- Kino, Zeit
Was wäre, wenn …?
Uchronien und kontrafaktisches Erzählen im Kino
Lesezeit: 8 Minuten
Die Zeit ist ein Phänomen, das sich unserer Wahrnehmung und Vorstellung entzieht. Sie fließt, ja: vergeht unentwegt, lässt sich weder anhalten noch kontrollieren und alles Vergangene und Erlebte gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an. Das Kino aber hat im Laufe seiner Geschichte sowohl auf formaler als auch auf erzählerischer Ebene Techniken und Möglichkeiten entwickelt, um die Zeit greifbar und erfahrbar zu machen. Dazu zählen etwa der Freeze-Frame, mittels dessen sich einzelne Momente oder Begegnungen einfrieren lassen, um ihre Bedeutung für die Handlung hervorzuheben; die Montage, die die filmische Zeit zwischen zwei Einstellungen oder innerhalb einer Sequenz beliebig ausdehnen oder verkürzen kann; Rückblenden, die es ermöglichen, Vergangenes in die Gegenwart der Erzählung zu holen, um so die Motivation von Charakteren oder den Verlauf der Geschichte zu vertiefen; Vorausblenden, die einen Blick in die mögliche Zukunft werfen; Parallelmontage und Splitscreen, die eine Gleichzeitigkeit zwischen mehreren, auch räumlich voneinander getrennten, Handlungen herstellen können; Zeitlupe und Zeitraffer, um die Darstellung der Filmzeit zu strecken oder zu beschleunigen.
Auch auf narrativer Ebene hat das Kino unser Verständnis von Zeit immer wieder neu definiert. In Rashōmon (1950) zeigte der japanische Regisseur Akira Kurosawa ein Verbrechen aus der individuellen Sicht aller Beteiligten, einschließlich des Getöteten, um den subjektiven Charakter von Erinnerungen zu verdeutlichen. Der französische Filmemacher Alain Resnais betonte in L’année dernière à Marienbad (1961) und Je t’aime, je t’aime (1968) zusätzlich das Fragmentarische und Labyrinthische des Erinnerungsvermögens, indem er nicht-lineare Erzählstrukturen verwendete, die die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses widerspiegelten. Die belgische Regisseurin Chantal Akerman machte in ihrem 200-minütigen Drama Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975) die monotone Routine einer verwitweten Hausfrau und Mutter durch eine minutiöse und nahezu dokumentarische Darstellung beklemmend sichtbar. Chris Marker stellte in seinem experimentellen Kurzfilm La Jetée (1962) die chronologische Linearität der Zeit in Frage, indem er einen namenlosen Mann durch eine Abfolge von Standbildern auf eine Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft schickt, um die Menschheit zu retten. Der Protagonist stößt dabei auf ein traumatisches Kindheitserlebnis, das schließlich seine eigene Existenz in Frage stellt – Marker nutzt dieses Motiv, um tiefgreifende Fragen über Schicksal, Determinismus sowie die (Un-)Veränderbarkeit der Zukunft zu erkunden. Zeitreisefilme wie The Time Machine (1960), The Terminator (1984), Back to the Future (1985) und Twelve Monkeys (1995) haben diese Spielart des Sci-Fi-Kinos weiter popularisiert, indem sie mit den Möglichkeiten und Paradoxien des Zeitreisens experimentierten und dadurch das Bewusstsein des Publikums für das komplexe Verhältnis von Zeit und Kausalität schärften.
Das Kino aber hat im Laufe seiner Geschichte sowohl auf formaler als auch auf erzählerischer Ebene Techniken und Möglichkeiten entwickelt, um die Zeit greifbar und erfahrbar zu machen.
Thematisch verwandt mit dem Zeitreisemotiv, und doch eine eigene erzählerische Richtung einschlagend, sind literarische, historiografische oder filmische Uchronien – kontrafaktische Szenarien und Gedankenspiele, die, ausgehend von einem bestimmten Wende- oder Divergenzpunkt (engl. point of divergence) in der Vergangenheit, alternative Geschichtsverläufe entwerfen, die in eine andere Zeitachse münden und so zu Entwicklungen führen, die von den tatsächlichen Ereignissen abweichen. Die zentrale Frage von Uchronien – ein Begriff, der sich aus dem Griechischen „u-“ (kein) und „chronos“ (Zeit) zusammensetzt und etwa als „Nicht-Zeit“ übersetzt werden kann – lautet daher stets: Was wäre, wenn…? Ausgehend von dieser Frage entwickeln Uchronien hypothetische Szenarien, alternative historische Verläufe und sogar ganze Alternativwelten. Bei diesen handelt es sich jedoch nicht um rein spekulative Fantasiegebilde, sondern um Konstruktionen, die sich an der überlieferten Fakten- und Quellenlage orientieren, um die (auch gegenwärtigen) sozialen und politischen Konsequenzen von Entscheidungen und Ereignissen zu hinterfragen und darüber nachzudenken, was hätte sein können. (Uchronien setzen deswegen auch ein gewisses Maß an historischem Vorwissen voraus.)

