„Wenn ich etwas unfair finde, wehre ich mich über den Weg der Kunst“
Sie ist Künstlerin, engagierte Feministin und Mitbegründerin des Mouvement de libération des femmes (MLF). Nachdem forum Berthe Lutgen als eine der Redner*innen für seine Veranstaltung zu #metoo gewinnen konnte, haben wir uns zum Anlass des 50. Jubiläums von Mai 68 noch einmal mit einer der Hauptinitiatorinnen der Frauenbewegung in Luxemburg zusammengesetzt und mit ihr über damals und heute gesprochen.
Frau Lutgen, Sie sind Mitbegründerin des MLF, das in den 70er Jahren die Frauenbewegung in Luxemburg zusammenfasste. Wie sind Sie zum Feminismus gekommen?
B.L.: Auch wenn ich bei dieser Frage Gefahr laufe, Ihnen meinen ganzen Lebensweg zu erzählen, so sind einige der wichtigsten Ereignisse, die mein Leben geprägt haben, tatsächlich auf den Mai 1968 und die Entwicklungen zurückzuführen, die er ermöglicht hat. Ich habe 1959 bis 1962 auf den Beaux-Arts in Paris und danach auf der Kunstakademie in München studiert und anschließend hier in Luxemburg und auch manchmal in Deutschland meine Kunst ausgestellt. 1968 habe ich mit ein paar Künstlerfreunden die „Arbeitsgruppe Kunst“ gegründet. Als wir im Herbst 68 vom „Cercle artistique de Luxemburg“ eingeladen wurden, ein gemeinsames Werk zu schaffen, haben wir kurzerhand entschlossen, ein „lebendiges Gruppenbild“ zu zeigen. Also haben wir uns in Badekleidung in einer von uns geschaffenen Landschaft selbst ausgestellt. „We call it Arden and we live in it“, war der Titel. Es war das erste Happening in Luxemburg und gleichzeitig auch eine Protestaktion gegen die damals von Joseph Emile Müller dogmatisch vertretene Auffassung von Kunst. Die Presse hat kaum, um nicht zu sagen gar nicht, darüber berichtet. Wir sind lediglich im Républicain Lorrain kurz erwähnt worden. Die beste Methode, mit einem unliebsamen Ereignis umzugehen, war, es totzuschweigen – und das hat die Presse konsequent durchgezogen. Selbst Empörung wäre schon Werbung gewesen und das wollte man tunlichst vermeiden. Im Zuge einer weiteren gemeinsamen Ausstellung, der „Initiative 69, Große Mixed Media Show, Zerstörungen I und II“, konnte jeder von uns auch eigene Arbeiten präsentieren. Mein Beitrag war die „Beinserie“. Neben den Bildern habe ich eine Filmschlaufe gezeigt und stehende, selbstbewusste Frauen. In seinem Vorwort zu meinem Buch Faire Face nannte Christian Mosar das ein „manifeste d’art féministe“. Einen solchen Auftritt von Frauen hatte es damals in Luxemburg noch nicht gegeben. Als dann auch darauf kein Echo in der Presse zu vernehmen war, kam mir erstmals der Gedanke, dass man eine Frauenorganisation gründen müsste.
Ich bin damals noch oft nach Paris gereist und habe vom „Mouvement de libéraion des femmes“ und dem „Women’s liberation movement“ gelesen. Also habe ich Frauen aus meinem Bekanntenkreis kontaktiert und gefragt, ob sie bei der Gründung einer Frauenorganisation mitmachen würden. Fast alle haben zugesagt.
Was bedeutete Mai 68 in Luxemburg?
B.L.: Der Mai 68 war Katalysator für eine Reihe von wichtigen Ereignissen, die die Gesellschaft nachhaltig verändert haben. In Luxemburg gab es 68 keinen Studierendenaufstand oder Streik in dem Sinne, es gab ja keine Universität. Hierzulande ist es erst 1971 zu ersten Schülerstreiks gekommen. Der Vietnamkrieg hat mit sich gebracht, dass sich auch eine Reihe Menschen in Luxemburg politisiert haben und Maoisten- und Trotzkistengruppen entstanden sind. Unsere „Arbeitsgruppe Kunst“ hat sich den letzteren, der LCR – Ligue Communiste Révolutionnaire angeschlossen, in der auch ich ein Jahr lang Mitglied war. Das waren hauptsächlich Studierende der Universitäten in Paris, Heidelberg und Berlin, die die Ereignisse des Mai 68 nicht nur vor Ort miterlebt, sondern auch aktiv daran teilgenommen hatten. An den Austausch, der in diesen Gruppierungen stattfand, konnte auch die hiesige Szene anknüpfen. Danach habe ich mit meinem Mann und zwei anderen Künstlern die GRAP – Groupe de Recherche d’Art Politique gegründet, in der wir einige Jahre lang, unter anderem für den LAV, Plakate und Serigrafien entworfen haben. Ich hatte also gewisse Vorkenntnisse, bevor ich mich mit der Gründung des MLF befasst habe. Auch wenn Luxemburg damals gewissermaßen noch Provinzcharakter hatte und es kaum zu einer annähernd vergleichbaren Bewegung wie in den Metropolen Paris oder Berlin kommen konnte, so hatte Luxemburg doch immer schon seine Fühler nach allen Seiten hin ausgestreckt und war nicht von den Ereignissen im Ausland unbeeinflusst geblieben.
