Was tun wir, wenn wir wählen?

Überlegungen zu Sinn und Bewertungskriterien von Wahlsystemen

Was tun wir eigentlich, wenn wir wählen? In Amerika wurde noch bis ins 19. Jahrhundert zum Teil öffentlich gewählt: Es wurde getrunken, musiziert und dann sagte jeder feierlich, wem er seine Stimme gibt. Heute scheint das undenkbar. Wir haben eine ganz andere Vorstellung des Wählens. Der Schutz der individuellen Entscheidung und die Isolation gegen äußere Einflüsse sind uns heilig. Aber was genau entscheidet ‚der Wähler‘ in seiner idealen Unabhängigkeit? Welche ‚Wahl‘ hat er und wozu dient sie? Ein Großteil der Frustration in der Debatte um Wahlsystemreformen in Luxemburg und anderswo hat damit zu tun, dass diese Fragen nicht geklärt sind.

Sind Wahlen demokratisch?

Die Unsicherheit beginnt mit der Frage: Warum sind Wahlen eigentlich demokratisch? In der Antike galt die Wahl als undemokratisch. Sie diente der Auslese einer Elite. Als demokratisch galt das Losprinzip, das ohne Ansehen der Person auch die Armen teilhaben ließ und Machtkonzentration verhinderte. Manche Autoren haben Losverfahren als Reformoption auch für die Gegenwart vorgeschlagen.1 Ich finde das problematisch. Aber es zwingt uns, genauer über den Sinn der Wahl in der Moderne nachzudenken. Ihr demokratischer Charakter macht sich heute nämlich nicht mehr nur an den persönlichen Eigenschaften derer fest, die ins Amt kommen. Stattdessen geht es auch um die besondere Beziehung zwischen Bürgern und Amtsinhabern, die durch das Wählen gestiftet wird.

Anders gesagt: Wahlen gelten deswegen als demokratisches Verfahren, weil sie den Bürgern erlauben, auf die Repräsentanten einzuwirken und die Politik zu beeinflussen. Im Vorfeld geschieht dies durch den Druck, ein attraktives Programm aufzustellen. Und durch ihr Abstrafungspotenzial können Wähler das Handeln von amtierenden Politikern zumindest in gewisse Bahnen lenken. In der Praxis klappt das nicht immer befriedigend. Dennoch: diese Beziehungs- und Handlungsdimension haben nur die Wahlen. Das Losprinzip bietet zwar gleiche Zugangschancen, aber die Gelosten können nicht politisch beeinflusst und zur Verantwortung gezogen werden. Ganz im Gegenteil. Dort, wo man heute wieder mit dem Losprinzip experimentiert, etwa in Irland, ist es den ausgewählten Bürgern verboten, mit der Öffentlichkeit zu sprechen. Das würde die Unabhängigkeit ihrer Beratung gefährden. In der Bewertung von Wahlsystemen begegnen uns bis heute beide Dimensionen: Wahlen als Mechanismus zur Rekrutierung von Amtsinhabern und als Möglichkeit zur öffentlichen Einflussnahme auf die Willensbildung. Oft wird beides wild vermischt. Versuchen wir, es analytisch zu trennen.

Rekrutierung oder Willensbildung?

Als Rekrutierungsmechanismus können Wahlen nach zwei verschiedenen Maßstäben bewertet werden: Geht es um persönliche Eigenschaften oder um Sachkompetenz? Wollen wir Personen, die wir kennen und die uns sympathisch sind? Oder ist es uns wichtiger, dass Fachpolitiker gewählt werden, die sich in den ‚Dossiers‘ auskennen, auch wenn sie im Umgang spröde sind? Die Frage betrifft etwa die Bewertung des Panaschierens. Gebundene Listen ermöglichen es Parteien, ihre Experten in den wichtigen Politikfeldern aufzustellen. Das Panaschieren stärkt dagegen erfahrungsgemäß den Einfluss von Faktoren wie Herkunft oder Verwandtschaft. Jede Abwägung muss die institutionelle Realität im Auge behalten. Unsere ‚Chamber‘ hat ähnlich viele Ausschüsse wie der zehnmal so große Deutsche Bundestag. Während ein Bundestagsabgeordneter in einem oder maximal zwei Ausschüssen mitarbeitet, gehören Parlamentarier in Luxemburg oft einem halben Dutzend Kommissionen an. Das setzt den Möglichkeiten, bestimmte Politikfelder vertieft abzudecken, sowieso Grenzen. Hier lässt sich schon fragen, ob das Wahlsystem diesen Trend noch fördern muss.

