Wer nicht fragt, stirbt dumm
Einführung ins Dossier
Es heißt, eine gute Ausbildung sei eine solide Basis für die (berufliche) Zukunft. Aber was versteht man überhaupt unter einer „guten Ausbildung“? Das luxemburgische Bildungswesen hat in den vergangenen 20 Jahren einige Reformen durchlaufen. Seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahre 1881 hat sich also einiges getan, oder etwa nicht?
Im vergangenen Jahrhundert wurde pädagogisch vor allem auf reine Wissensvermittlung gesetzt. Das bedeutete: zuhören, pauken, wiedergeben. Und selbst heute noch gilt: Wer gute Noten bekommt, gilt als intelligent. Insbesondere die kognitive Leistungsfähigkeit wird durch das klassische Schulsystem gefördert – und auf gewisse Weise bereits vorausgesetzt. Doch was ist mit anderen Fähigkeiten?
Schule der Gegenwart und Zukunft
Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft, Kreativität und kritisches Denken zu vermitteln, müsste längst Ziel jeder modernen Bildungsinstitution sein. Indes, das Lernen zu lernen, ist eine Sache, unabhängig und kritisch zu denken, eine andere. Inwiefern schaffen die Schulen in Luxemburg es, eine nachhaltige Bildung für starke Bürger*innen von morgen zu lancieren?
Mit der Einführung neuer digitaler Disziplinen wird zweifellos versucht, noch auf den unaufhaltbaren Zug der Digitalisierung aufzuspringen und den Schüler*innen die Kompetenzen der Zukunft – auch wenn es wohl eher die der Gegenwart sind – beizubringen. Dabei ist die Digitalisierung längst nicht die einzige Herausforderung, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene erwartet.
Mindestens genauso unaufhaltsam: die Klimakrise. Wie kann man junge und kommende Generationen sensibilisieren, gar auf das vorbereiten, was kommt, wenn man gar nicht richtig weiß, was kommt? Die Vermittlung lebenspraktischer Kompetenzen wird – nein, ist schon jetzt – das absolute A und O.
Obwohl man nur mutmaßen kann, wie die Zukunft (des Bildungsbereichs) aussehen wird, so teilt man hierzulande doch eine Vision, oder vielleicht auch nur einen Wunsch, von starken, verantwortungsvollen jungen Menschen, die zu vollwertigen und funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen. Doch was passiert mit ihnen, wenn sie die Schule verlassen, wenn sie fertig ausgebildet sind? Manche werden sich wie Zahnrädchen ins System einfügen, werden sozial, flexibel, respektvoll sein, so wie man es wollte. Andere nicht.
Ein perfektes Schulsystem gibt es nicht und wird es nie geben. Nichtsdestotrotz sollte es eines geben, das die Stärken der Kinder erkennt, an diese anknüpft und sie beim langen Prozess des Lernens und der Selbstentfaltung begleitet. Übrigens ein Prozess, der nie endet, weil man nie auslernt. Vielleicht sollte man nicht nur die Bildungsziele des Großherzogtums hinterfragen, sondern bei den eigenen beginnen – ganz im eigenen Interesse, wider den Stillstand.
Überblick
Für Erwachsene mag Bildung Eigenverantwortung sein. Für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen ist hingegen die Schule verantwortlich. Die hiesigen Bildungsziele seien ambitioniert, bestätigt Catherina Schreiber. Dennoch erkennt sie eine (konstante) Schwierigkeit in den mehrsprachigen Strukturen unseres Schulsystems. Sie führen dazu, dass das verborgene kognitive Potenzial der Schüler*innen häufig unerkannt bleibe, so die Referentin für Ministerrats- und Parlamentsangelegenheiten im Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes. Tatsächlich verfügt das Großherzogtum, im europäischen Vergleich, über äußerst hohe Raten an Wiederholer*innen und Schulabbrecher*innen. In diesem Zusammenhang beleuchtet Schreiber den nationalen Bildungsbericht aus dem Jahr 2018 genauestens und setzt sich insbesondere mit der Frage nach Chancengleichheit sowie Bildungsgerechtigkeit im Luxemburger Schulsystem auseinander.
Warum man überhaupt zur Schule gehen muss, erfährt man in einem Beitrag von Jessy Medinger, der Verantwortlichen der Abteilung für Curriculumsentwicklung vom Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (SCRIPT). Unter anderem klärt sie über die Missionen der Schule hierzulande auf, die da wären, junge Menschen – in jeglicher Form – auszubilden, zu sozialisieren und bei ihrer persönlichen Entfaltung zu unterstützen. Dabei geht sie auf die Bedeutung eines übergeordneten Rahmens ein, der Lehrer*innen und Schüler*innen, wie ein Kompass, den Weg durch das Ungewisse weisen soll – hin zu gemeinsam angestrebten Zielen sowie zu einem individuellen und kollektiven Wohlbefinden. Als konkrete Beispiele, und nicht zuletzt als Vorbilder eines zukunftsträchtigen Bildungswesens, nennt Medinger das neuseeländische Curriculum sowie den Learning Compass 2030 der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD).