Welche Formen nehmen heute gesellschaftliche Bewegungen an? Was hat sich in den Organisationsformen verändert?
B.L.: Das Internet hat die Organisationsformen natürlich stark vereinfacht. Der MLF wurde von Frauen gegründet, die alle aus dem bürgerlichen Milieu stammten: Hausfrauen, Journalistinnen, Geschäftsfrauen, Juristinnen, Dolmetscherinnen und Künstlerinnen. Sie alle versuchten in ihrem Bekanntenkreis weitere Mitglieder zu gewinnen.Die Einladung, die ich später verschicken wollte, musste ich noch auf der Schreibmaschine tippen – und die galt es dann erst einmal zu vervielfältigen! Heute sehen diese Einladungen wahrscheinlich so antiquiert aus, dass sie fast schon Museumsstücke sein könnten. Auch die Gründung einer Organisation war nicht ganz so selbstverständlich. Vor dem MLF gab es schon Frauenorganisationen wie zum Beispiel das „Foyer de la Femme“, „Union des Femmes Luxembourgeoises“ oder „Chrëschtlech Sozial Fraen“, die in meinen Augen aber immer Parteianhängsel waren. Wir wollten jedoch eine parteipolitisch unabhängige Organisation gründen. Als sich bei einer Demonstration des MLF für die Gleichstellung der Geschlechter schließlich auch andere Frauenorganisationen beteiligt haben, wurde das Zivilrecht, in dem der Mann als „chef de famille“ galt, kurz darauf abgeändert. Bei der Reform des Eherechts dauerte es noch bis 1974. Stellen Sie sich vor, sie wären verheiratet und müssten Ihren Mann fragen, ob Sie bei forum arbeiten dürften! Beim Thema Abtreibung war die Öffentlichkeitsarbeit sehr schwierig, weil die Kirche und die CSV strikt dagegen waren. Das Tageblatt hat unsere Artikel veröffentlicht und wir haben Flugblätter im ganzen Land verteilt.
Hat es Sie nicht Überwindung gekostet, sich im erzkonservativen Luxemburg der frühen 70er Jahre so offen für ein derart heikles Thema auszusprechen und Befürworter der Abtreibung zu mobilisieren?
B.L.: Nein, das hat mir nie Probleme bereitet, schließlich galt in Luxemburg die Meinungsfreiheit. Natürlich wurden seinerzeit im Luxemburger Wort Polemiken gegen den MLF geführt, der für die Liberalisierung der Abtreibung kämpfte.
Das 50-jährige Jubiläum der 68-Bewegung nähert sich. Die Frauenbewegung ist untrennbar mit dieser Zeit verbunden. Wenn Sie heute zurückblicken, müssen Sie doch zufrieden sein? Ein Großteil der damaligen Forderungen nach Selbstbestimmung der Frau ist heute zumindest theoretisch erfüllt.
B.L.: Es scheint mir immer noch so zu sein, dass die hart erkämpften Rechte der Frauen immer wieder auf der Kippe stehen und neu verhandelt werden müssen. Die rezente Vergangenheit hat gezeigt, dass getroffene Entscheidungen auch wieder rückgängig gemacht werden konnten, wie das z.B. beim Thema Abtreibung im Ausland der Fall war. Auch wir müssen bei einem möglichen Regierungswechsel befürchten, dass die derzeitige Regelung nicht bestehen bleibt. Sie müssen auch bedenken, dass die Abtreibung erst 2014 aus dem Strafgesetzbuch genommen wurde und damit erst die Forderung erfüllt wurde, die wir 71/72 gestellt hatten! Ich habe 2012 zur damaligen Abtreibungsdebatte in Luxemburg das Evangelienbuch „Codex Aureus Epternacensis“ zweckentfremdet. Das aufgeschlagene Evangelium, das ursprünglich der Großengel in den Händen hält, ist nun in den Händen einer jungen Frau. In dem Text wird das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren eigenen Körper postuliert. Von diesem Bild habe ich auf eigene Kosten Plakate anfertigen und an Litfaßsäulen in Luxemburg-Stadt anbringen lassen. Wenn ich etwas unfair finde, wehre ich mich über den Weg der Kunst. Auch an den beiden anderen Bildern mit den Titeln „Equal access to economic activities“ und „Women’s participation in decision making at all levels“, die zu diesem Tryptychon gehören, können sie zwei Forderungen ablesen, die bis heute nicht erfüllt sind. In meinem Bild „The Deciders“ kritisiere ich auch die ungleiche Verteilung der Managerposten. Am Beispiel von 16 luxemburgischen Unternehmen und der Europäischen Zentralbank zeige ich auf, dass Frauen proportional gesehen zu ihren männlichen Kollegen immer noch nur begrenzten Zugang zu Führungspositionen in Verwaltungsräten haben. Auch das hat sich immer noch nicht geändert. Das Ministère d’Egalité des Chances hat dieses Bild erworben und es bei sich ausgestellt. In meinem Werk „La Marche des Femmes“ mache ich darauf aufmerksam, dass die Gewalt gegen Frauen weltweit – auch in Europa – zunimmt und die Rechte, die wir uns hier in Luxemburg in den frühen 70er Jahren erkämpft haben und heute für selbstverständlich halten, für Frauen in anderen, nicht-europäischen Ländern immer noch nicht erreicht sind. Sie sehen also, es gibt noch genug zu tun.