Auch die Wahlbezirke werden unter dem Gesichtspunkt der Rekrutierung diskutiert. So meinte Anne Heniqui auf 100,7, das Undemokratische am Luxemburger System sei, dass es die Auswahl qualifizierter Politiker begrenze: „Eng Stemm aus deem engen Eck vum Land huet net déi selwecht Gewiichtung wéi eng aus deem aneren Eck. Schonn eleng well de Choix u valabele Kandidaten net fair verdeelt ass.“2 Das Argument hinkt: Die ‚faire‘ Gewichtung von Stimmen ist eine prozedurale Frage und hat mit Kompetenz und Charakter der Kandidaten erst mal nichts zu tun.3 Aber die Stoßrichtung ist klar: Es soll eine möglichst effektive Casting-Show veranstaltet werden, bei der ein jeder „seng Perséinche kann promouvéieren“,4 auf dass die Bürger die Besten auswählen.

Egal, ob bei diesem ‚Casting‘ nun die Sachkenntnis oder die Persönlichkeit im Vordergrund steht: Wenn man es so sieht, liegt der Gedanke nahe, die Wahlbezirke zu vergrößern. Schließlich hofften schon die Väter der amerikanischen Verfassung, dass „die größere Republik auch über eine größere Auswahl verfügt und demnach eine höhere Wahrscheinlichkeit bietet, daß die richtige Wahl getroffen wird“.5 Letzteres klappt allerdings auch im großen Amerika nicht zuverlässig.

Integration oder Vielfalt?

Wichtiger als die Rekrutierungsfunktion ist, zumindest in der Theorie, der Beitrag zur Willensbildung. Die Verfassung Luxemburgs spricht in Art. 32 von der „formation de la volonté populaire“. Hier können wir ebenfalls zwei konkurrierende Prinzipien unterscheiden.

Das erste betont die Integration, die Sammlung hinter gemeinsamen Zielen und Anliegen. Das zweite will dagegen die Vielfalt abbilden und einem möglichst breiten Spektrum eine Stimme geben. Das erste Modell möchte heterogene Strömungen und Interessen bereits im Vorfeld der Wahl zu mehrheitsfähigen Gesamtpaketen bündeln. Das zweite will zunächst die Kräfteverhältnisse mustern und erwartet Kompromisse erst im Nachhinein. Während das erste Prinzip mehrheitsbildende Elemente nach dem Vorbild des Westminster-Parlamentarismus favorisiert, tendiert das zweite zur Verhältniswahl.

Auch hier ist ein Prinzip prima facie so legitim wie das andere. Die integrative Dimension hat, geprägt vom Zusammenbruch der Weimarer Republik, einst der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger beschworen: „Die Mehrheitsentscheidung ist ein aktiver und lebendiger Versuch, sich der Einmütigkeit unter den wählenden Bürgern so weit als möglich zu nähern.“6 Dem lässt sich mit John Stuart Mill entgegenhalten: „In a really equal democracy, every or any section would be represented, not disproportionately, but proportionately. (…) Unless they are, there is not equal government, but a government of inequality and privilege.“7 Der Trend weist in die letzte Richtung. Mehrere Länder sind in den letzten Jahrzehnten von einer mehrheitsbildenden zur Verhältniswahl gewechselt (z.B. Neuseeland) oder diskutieren dies ernsthaft (alle linken Präsidentschaftskandidaten haben es in Frankreich gefordert – kurzfristig profitieren würde davon aber vor allem der FN). Der Integration die Priorität über die Abbildung der Vielfalt zu geben, gilt heute dagegen fast als unanständig. Matteo Renzi ist in Italien daran gescheitert.