Trotz der thematischen Nähe zwischen Uchronien und Zeitreisefilmen gibt es einige bedeutende Unterschiede: Während Zeitreisefilme durch die Manipulation der Zeitachse fortwährend neue Realitäten erschaffen (bzw. alte wiederherstellen), bleiben Uchronien in der Regel bei einer einzigen Timeline, deren alternative Entwicklung sie mehr oder weniger konsequent bis zum Ende beibehalten. Eine Ausnahme bilden die Zeitschleifenfilme (engl. time loop films, z. B. Groundhog Day (1993)), die ab einem stets gleichen Divergenzpunkt wiederholt ablaufende Ereignisse mit variierendem Ausgang darstellen – dadurch vereinen sie sowohl Elemente von Zeitreisen als auch von Uchronien, indem sie alternative Verläufe innerhalb derselben Timeline zeigen; sie erinnern damit an ein Computerspiel, in dem man ein bestimmtes Level so oft durchspielen muss, bis die richtige Herangehensweise gefunden ist.
Während Zeitreisefilme durch die Manipulation der Zeitachse fortwährend neue Realitäten erschaffen […], bleiben Uchronien in der Regel bei einer einzigen Timeline, deren alternative Entwicklung sie mehr oder weniger konsequent bis zum Ende beibehalten.
Bemerkenswert viele filmische Uchronien befassen sich mit alternativen oder kontrafaktischen Szenarien, in denen sie darüber spekulieren, wie Europa und die Welt aussehen würden, wenn die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg gewonnen und das Dritte Reich fortbestanden hätten. Ein frühes Beispiel dafür stellt der semi-dokumentarische britische Spielfilm It Happened Here (1964) dar, der zwischen 1956 und 1964 von den beiden jungen Filmemachern Kevin Brownlow (*1938, späterer Filmhistoriker) und Andrew Mollo (*1940, späterer Militärhistoriker und filmischer Berater) mit bescheidensten Mitteln auf 16 mm gedreht wurde. Historischer Divergenzpunkt ist hier die Schlacht von Dünkirchen im Juni 1940, die das Dritte Reich infolge des Rückzugs der britischen Truppen gewinnt; das NS-Regime nutzt diesen Sieg, um Großbritannien zu besetzen und dort, nach langwierigen Kämpfen gegen Widerstandsgruppen und mit Hilfe britischer Faschisten aus den Reihen der British Union of Fascists (BUF), Ordnung zu etablieren. Aufgrund der anhaltenden Kämpfe gegen die Sowjetunion im Uralgebirge werden die meisten deutschen Truppen schließlich aus Großbritannien abgezogen, um die Ostfront zu verstärken – das gleichgeschaltete Inselreich wird fortan von Kollaborateuren und Hilfstruppen der Wehrmacht und der SS regiert.
Die eigentliche Handlung spielt im Jahr 1944, als die USA bereits in den Krieg eingetreten sind und von Irland aus den Partisanenkampf in Großbritannien unterstützen. Im Mittelpunkt steht die Krankenschwester Pauline, die anfangs politisch neutral ist, jedoch nach einer Evakuierungsaktion in London von der faschistischen Immediate Action Organisation (IAO) zur Kollaboration im Sanitätskorps gezwungen wird. In dieser Rolle gerät sie zunehmend zwischen die Fronten: Auf der einen Seite die Faschisten der Immediate Action, auf der anderen die vorrückenden britischen Partisanen, die ebenfalls wahllos Gewalt anwenden und Kriegsverbrechen begehen, wobei sie den Tod von Zivilisten oder sich bereits ergebenden Soldaten in Kauf nehmen. Während die deutschen Besatzer eher lächerlich daherkommen und etwa als „Touristen“ durch London flanieren, scheint die tatsächliche Gefahr von den britischen Faschisten sowie den rücksichtslosen Widerstandskämpfern auszugehen. Der Film hinterfragt damit den Mythos einer besonders standhaften und widerstandfähigen britischen Demokratie, die weniger anfällig für die Versuchungen des Faschismus gewesen sei, und insinuiert, dass unter anderen Bedingungen auch eine autoritäre Herrschaft in Großbritannien möglich gewesen wäre. Verstärkt wird diese Aussage dadurch, dass in einer semi-dokumentarischen Interviewsequenz auch tatsächliche frühere Mitglieder der British Union of Fascists ihr antisemitisches Weltbild vor der Kamera darlegen.

