Wer darf, wer wird in Zukunft in Luxemburg wohnen?

Wer in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Stadt Luxemburg aufgewachsen ist, hat Bilder einer Gartenstadt im Kopf. Die Fahrradausflüge führten in noch nicht erschlossene Gebiete: Die Merler Wiesen, die Höhen des Limpertsberg, die Felder auf dem Kirchberg, aber auch Grund und Pfaffenthal waren Orte der offenen Möglichkeiten. Die Land- und Gartenwirtschaft reichte bis mitten in die Stadt, Wald und Tierwelt waren noch allgegenwärtig.

Abschied von der Stadt

Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Mit dem aufkommenden Finanzplatz und dem endgültigen Durchbruch des Individualverkehrs verkauften die alteingesessenen Immobilienbesitzer ihre Stadt und zogen ins Umland. Das Gebiet der ehemaligen Festungsstadt mit den eingemeindeten Vororten, über das die junge Nation erst seit 100 Jahren souverän verfügen konnte und das sie am Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgreich zu einer „richtigen“ Stadt weiterentwickelte, wurde vom bürgerlichen Teil seiner Bewohner innerhalb weniger Jahre aufgegeben. Die Stadt wurde verkauft, abgerissen, entkernt, zugebaut und aseptisiert. An ihre Stelle traten in den Wohnvierteln Apartmenthäuser (genannt „Résidences“), die keiner Ästhetik verpflichtet waren, sowie Bürogebäude im Stadtzentrum.

Ein Volk von Immobilieneigentümern

Rund 70 % der Einwohner des Landes sind Immobilienbesitzer. In der Schweiz liegt dieser Wert bei 44 %, in Deutschland etwa bei 53%, in Frankreich bei 62 %.
Von unseren Nachbarländern kann nur Belgien mithalten. Der luxemburgische Staat hat den Immobilienerwerb mit vielfältigen Anreizen und Vorteilen seit Generationen gefördert, auch die Kommunen haben spätestens seit Ende des 2. Weltkrieges durch die schleichende Abschaffung des Impôt foncier diese Entwicklung befördert. Parallel führte die Aufgabe der Erbschaftssteuer dazu, dass Immobilienbesitz anders als in unseren Nachbarländern unbeschadet von einer Generation an die nächste weitergegeben werden kann. Die wechselnden Koalitionen aus DP, LSAP und CSV sorgten seit Kriegsende dafür, dass ein guter Teil des erwirtschafteten Reichtums dazu genutzt wurde, jedem, der in Arbeit war, die Aussicht auf Immobilieneigentum zu geben.

Mentalitäten

Man kann lange darüber spekulieren, ob der Wunsch nach Immobilienbesitz bzw. seine Ausweitung eine anthropologische Grundkonstante ist. Die Erfahrung tiefer Armut bis weit ins 20. Jahrhundert und die Wirren vieler Kriege haben in Luxemburg die Wertestruktur der Gesellschaft zusätzlich in diese Richtung geprägt und zu einem tiefen Bedürfnis nach Sicherheit beigetragen. Daneben werden uns Soziologen bestätigen, dass die gut organisierten Arbeiter der Stahlindustrie zu den konservativsten Elementen der Arbeiterschaft gehören. Ihre Integration in streng geregelte Arbeitsverhältnisse und genormte Arbeitsabläufe wurde schon Anfang des 20. Jahrhunderts von den Hüttengesellschaften über den privilegierten Zugang zu Wohnraum realisiert.

Aber nicht nur alteingesessene Luxemburger drängen zu den eigenen vier Wänden. Im Zusammenhang mit dem Wohneigentum hatte die European Values Study vor etwa zehn Jahren eine interessante Feststellung gemacht. Offenbar übernehmen Neubürger dieses Landes innerhalb weniger Jahre die Wertevorstellungen der luxemburgischen Mehrheitsgesellschaft. Sozialer Erfolg wird auch von portugiesischen Bauarbeitern und Expats bis auf weiteres am Hausbesitz gemessen.

