Wege zum Glück

Einführung ins Dossier

Mit dem vorliegenden Heft feiert die Zeitschrift forum ihre 400. Ausgabe. Vor einem halben Jahr saß die Redaktion, ausgestattet mit allerlei Notizen und Ideen, an einem Samstagvormittag in wie gewohnt angeregt-lustig-ernsthafter Weise bei Kaffee und Croissants beisammen, um die Themen für die kommenden Dossiers zu finden, als plötzlich der Gedanke aufkam, diesen schönen 400. Geburtstag mit einer Sondernummer zum Thema Glück zu feiern. Ob es der Tatsache geschuldet war, dass wir so glücklich über unsere schöne Sitzung waren, oder ob das Thema ganz zufällig in unsere Runde kam, wissen wir nicht mehr. Aber es war klar, dass wir im Monat November, der traditionellerweise mit dem Gedenken an die Heiligen und Verstorbenen beginnt, dieser für manche Menschen sehr traurigen Jahreszeit etwas entgegensetzen wollten: Ein Heft voller Gedanken, Analysen, Berichte und Erkundungen zum Thema Glück.

Zufallsglück und Wohlfühlglück

Einerseits ist das Thema mindestens zweideutig. Jürgen Stoldt hat bereits auf Seite 3 darauf hingewiesen: Glück kann in der deutschen Sprache Wohlbefinden, also den Zustand einer glücklichen oder fröhlichen Stimmung bezeichnen (im Englischen happiness, im Französischen bonheur), der Begriff kann aber auch darauf verweisen, dass einer Person Glück widerfährt, ohne dass sie etwas dazu beigetragen hat (im Englischen luck, im Französischen chance). Wer Lotto spielt, kann Glück im zweiten Sinne haben und Geld gewinnen und dadurch glücklich oder unglücklich im ersten Sinne werden. Darauf weist auch Léon Losch, der Direktor der Loterie Nationale, in diesem Heft hin (S. 57f.). Andererseits liegt in dieser Zweideutigkeit, die dem Begriff in der deutschen Sprache zukommt, auch eine Stärke, da sie auf die enge Verbindung von Wohlfühlglück und Zufallsglück verweist, wie der Philosoph Wilhelm Schmid die beiden Begriffe in seinem Buch zum Thema nennt.1 Der Vater in der Geschichte Der einzige Sohn (auf S. 27) hat mal Zufallsglück und mal Zufallsunglück, woraus am Ende der Geschichte ein tieferes Verständnis vom Wohlfühlglück resultiert. Und auch die zufälligen Begegnungen, von denen die Gebrüder Grimm in Hans im Glück berichten, führen zu einem Hans im Wohlfühlglück. Die Historikerin Ute Frevert untersucht das Märchen (ab S. 28) im Kontext des Glücksdiskurses des 18. und 19. Jahrhunderts.

Will man die beiden Glücksbegriffe klar definieren, stößt man allerdings an Grenzen. Von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur, von Mensch zu Mensch wird und wurde darunter je etwas anderes verstanden. Man vergleiche nur unsere Zeit mit dem Mittelalter. Die Mediävistin Amelie Bendheim stellt in ihrem Beitrag (ab S. 37) sehr deutlich heraus, dass vollendetes Glück für die Menschen im Mittelalter gar nicht denkbar, da ausschließlich im Jenseits angesiedelt war. Der im 12. Jahrhundert aufkommende mittelhochdeutsche Begriff gelücke, das zeigt Bendheim am Beispiel von vier literarischen Texten, gehörte zu den Schicksals- und Vorhersehungsbegriffen und war, was den Ausgang anging, offen.

