Berührung wird. […] Huren geben Berührung und Nähe. Ich möchte unsere sexuelle Kultur nicht online [ausleben], vielleicht bin ich die letzte hoffnungslos analoge, haptische Generation. Ich bin Hure geworden, eben weil ich nicht ‚irgendwas mit Medien‘ machen wollte. Ich stehe dazu.“
https://www.marlen.me/marlen/ (letzter Aufruf: 26. März 2020). Kristina Marlen verfasst ebenfalls Texte für Die Zeit, taz und Krautreporter.
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