Wie ist die Situation heute? Was sind die Forderungen von heute?
B.L.: Es sind hauptsächlich Forderungen, die sich aus den Missständen ergeben, die ich soeben erwähnt habe. Wir sollten auf eine gleichberechtigte Erziehung von Jungen und Mädchen setzen und darauf bedacht sein, in der Erziehung tief verankerte patriarchalische Strukturen zu überwinden, indem wir Jungen nicht dazu erziehen, sich zu schade für die Haushaltsarbeit zu sein.
Arbeit galt in den 60er/70er Jahren noch als der ultimative Ausdruck von Freiheit – der Zugang zu ihr war für Frauen alles andere als selbstverständlich. Heute ist die Situation umgekehrt: Frauen müssen arbeiten, denn jeder ist nur noch für sich selbst verantwortlich. Ist dadurch nicht eine neue Form der Abhängigkeit entstanden?
B.L: Wenn Sie nicht arbeiten oder einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, begeben sie sich nicht nur in ein prekäres Abhängigkeitsverhältnis, sondern laufen auf lange Sicht Gefahr, nicht genügend Beiträge einzuzahlen und dementsprechend auch im Alter nicht abgesichert zu sein. Jeder Frau sollte es selbst überlassen sein, ob sie arbeiten gehen möchte oder Hausfrau sein will. Ich will das Hausfrauen- und Mutterdasein gar nicht kleinreden. Nur, wenn die Frau vom Arbeitsprozess ausgeschlossen ist, ist sie in diesem Milieu zwangsläufig auch nicht repräsentiert. Natürlich wäre es heutzutage eine Idealvorstellung für beide Geschlechter, weniger für das Überleben arbeiten zu müssen und mehr Zeit zur Selbstverwirklichung zu haben.
Eine Forderung, die Sie im Rahmen der forum-Veranstaltung zu #metoo gestellt haben, bezog sich darauf, dass unbedingt mehr Zufluchtsstätten und Beratungsstellen für Opfer von sexualisierter Gewalt geschaffen werden müssten. Wieso können die bestehenden Institutionen diese Aufgabe nicht leisten?
B.L.: Es müssen Anlaufstellen spezifisch für Frauen geschaffen werden, die Opfer von „harcèlement sexuel“ sind. Frauenhäuser oder ähnliche Institutionen für Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, reichen da nicht aus, weil es sich bei ersterem häufig um viel delikatere Fälle handelt, die den Behörden nicht immer Anlass zu Handlung geben. Selbst die Polizei ist mit solchen Fällen überfordert und kann meist nicht einmal eingreifen, solange eine Frau nicht halb tot geprügelt wurde und erkennbare körperliche Gewaltspuren aufweist. Umso mehr braucht es geschultes und sensibilisiertes Personal, das angemessen reagieren kann, aber auch Anwälte, die diesen Frauen beratend zur Seite stehen sollten.
Eine Ihrer Aussagen, die vielen Anwesenden beim public forum in Erinnerung geblieben ist, ist die, dass der „Mann mit Macht“ die schlimmste Spezies sei, die es gibt. Sind die Männer das Problem oder ist es die Macht? Oder sind „Mann“ und „Macht“ synonym zu verstehen?
B.L.: Sie sind keinesfalls synonym zu verstehen. Es ist die Kombination von beiden. Männer haben eigene Netzwerke, in denen einer dem anderen dabei hilft, weiterzukommen. Frauen haben das in der Form bis heute nicht.
Welche Rolle spielt für Sie das Phänomen #metoo im Rahmen der jahrzehntelangen Anstrengungen zur Gleichstellung der Frau? Hat es eine Bedeutung oder ist es nur ein Moment der Empörung, der wieder verschwinden wird?
B.L.: Ich würde #metoo durchaus eine wichtige Rolle zuordnen, weil es ein weltweites Echo hervorgerufen und eine wichtige Sensibilisierung initiiert hat. Es ist im Bewusstsein der Menschen angekommen und Männer haben erstmals gesehen, welche Auswirkungen ihr Verhalten haben kann und überlegen sich heute vielleicht zweimal, ob sie Frauen unter Druck setzen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview wurde am 24.04.18 geführt (SC).
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