Vom Glück, sich zu öffnen

Und dennoch, das sah schon Aristoteles, wie Jean-Marie Weber in seinem Beitrag über Glück aus christlicher Perspektive (ab S. 22) deutlich macht, kann man von einer anthropologischen Konstante des Strebens nach Glück sprechen. Weber verdichtet diese menschliche Suche nach dem Glück am Beispiel der Begegnung: der zwischen Mensch und Jesus sowie der zwischen den Menschen untereinander. Das Glück resultiert hier aus der Öffnung den anderen gegenüber, aus diesem Sich-öffnen folgt dann auch das persönliche Fortschreiten und somit das Glück. Dem Konzept der Nächstenliebe kommt unter dieser Perspektive eine Form der Reziprozität zu: Wer den Nächsten liebt und sich ihm öffnet, erfährt Neues und eigenes Fortschreiten. Was den Wert des Sich-öffnens angeht, argumentiere ich in einem Beitrag zu Glück und Kritikfähigkeit (ab S. 41) in eine ähnliche Richtung: Nur, wer sich den Positionen der anderen öffnet, wer auch den Selbstzweifel zulässt, sich nicht einschließt im Zimmer der eigenen als sicher geltenden Überzeugungen, kann wahres Glück erfahren, weil er nur so fortschreiten kann. Im Austausch mit den anderen und in der Offenheit ihnen gegenüber erfahren wir Neues über uns und die Welt.

Das Streben nach Glück hat auch Eingang in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gefunden, wo es theologisch-naturrechtlich begründet wurde, wie André Hoffmann (ab S. 16) in seinem Beitrag zeigt, in dem er die Frage stellt, ob dem Glück in Luxemburg Verfassungsstatus zukommen solle. Die starke Verbindung von Glück, Staat und Wohlergehen sei zu Anfang des 19. Jahrhunderts, so Hoffmann, radikal neu austariert, das Streben nach Glück schließlich ganz in den Bereich des Privaten verschoben worden (auch Ute Frevert weist in ihrer Analyse von Hans im Glück darauf hin). Eine Politik des Glücks, so Hoffmann, sei, zumindest in der liberalen Perspektive, zugunsten des Strebens nach Freiheit fallen gelassen worden. Auch Kant, wie Ute Frevert zeigt, habe sich sowohl von der utilitaristischen als auch von einer etatis­tischen Glücks-Politik distanziert und argumentiert: Was dem einen Freud, ist dem anderen Leid. Somit wurde Glück Privatangelegenheit (im Umkehrschluss natürlich auch das Unglück). Den, in den Augen von Hoffmann, künstlichen (und gefährlichen) Dualismus zwischen Glück und Freiheit müsste man, so seine These, aufheben mit Etienne Balibars Konzept der Egaliberté, einer Verbindung von Freiheit und Gleichheit, die, vielleicht auch verfassungsmäßig garantiert, Glück sicherstellen könne.

Aber abgesehen davon, ob Glück bzw. das Streben danach politisch gefördert wird oder nicht: Wie können wir uns dem Glück nähern, wenn es doch in jeder Zeit, in jeder Kultur und v.a. bei jedem Menschen etwas anderes bedeutet hat und weiterhin bedeutet? Wo sind die Wege zum Glück zu suchen, wenn der eine vom Leben in der Natur träumt, während die andere sich nur glücklich fühlt, wenn sie in einer rund um die Uhr beleuchteten Metropole leben und arbeiten kann? Anders formuliert: Kann man Glück messen, wenn jede*r etwas anderes darunter versteht?

Die Grenzen der Messbarkeit

Die UNO und der luxemburgische Conseil économique et sociale (CES) sowie der Conseil supérieur pour un développement durable (CSDD) sagen ja. Wir zeigen Ihnen die Ergebnisse des jüngsten World Happiness Report der UNO (S. 50f.) und drucken (ab S. 46) einen Beitrag des CES-Präsidenten Jean-Jacques Rommes über den PIBien-être ab. Sicherlich aber stoßen solche Glücks-Messungen an ihre Grenzen, wenn man bedenkt, dass Glück für jede*n etwas anderes bedeutet. Die Glücks-Messungen können Parameter wie wirtschaftliches Wachstum, Qualität der Infrastruktur und Beschäftigungsquoten integrieren, nicht aber die zahlreichen und unterschiedlichen Träume und Wünsche der Menschen. Man lese nur die verschiedenen Antworten unserer kleinen Umfrage zum Thema Glück (auf den Seiten 44f.). Die Spannbreite der Antworten auf die Frage, was Glück bedeutet bzw. was die Menschen glücklich macht, reicht von dem perfekten Moment mit Kaffee und Zeitung auf einer Terrasse bis hin zum Wunsch nach Frieden. Die luxemburgische Musikerin C’est Karma erzählt (auf S. 58) von den Glücksmomenten beim Musikmachen, und Georges Christen geht – erstaunlicherweise – davon aus, dass sogar Sportmuffel glücklich sein können. Bringt es dann überhaupt etwas, über das Glück nachzudenken und darüber ein Heft zu machen, wenn jede*r etwas anderes darunter versteht?