Fehlkalkulation?

Was die Menschen in Luxemburg verbindet, ist die verquere Vorstellung, dass wer zur Miete wohnt, Geld verschenkt. Aber dass Immobilien erst einmal Kapital binden, dass wer dieses Kapital nicht hat, Zinsen zahlt, dass selbst abgezahlte Immobilien einen negativen Mietzins bedeuten (da man selber darin wohnt und sie nicht vermietet), dass Immobilien Unterhaltskosten nach sich ziehen und womöglich schlecht altern, dass Neubauten oft grundhässlich sind, all das wird ausgeklammert – zusammen mit den Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz (Umzug ins Ausland, Veränderung der Familienzusammensetzung, Scheidungen…). Es ist der in Aussicht gestellte, virtuelle Wertzuwachs, der all jene überzeugt, die sich mit 27 Jahren und zwei Gehältern für den Rest ihres Lebens an eine Immobilie und ihre Hausbank binden wollen.

Wachstum

Die kontinuierliche, von keiner Delle getrübte Entwicklung der Immobilienpreise hat in Luxemburg zu einer generationsübergreifenden Boom-Erfahrung geführt. Alle, die zumindest eine Wohnung besitzen, leben im schönen Gefühl, dieses Jahr reicher zu sein als im letzten und im vorletzten. Mit dem Wertzuwachs der Immobilien lebte praktisch jeder in der Vorstellung, am Wirtschaftswachstum des Landes virtuell beteiligt zu sein – obwohl in Wahrheit der Wertzuwachs nur von jenen realisiert wird, die mehrere Wohnungen besitzen oder die am Ende bereit sind, zu verkaufen und in die Eifel zu ziehen.

Wehe jedoch jenen, die mehr Kinder haben als Großeltern mit Immobilienbesitz. Für die geht das Spiel seit einigen Jahren nicht mehr auf. Sie fangen an, auf den Immobilienmarkt drängende Immigranten als Problem zu sehen. Während das Wohnungsangebot jährlich nur um etwa 2500 Einheiten pro Jahr steigt, wächst die Zahl der Arbeitsplätze in den letzten Jahren im Durchschnitt um 11000 Einheiten. Die Differenz schafft Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt, und mit dem Zustrom reicherer oder besser bezahlter Einwohner findet automatisch eine Verdrängung statt. Während die Promotoren unseres Finanzplatzes sich dann über die Aussicht zusätzlicher Schweizer, amerikanischer oder japanischer Finanzdienstleister im Zuge des Brexit freuen, zahlen andere dadurch automatisch höhere Mieten, schränken sich ein oder ziehen ganz einfach über die Grenze.

Der Weg über die Grenze

Das Phänomen der luxemburgischen Kolonien auf der deutschen Seite der Mosel und der Saar ist mittlerweile hinreichend bekannt. Über 5000 Luxemburger leben in dieser Diaspora. Auf den Höhen über der Mosel kann sich noch ein letztes Mal realisieren, was Luxemburg der Welt im Bereich des Urbanismus geschenkt hat: das Lotissement mit freistehenden 250-Quadratmeter-Einfamilienhäusern inklusive Doppelgarage und 9 Ar Tuja-umgrenzten Rasen.

Die Zukunft sieht anders aus: Sie entsteht im Süden von Luxemburg im französischen Grenzgebiet. Hier entwickelt der französische Staat (und nicht das berühmt-berüchtigte Millefeuille aus Kommunen, Departements oder Regionen) in aller Diskretion um Micheville herum eine Reihe von ehemaligen Industriebrachen und Freiflächen zu neuen, integrierten Quartieren. Sie sollen in Zukunft die Menschen aufnehmen, die in Luxemburg keinen Platz finden. Die urbanistischen Konzepte sind auf der Höhe der Zeit (relativ dichte Bebauung, gemischte Wohnformen, keine Autos innerhalb der Viertel, Gemeinschaftsgärten, Platz für lokale Wirtschaft und Einzelhandel, Kultur als identitätsstiftendes Element und Zugang zu Naherholungsgebieten und öffentlichem Transport, usw.). Die Versuche, sich mit den Luxemburger Behörden abzustimmen, gestalten sich schwierig, denn luxemburgische Verwaltungen haben Mühe, die Franzosen ernst zu nehmen, deren vergleichsweise bescheidene Budgets den pharaonischen Standards von Esch-Belval nicht das Wasser reichen können.