In Luxemburg besteht seit 1919 die Verhältniswahl. So sehr ist sie in die Tradition eingegangen, dass kaum jemand sich erinnert, wie umstritten sie seinerzeit war.8 Allerdings wurde die Verhältniswahl in merkwürdiger Form umgesetzt, an der sich seit langem Kritik entzündet. Das betrifft nicht nur das Panaschieren, zu dem Fernand Fehlen in forum bereits alles gesagt hat.9 Das Problem ist die inkohärente Weise, in der das Wahlsystem die beiden Repräsentationsprinzipien Integration und Vielfalt verbindet: Während die großen Wahlkreise Süden und Zentrum der Vielfalt die Priorität geben, wirken die kleinen Bezirke Norden und Osten durch ihre hohe ‚natürliche Sperrklausel‘ eher mehrheitsbildend.

Es ist das Nebeneinander dieser widersprüchlichen Prinzipien, das ein strukturelles Problem darstellt. Einerseits wird ein Versprechen aufgestellt, dass auch kleine Parteien es schaffen können. Zugleich haben die Großen einen strukturellen Vorteil: Sie streichen im Osten und Norden einen ungefährdeten ‚Bonus‘ ein, während sie in den großen Bezirken aber natürlich ebenfalls einen mindestens proportionsgetreuen Anteil der Mandate erhalten.10 Das Luxemburger System dient damit weder systematisch der Integration noch der überzeugenden Abbildung von Vielfalt, sondern erzeugt vor allem eins: Frustration.

In dieser Inkohärenz liegt das wirkliche Problem mit den Wahlbezirken – nicht in der ‚Provinzialität‘ der Kandidaten und auch nicht darin, dass das System generell kleinen Parteien Steine in den Weg legt. Denn für letzteres gibt es, wenn es in kohärenter Form geschieht wie in Deutschland mit der 5%-Sperrklausel, immerhin sinnvolle Begründungen – etwa die, dass das „Prinzip, den politischen Willen der Wählerschaft in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abzubilden“, nicht auf Kosten der „Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments“ gehen soll.11 Die Ungleichheit im Luxemburger System hat aber keinen rationalen Grund, sondern privilegiert willkürlich einzelne Parteien.

Den Schlamassel verdanken wir übrigens nicht dem berüchtigten ‚CSV-Staat‘, sondern den Sozialisten. Nachdem bis dahin immer nur von einem oder zwei Bezirken die Rede gewesen war, setzten sie in den Verfassungsdebatten im Frühjahr 1919 in allerletzter Minute die bis heute bestehende Einteilung in vier Wahlbezirke durch. Sie wollten nicht, dass ihre Hochburg Esch mit ländlicheren Gegenden zusammengelegt wird. Die Rechtspartei lehnte das zunächst ab, das Luxemburger Wort warnte, dass „in Verbindung mit der Ungleichheit der Kreise … diese Vielheit die reine Durchführung des wirklich gleichen Rechtes aller Wahlberechtigten“ sabotiere.12 Einige Tage später stimmte die Rechtspartei dann aber zu. Vermutlich konnte man dort einfach besser rechnen als in Esch.

Welche Wahl hat man beim Wählen?

Vielleicht ist die Frage nach der Kohärenz der Willensbildung aber auch müßig. Ursprünglich hatte man sich das ja mal so gedacht: Es gibt die individuellen Entscheidungen der Wähler, den Wettbewerb der Parteien und Programme und die letztliche Abstimmung pro oder contra im Parlament. Im politischen Prozess werden diese Ebenen durch eine mehrstufige Kette von informierten Urteilen fortlaufend aufeinander bezogen und rückgekoppelt. Soweit die Theorie. Was wir tatsächlich beobachten, ist dass die Entscheidungsbezogenheit von Wahlen verloren geht.

Einerseits werden Zuständigkeiten an supranationale Organismen wie die EZB ausgelagert, die gezielt gegen politische Einflussnahme abgeschottet sind. Andere Entscheidungen werden an Kommissionen, Schlichtungsverfahren (Stuttgart 21) oder die Gerichte überwiesen. So stimmte die deutsche SPD in den Koalitionsverhandlungen der PKW-Maut zu, in der Hoffnung, der Europäische Gerichtshof werde sie dann stoppen. Gelegentlich veranstaltet man sogar ein Referendum, damit man sich selbst vor der Verantwortung drücken kann (die Tories und der Brexit). In Luxemburg fällt dieser Trend zur Entparlamentarisierung nicht auf, weil J.C. Juncker hier einst jahrelang die Dinge sowieso bevorzugt im inneren Dialog mit sich selbst entschieden hat.