Durchaus. Einerseits finden wir es inte­ressant, die Vielfalt möglicher Glücksvorstellungen in einem Heft zu versammeln. Andererseits gibt es durchaus Forschungsrichtungen, die eher von menschlichen Gemeinsamkeiten als von Unterschieden in Bezug auf Glück berichten: so die Naturwissenschaften. Stefan Klein, Physiker, Philosoph und Bestseller-Autor, nimmt die Ergebnisse der Hirnforschung (ab S. 13) zum Anlass, grundsätzlich über die Bedingungen von Glück nachzudenken. Ist Glück erblich? Bringt es was, seinen Ärger herauszulassen? Liegt es in unserer Macht, unseren Körper so zu beeinflussen, dass wir glücklicher werden? Ist Glück also, um es auf den Punkt zu bringen, programmierbar? Ja, sagt Klein. Glück sei weniger eine Frage der Lebenssituation als ein Ergebnis spezifischer und erlernbarer Gewohnheiten. Die neurobiologischen Ergebnisse sind wichtig, gerade auch für notorische Miesepeter, weil sie deutlich machen, dass vieles eine Frage der Einstellung ist. Man muss sich dabei allerdings auch immer wieder deutlich machen, dass auch äußere von den Menschen nicht zu beeinflussende Faktoren dazu beitragen, ob Wohlbefinden eine Option ist oder nicht. Kurz: Politische und ökonomische Rahmenbedingungen spielen natürlich auch eine Rolle dabei, ob ein Mensch die nötigen Ressourcen aufbringen kann, sich glücksmäßig umzuprogrammieren. Anders formuliert: Achtsamkeit muss man sich leisten können. Unter einer globalen Perspektive kann das nicht jede*r.

Die Gefahren der Glückshysterie

Sowieso ist Vorsicht geboten, wenn man sich auf die Suche nach dem Glück begibt. Wilhelm Schmid gibt in seinem Glücks-Buch zu bedenken: „Viele Menschen sind plötzlich so verrückt nach Glück, dass zu befürchten ist, sie könnten sich unglücklich machen, nur weil sie glauben, ohne Glück nicht mehr leben zu können.“2 Die starke Nachfrage nach Glück verweist auf den wachsenden Bereich der Glücks-Industrie. Erstens redet diese Industrie uns ein, wir müssten gegen jeden Widerstand glücklich sein. Sie bietet uns verschiedene Möglichkeiten an, diesen Zustand zu erreichen. Wege können dann ganz konsumistisch darin bestehen, dass wir glauben, durch den Kauf bestimmter Produkte glücklicher zu werden. Zweitens kann es geschehen, dass wir die These verinnerlichen, das Glück oder Unglück hänge ganz allein von uns selbst ab. Eva Illouz und Edgar Cabanas zeigen in ihrem neuen Buch Das Glücksdiktat, wie gefährlich es sein kann, wenn wir die Idee des Glücklichseins verabsolutieren und die Möglichkeitsbedingungen dazu radikal individualisieren. So als gäbe es keinen Staat, keine Wirtschaft, keine gesellschaftlichen Normen, die mit ihren Rahmenbedingungen dafür mitverantwortlich sind.3

Kindheit, Kino, Kunst

Besonders interessant bei einem Thema wie dem Glück ist natürlich auch der Blick auf die Jugend. Was erwarten sich die jungen Menschen vom Leben? Was macht sie glücklich? Unter Bezugnahme auf die diesjährige deutsche Shell-Jugendstudie sowie den letzten luxemburgischen Jugendbericht von 2015, denkt der Erziehungswissenschaftler Thomas Köhl (ab S. 20) über die Glückserwartungen der Jugend nach. Die im digitalen Zeitalter aufgewachsene Jugend bevorzugt Flexibilität und Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt und setzt die Themen Umwelt, Achtsamkeit und Gerechtigkeit an die Spitze ihrer Agenda. Und à propos Jugendliche und Kinder: Céline Flammang schaut sich für dieses Heft (ab S. 52) Studien zum Zusammenhang von Glück und Elternschaft an und kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass Paare ohne Kinder – grosso modo – womöglich glücklicher sind als solche mit Kindern.