Mit der neuen Lernmethode Léieren duerch Engagement (kurz LdE) beschäftigt sich die Lehrerin und Mitarbeiterin am Zentrum fir politesch Bildung (ZpB) Manou Worré in ihrem Artikel. Für sie stellt LdE eine Möglichkeit dar, mit der man eine gemeinsame Vision von Bildungszielen in die Realität umsetzen könnte. Diese Methode, in deren Zentrum Demokratie- und Sozialkompetenzen sowie die Identität jedes Lernenden stehen, wird bereits seit fünf Jahren in verschiedenen Schulen Luxemburgs erprobt. Doch was bedeutet LdE in der Praxis? Die Methode zeichnet sich u. a. durch außerschulische Aktivitäten und Lernorte aus: Sie reicht von einem Besuch beim Förster, um etwas über die Lebensbedingungen von Tieren und Pflanzen heimischer Wälder zu erfahren, bis hin zum ehrenamtlichen Engagement bei ökologiefördernden Projekten wie dem Äerdschëff. So soll das Lernen realitätsbezogener werden und das Selbstbewusstsein sowie die Argumentationsfähigkeit von Schüler*innen stärken.
Auf die Rolle der Bildung im Kontext der dritten industriellen Revolution von Rifkin geht Louis Chauvel von der Universität Luxemburg ein. Um den Zusammenhang zu verdeutlichen, blickt der französische Soziologe auf den Zweiten Weltkrieg sowie die Nachkriegszeit zurück. Nur auf diese Art und Weise – wenn man vergangene und aktuelle Generation(en) und deren Zugang zu Bildung miteinander in Beziehung setze – könne man den sozialpädagogischen Wandel, den die Jugend derzeit durchlebt, begreifen. Neben Digitalisierung ist Diversität ein Schlüsselbegriff für Chauvel.
Digitale wie mediale Bildung sind in einer neuen Lernkultur unentbehrlich. Somit soll ab der rentrée Coding als Schulfach (sowohl in der Grundschule als auch im Secondaire) eingeführt werden – und zwar in Form von digital sciences. Durch die Einführung neuer Disziplinen sollen Kinder und Jugendliche lernen, algorithmisch, abstrakt sowie analytisch zu denken. Nicht zu Unrecht machen die Autor*innen Claire Flammang und Martine Wiltzius in diesem Kontext auf die Hürden der digitalen Teilhabe aufmerksam: Denn selbst im Großherzogtum hat längst nicht jede*r Zugang zu Computern.
Als Vorsitzender der Initiative fir Nohaltechkeet (INFINO) befasst sich Francis Schartz in seinem Beitrag mit Bildungszielen unter dem Vorzeichen der Resilienz. Er begreift sie als Prozess, bei dem der Mensch mit der Anpassung seines Verhaltens auf Herausforderungen und Veränderungen reagiert oder reagieren muss. Schartz mahnt vor Egoismus und betrachtet das Individuum als Teil eines globalen Systems. Eine Sichtweise, die für „die Jugend von heute“ unabdingbar ist, wurden ihr doch Herausforderungen wie die Klimakrise in die Wiege gelegt.
Nachhaltige Bildungsziele lautet die Maxime, mit der sich gleich zwei Autor*innen in diesem Heft beschäftigen. Als Gründer der ersten Naturschule liegt Pit Mischo das Thema Umweltbildung besonders am Herzen. Aus diesem Grund rief er unter anderem das Kollektiv „Kanner virun d’Dier“ ins Leben. Statt auf Tests und PISA-Studien setzt Mischo auf Kompetenzen wie Empathie, Weltverständnis, Verantwortungsgefühl, Zukunftsfähigkeit, Kritikfähigkeit und Teamgeist – eine Denkweise, die er mit Olga Roster teilt.
Trotz Reformen hält die Youth for Climate-Aktivistin das luxemburgische Schulsystem für veraltet. In Pilotschulen gäbe man sich zwar Mühe, vom traditionellen Prüfungs- und Punktesystem sowie vom Frontalunterricht wegzukommen, doch der Weg sei noch weit. Ebenso verhalte es sich mit der Verantwortung der Bildungsinstitutionen in Bezug auf die Klima- und Umweltkrise, sei sie doch mehr als bloß ein lästiger Punkt auf dem Pflichtprogramm. Die Klimakrise geht uns alle etwas an! Zu dieser Schlussfolgerung ist das Bildungsministerium zwar bereits 2011 mit seiner Stratégie nationale d’éducation pour un développement durable gekommen – seitdem habe sich jedoch nicht mehr viel getan, kritisiert Roster.
Um sich den Herausforderungen von morgen stellen zu können, heißt es erst, die Probleme von heute – oder gar gestern – zu bewältigen. Sozialarbeiter und Fachjournalist Christoph Horst hält die Grundpfeiler der heutigen Erziehungswissenschaften immer noch für kindfern. Erziehungsziele werden, seiner Meinung nach, um jeden Preis durchgesetzt. Selbst, wenn das bedeutet, dass man ein Kind brechen müsse. Nicht nur die Kinder betrachtet er als Opfer, sondern auch die Pädogog*innen, da diese gezwungen seien, institutionalisiert zu agieren und von oben vorgegebene Ziele durchzusetzen.
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