Auch der HBO-Film Fatherland von Christopher Menaul (1994) entwirft, basierend auf dem gleichnamigen kontrafaktischen Kriminalroman von Robert Harris (1992), eine alternative history, in der das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg für sich entscheiden konnte; den filmischen Divergenzpunkt markiert die gescheiterte Invasion der Alliierten in der Normandie. In dieser Uchronie herrscht Hitlerdeutschland (auch der inzwischen greise Führer hat den Krieg überlebt) im Jahr 1964 über Europa, Großbritannien sowie weite Teile Russlands und befindet sich mit den Überbleibseln der Sowjetunion in einem Guerillakrieg – mit den USA dagegen in einer Art alternativem Kalten Krieg. Das fiktive Deutsche Reich erhielt den Namen „Germania“, den Hitler für eine nach Plänen von Albert Speer umgestaltete Reichshauptstadt Berlin vorgesehen hatte. Als kurz vor einem US-deutschen Gipfeltreffen, von dem sich der fiktive Hitler eine Beilegung der Spannungen und eine Allianz im Kampf gegen die Sowjetunion erhofft, eine Leiche in der Havel in Berlin entdeckt wird, übernimmt der Kriminalpolizist und SS-Sturmbannführer Xaver March (Rutger Hauer) zusammen mit einer amerikanischen Journalistin die Ermittlungen. Beide decken auf, dass der Holocaust bis dato vor der deutschen- und der Weltöffentlichkeit geheim gehalten wurde. Im Film gelingt es March und seiner Helferin, das Beweismaterial an den US-Präsidenten Kennedy zu übermitteln – dieser bricht daraufhin seinen Besuch ab, eine Einigung mit dem NS-Regime kommt nicht zustande, woraufhin dieses kurz darauf in sich zusammenfällt (damit weicht der Film allerdings vom offenen Ende des Romans ab, in dem unklar bleibt, ob die kompromittierenden Informationen veröffentlicht werden können). Auch wenn die filmische Adaption einige reizvolle Ideen aus der Vorlage übernimmt und mit sehenswerten Spezialeffekten aufwartet, bleibt dennoch der Eindruck, dass ein größeres Budget und ein stärkerer gestalterischer Wille nötig gewesen wären, um zu verhindern, dass der Film in eine recht konventionelle und die bekannte Zeitachse wiederherstellende Auflösung mündet.
Auch der Kalte Krieg, geprägt von allgegenwärtiger Paranoia vor einer atomaren Eskalation, dient als beliebte Grundlage für alternativgeschichtliche Spekulationen.
Ungleich radikaler ging Quentin Tarantino in seinem Kriegsfilm Inglourious Basterds (2009) vor, als er die jüdische Kinobesitzerin Shosanna (Mélanie Laurent) während der Vorführung eines NS-Propagandafilms das Kino, in dem sich die NS-Führungselite einschließlich Hitler und Goebbels versammelt hat, in die Luft sprengen ließ. Das Kino, das von den Nationalsozialisten als eines ihrer mächtigsten Werkzeuge zur Verbreitung von Propaganda und zur Festigung ihrer Macht missbraucht wurde, wird in Shosannas Händen zu einem Instrument der Rache, das sich gegen das NS-Regime selbst richtet und auf der Leinwand eine neue filmische Wirklichkeit (bzw. Vergangenheit) erschafft – eine, in der die verfolgten Juden die Geschichte des Dritten Reichs zu Ende schreiben, und in der selbst die überlebenden Verantwortlichen der Judenverfolgung, wie SS-Oberst Hans Landa (Christoph Waltz), dauerhaft gebrandmarkt sind.