Natürlich beschäftigen sich auch die Künste mit dem Thema. Viviane Thill hat sich für diese Ausgabe (ab S. 33) mit sechs Filmen auseinandergesetzt, die den Begriff bonheur im Titel tragen. Von 1934 bis 2008, aus der Sowjetunion bis nach Hollywood, umspannt ihr Beitrag verschiedene cinematographische Positionen zum Thema. Und vielleicht werfen auch Sie nach Lektüre des Beitrags einen neuen Blick auf Happy-Endings, so wie sie uns im Kino präsentiert werden. Präsentiertes Glück in Zweifel zu ziehen, so wie es das luxemburgische Kollektiv Richtung22 mit ihrem neuesten Informationsspektakel tut (lesen Sie einen Auszug ab S. 59), kann glücklicher machen als die Einnahme vermeintlicher Glückspillen.

Zur Dauer des Glücks

Ein Aspekt, zu dem wir leider keine*n Autoren*in gefunden haben, ist der der Glücks-Temporalität. Wann und wie lange findet Glück eigentlich statt? Wir müssen ja immer bedenken, dass Glück sich nur selten auf Dauer stellen lässt. Jede*r kennt sicherlich das Gefühl der Vorfreude auf einen bestimmten Moment, aber wenn dieser ersehnte Moment dann gekommen ist, vergeht er sehr schnell. Glück empfinden wir oft nur – als Vorfreude – vor einem glücklichen Moment und – in der Erinnerung – danach. Der flüchtige Moment des Glücks selbst entzieht sich nicht selten unserer Erfahrung. Darauf macht auch das Kollektiv #LikeEverything (ab S. 54) aufmerksam, wenn es in seinem Beitrag über den Zusammenhang von Facebook und Unglück verdeutlicht, dass der Wunsch, Erlebnisse wie ein Live-Konzert im Moment selbst festhalten zu wollen, notwendig scheitern muss. Vielleicht, so eine These, die bei uns in der Redaktion bei der Arbeit am aktuellen Heft aufgekommen ist, brauchen wir alle im Umgang mit dem Thema etwas mehr Gleichmut. Vielleicht müssen wir uns frei machen vom Glücksdiktat, aber die Antennen auf Empfang stellen und uns freuen, wenn Momente des Glücklichseins zu uns strömen – und gleichzeitig erkennen, wo es sich lohnt, für das (nicht nur eigene) Glück zu kämpfen. André Hoffmann macht sehr deutlich, dass wir bei der Glückssuche auch das gesellschaftliche Glück nicht aus den Augen verlieren sollten.

Auf der letzten Seite des Heftes, auf der Sie jeden Monat nicht nur unser Impressum, sondern auch die Rubrik Que faire ? finden, haben wir in diesem Monat Raum für Ihre eigenen Gedanken zum Thema gelassen. „Que faire ?“ können Sie sich nun selber fragen und dabei von der*dem Leser*in zum*r Autor*in werden: Schreiben Sie doch einfach Ihre eigenen Ideen zum Thema Glück auf. Und wenn Sie mögen, lassen Sie die forum-Community daran teilhaben.

Der luxemburgische Fotograf Gilles Kayser ist im Oktober übrigens durch Luxemburg gezogen und hat das Glück gesucht. Die Ergebnisse seiner Foto-Reportage finden Sie in diesem Heft auf die verschiedenen Beiträge verteilt. Er hat das Glück in Bars, Kirchen oder in der Natur gefunden. Seine Fotos verdeutlichen, dass das Glück manchmal viel näher liegt als wir denken. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen: Augen auf nicht nur für das große, sondern auch für das kleine Glück!

  1. Wilhelm Schmid, Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist, Frankfurt a. M., Insel Verlag, 2007.
  2. Ebd., S. 7.
  3. Edgar Cabanas/Eva Illouz, Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht, Berlin, Suhrkamp Verlag, 2019.

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