Kein Bedarf an kommunalen Sozialwohnungen

Währenddessen fährt Luxemburg darin fort, im großen Stil Arbeitsplätze zu schaffen und Bürogebäude zu errichten. Im Ban de Gasperich ist das Missverhältnis am augenscheinlichsten: Hier entstehen auf 80 ha Büroimmobilien für rund 20000 Mitarbeiter, aber Wohnungen für nur 5000 Menschen. Doch selbst wenn Wohnungen gebaut werden, heißt das nicht, dass diese dann auch dem Wohnungsmarkt zugeführt werden. Es scheint immer häufiger vorzukommen, dass die Zweit- oder Drittwohnung gar nicht vermietet wird, sondern nur als unproblematische und risikolose Wertanlage dient.

Sozialwohnungen werden häppchenweise der Presse vorgestellt, die dankbar darüber berichtet, als ob vier im Bau befindliche Sozialwohnungen für 2,1 Millionen Euro im Pfaffenthal eine Trendwende beim europaweit einmalig niedrigen Bestand (2 %) schaffen könnten. Und sollte jemals im Großherzogtum eine Steuer auf Leerstand eingeführt werden, wird als erstes die Stadt Luxemburg zahlen müssen. Sie lässt gemeindeeigene Häuser über Jahrzehnte leer stehen, saniert tröpfchenweise und verschleppt die einmal begonnenen Baustellen über Jahre hinweg. Der Service du logement besetzt mit seinen Büros sinnigerweise gleich selber wertvollen Wohnraum, für den Service des parcs wird gerade ein komplettes Wohnhaus am Rande des Parc Laval umgewidmet. Die Stadt Luxemburg ist ein Paradebeispiel dafür, dass kommunale Baupolitik schon immer auch ein Mittel war, um bestimmten Bevölkerungsgruppen den Zugang zur Stadt zu erleichtern oder eben auch zu erschweren.

Wer darf in Zukunft in Luxemburg wohnen?

Der Staat, der in Luxemburg über wenig Ressourcen und kaum über Gestaltungsspielraum verfügt, versucht, an Dutzenden kleinen (Steuer- und Förder-)Stellschrauben zu drehen mit dem Ziel, den Wohnungsmarkt für die Einheimischen offen zu halten. Nimmt man jedoch die Wachstumsszenarien der Europäischen Kommission ernst (ob für das Jahr 2060 1,1 Millionen oder doch nur 960000 Einwohner einzuplanen wären, ist dabei ziemlich nebensächlich), müssten sich der Staat und die Kommunen eigentlich ganz andere Mittel geben, wenn – ja wenn der Wohnraum auch für einkommensschwächere und jüngere Bevölkerungsschichten offen bleiben soll. Nicht genutzte Flächen im Bauperimeter müssten von den Kommunen zwangsgepachtet und bebaut werden, Leerstand müsste hoch besteuert werden und der Staat müsste schnellstens einen Fonds gründen, um vergleichbar mit der französischen SAFER jedes Ackerland aufzukaufen, das zum Verkauf angeboten wird. Nur durch Maßnahmen, die auch in die Eigentumsrechte eingreifen, ließe sich langfristig eine staatliche Wohnungsbaupolitik in die Wege leiten. Ansonsten überlassen wir einfach einem Dutzend Baupromotoren die Entscheidung über die zukünftige Bevölkerungszusammensetzung dieses Landes.

Jürgen Stoldt

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