Auch der Kalte Krieg, geprägt von allgegenwärtiger Paranoia vor einer atomaren Eskalation, dient als beliebte Grundlage für alternativgeschichtliche Spekulationen. Besonders hervorzuheben ist Zach Snyders filmische Adaption (2009) der Graphic Novel Watchmen (1986-87) von Alan Moore und Dave Gibbons. Der Film spielt in einer alternativen Realität des Jahres 1985, in der seit den 30er Jahren kostümierte Vigilanten als selbsternannte Superhelden auftreten. Diese moralisch ambivalenten, zynischen Figuren, die über keine nennenswerten Superkräfte verfügen, haben wiederholt in die politischen, militärischen und geheimdienstlichen Angelegenheiten der USA eingegriffen und dadurch den Lauf der Geschichte entscheidend verändert. So konnte Präsident Nixon mithilfe der Watchmen die Watergate-Affäre erfolgreich vertuschen und an der Macht bleiben, und Dr. Manhattan, der einzige echte Superheld mit gottähnlichen Kräften, führte einen raschen Sieg im Vietnamkrieg herbei, was den geopolitischen Einfluss der USA massiv stärkte.
Diese Eingriffe der Watchmen haben jedoch eine Realität geschaffen, in der die nukleare Bedrohung allgegenwärtig ist, der Kalte Krieg kurz vor der Eskalation steht und die Gesellschaft dystopische Züge annimmt. In Watchmen demontierten Moore und Gibbons, später auch Snyder, nicht nur den Militarismus und Patriotismus der Reagan-Ära (1981-89), sondern auch die moralisch-ideologische Ambivalenz amerikanischer Superheldenfiguren, die – wie z. B. Captain America – als Propagandainstrumente im Dienste des Staates fungierten.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die fiktive Dokumentation Der Dritte Weltkrieg, die 1998 unter der Leitung von Guido Knopp für das ZDF entstand; Regie führte der amerikanische Dokumentarfilmer Robert Stone. Basierend auf Notfallplänen der NATO imaginiert die Dokufiktion einen alternativen Verlauf des Zusammenbruchs der Sowjetunion: Sie beginnt mit der Entmachtung Michail Gorbatschows durch die Sowjetarmee und endet in einer weltweiten nuklearen Eskalation. Existierendes Archivmaterial und Interviews wurden mit gestellten Szenen und Aussagen kombiniert, um die filmische Illusion zu erzeugen.
Lola rennt ist […] als ein filmisches Experiment mit dem Schmetterlingseffekt zu verstehen, bei dem bereits kleinste Veränderungen im Verlauf der Handlung weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen.
Ein ähnliches Vorgehen wählten auch die Macher der satirischen Mockumentary C.S.A.: The Confederate States of America (Kevin Willmott, 2004). In diesem spekulativen Szenario gewinnen die Konföderierten Staaten den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) und legalisieren die Sklaverei in Nordamerika und darüber hinaus bis in die Gegenwart. Auch hier zwingt die völlig überzeichnete, alternativgeschichtliche Darstellung von flagrantem Rassismus die Zuschauer*innen, sich mit den tatsächlich fortbestehenden Ungleichheiten in der amerikanischen Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Zum Schluss sei angemerkt, dass es auch einige filmische Uchronien gibt, die sich außerhalb der politischen Sphäre bewegen. Eine davon ist der deutsche Actionthriller Lola rennt (Tom Tykwer, 1998), in dem die junge Berlinerin Lola (Franka Potente) einen verzweifelten Anruf von ihrem Freund Manni (Moritz Bleibtreu) erhält. Dieser hat versehentlich eine Tasche mit 100.000 D-Mark verloren, die er für einen Mafiaboss transportieren sollte. Ihm – und somit auch Lola – bleiben genau 20 Minuten, um das Geld wiederzubeschaffen. Ausgehend von demselben Ausgangspunkt – Mannis Anruf – zeigt der Film drei unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten, die Lola auf ihrer hektischen Suche nach einer Lösung durchläuft. Zwei dieser Varianten enden im Scheitern, nur die dritte führt zum Erfolg. Im Vergleich zu den anderen hier genannten Filmen ist Lola rennt jedoch keine klassische Uchronie, da es nicht einen singulären alternativen Handlungsstrang gibt, sondern (theoretisch) unendlich viele. Lola rennt ist daher eher den Zeitschleifenfilmen zuzuordnen und als ein filmisches Experiment mit dem Schmetterlingseffekt zu verstehen, bei dem bereits kleinste Veränderungen im Verlauf der Handlung weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen.
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