Die innere Verbindung zwischen dem Urteil in der Wahlkabine und der Entscheidung über strittige Fragen löst sich damit auf. Die Willensbildungsdimension der Wahlen verliert an Bedeutung. Das Wählen als politische Praxis verändert unmerklich seinen Charakter: Es gleicht sich dem marktförmigen Konsum an. Man mustert das Angebot, entscheidet sich für eine Marke und hofft, die Sache später nicht zu sehr zu bereuen. Die sinkende Wahlbeteiligung in fast allen Ländern ohne Wahlpflicht dürfte damit ebenfalls in Verbindung stehen.13 Die personelle Dimension scheint im 21. Jahrhundert dagegen an Bedeutung zu gewinnen. Die deutsche SPD legte Anfang Februar in den Umfragen spektakulär zu, nachdem klar war, dass Schulz und nicht Gabriel Kanzlerkandidat wird – obwohl beide inhaltlich auf einer Linie lagen. Vom selben Effekt profitierte Macron in Frankreich. Das Image der Kandidaten und die Person als Projektionsfläche werden wichtiger, wenn aufgrund der Komplexität der Herausforderungen und der Auslagerung von Entscheidung die Möglichkeiten zur inhaltlichen Gestaltung eh ungewiss erscheinen.

In mancher Hinsicht ist das eine bedenkliche Rückkehr zum Wahlverständnis des 19. Jahrhunderts. Auch damals wurden Wahlen als Mittel der Elitenauslese und nicht als Gelegenheit demokratischer Einflussnahme auf den Inhalt der Politik begriffen: „aux électeurs n’incombe pas le devoir de discuter les lois, de les faire, de les apprécier; il leur incombe de nommer et de choisir leurs mandataires en âme et conscience et de remettre alors à ceux-là le soin de débattre […] les questions qu’ils ont à résoudre“14. So gewinnt am Ende nicht der Kandidat mit dem überzeugendsten Programm, sondern derjenige, der am glaubwürdigsten versichern kann, dass er weder Steuern hinterzieht noch seine Verwandten auf Staatskosten beschäftigt. Im besten Fall … u

 

1 „Des idées pour transformer une République encore oligarchique“, in: Le Monde, 06.05.2013.

2 https://www.100komma7.lu/article/wessen/ ass-de-wahlsystem-zu-letzebuerg-demokratesch

3 Angela Merkel als Person kann man übrigens auch nur in Mecklenburg-Vorpommern wählen. Ich wüsste nicht, dass sich darüber in Deutschland je beschwert wurde.

4 Siehe Anm. 2.
5 James Madison in den Federalist Papers, Nr. 10.

6 Dolf Sternberger, Die große Wahlreform. Köln 1964, S. 17.

7 The Collected Works of John Stuart Mill, Volume XIX. Toronto 1977, S. 449

8 Zur Einführung der Verhältniswahl in Luxemburg ausführlich: Michel Dormal, „Proportionen des Volks“, in: Norbert Franz u.a. (Hrsg.) Identitätsbildung und Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert, Luxemburg im europäischen Kontext. Frankfurt, S. 249-276.

9 Fernand Fehlen, „Le panachage ou le fonctionne- ment du champ politique luxemburgeois“, in: forum 147, S. 14–21, und: „Wahlsystem und politische Kultur“, in: forum 332, S. 43.

10 Traditionell profitieren von solchen Asymmetrien vor allem die im ländlichen Raum starken Konserva- tiven. Noch stärker als in Luxemburg ist dieser Effekt übrigens in Spanien.

11 So das Bundesverfassungsgericht im Urteil zur 5 %-Hürde vom 29.9.1990.

12 Luxemburger Wort, 2. April 1919, S. 2.

13 Dirk Jörke, „I prefer not to vote, oder vom Sinn und Unsinn des Wählens in der Postdemokratie“, in: Hedwig Richter und Hubertus Buchstein (Hrsg.), Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der modernen Demokratie. Wiesbaden 2016, S. 101-119.

14 Das Zitat stammt vom ehemaligen Premierminister Blochausen, aus: Chambre des Députés, Compte- Rendu, Session ordinaire de 1891-1892, S. 913.

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