Esch-sur-Alzette als potentielle Kulturhauptstadt? Das hätte man nicht für möglich gehalten, vor Jahren. Esch, die ungeliebte, wichtige Nicht-Vorzeigestadt des sauberen Großherzogtums, die staubbeladene Arbeiterstadt des 20. Jahrhunderts, deren Kultur beim Kulturbeutel begann und die in den achtziger Jahren im Vorbeigehen gegen den Gemeindewillen Filmemacher, Theaterdirektoren, Schriftsteller, Musiker und Rebellen hervorbrachte, meldet seine Kandidatur an, Kulturhauptstadt Europas im Jahre 2022 zu werden.

Das klingt schon mysteriös und unglaublich und reibt sich an den geschundenen Händen unserer Väter, die die Minen nicht deswegen gesprengt haben, um sie als Kulturhauptstadt zu feiern, sondern um abends einen Teller Suppe und ein Dach über dem Kopf sowie ein klein wenig das Gefühl von Geborgenheit und Ruhe um sich zu wissen.

Esch an der Alzette ist im europäischen Gedanken des 21. Jahrhunderts nicht herausragend. Die Stadt reiht sich ein in hunderte ähnliche urbane Historien über den Kontinent verteilt, die vom großen industriellen Aufbruch, vom Eingang der sozialen Absicherungen und medizinischen Versorgung in das Arbeiterleben erzählen und die ganz wesentlich zum Reichtum einer ganzen Region beigetragen haben, um dann an anderer Stelle den neu erworbenen Wohlstand salonfähig zu machen und der Bourgeoisie erlaubten, den erarbeiteten Glanz sauber und hermetisch, auf sich besonnen, sich selber zuzuspielen und Selbstzufriedenheit zu demonstrieren.

Weshalb sollte man diese Kandidatur dennoch unbedingt und tatkräftig unterstützen und unter welcher Prämisse?

Esch stellt ein nicht einmal mit der Planung und Bebauung des Kirchberges vergleichbares, bislang nicht dagewesenes Novum in diesem Land dar: Es ist ein Ort des unwiderruflichen Aufbruchs aus industriellen Ruinen in eine universitäre Zukunft. Ein Ort der Integration von 111 verschiedenen Nationalitäten bei knapp über 30000 Einwohnern und ein Ort, der eine neue Identität finden, oder besser noch, sich eine Identität kreieren muss. Esch war im letzten Jahrhundert ein Musterbeispiel der Integration von sozial schwachgestellten, von ausländischen Menschen, von Hilfsbedürftigen. Und dies, ohne sich in der Falle der Ghettoisierung zu verlieren.

Das haben die Verantwortlichen in der Vergangenheit gutgemeint vorausgedacht.

Die Geschichte lehrt uns, dass die Armut und – darin enthalten – der Traum, eine bessere Zeit zu gestalten stets ein fruchtbarer Boden für alle innovativen Wege bei den Kulturschaffenden ist.

Nicht bedacht und in dieser Form auch nicht voraussehbar war das Abwandern vieler privater Haushalte aus Esch in andere, umliegende – vor allem ländlichere – Gemeinden und eine sich langsam aber stetig wandelnde Arbeiter- und Dienstleistungsgesellschaft hin zu einer sozial sehr schwachen, mit einem niedrigen Bildungsniveau ausgestatteten, und in vielen Fällen desillusionierten, sowohl luxemburgischen, wie auch ausländischen Bevölkerung.
Diese nicht zu vernachlässigende Bevölkerungsschicht hat nichts mehr mit den früheren Arbeitern zu tun: Sie setzt sich zusammen aus Sozialhilfeempfängern, Teilzeitarbeitern, Arbeitslosen und Menschen, die den Ausweg aus der Misere einfach nicht schaffen und sich schwer tun werden, auf den Wagen des Kulturhauptstadt-Elans zu springen. Hier konzentrieren sich die Prioritäten vielmehr auf existentielle Grundbedürfnisse, wie die zu zahlende Miete der Ein- oder bestenfalls Zweizimmerwohnungen, die permanente Überbelastung durch die Pluriparität, die schulischen Anforderungen, die aussichtslose Situation auf dem Arbeitsmarkt und den Schwelbrand der zunehmenden Resignation und damit einhergehend die soziale Unzufriedenheit und Isolation.

Und da könnte das Angebot der Kulturhauptstadt, wenn es denn gelingen wird, dieses Projekt mit der nötigen Sensibilität und Bescheidenheit voranzubringen, geradezu ein vorausblickendes Moment der Zusammengehörigkeit werden. Und da könnte man endlich wieder das Bewusstsein wecken, dass die Kultur, die hierzulande so oft und so falsch in Frage gestellt wird, ein ganz wesentlicher, unabdingbarer Bestandteil einer friedlichen Gesellschaft ist.
Aber auch diese Vorstellung von gemeinsamer Kreativität reicht nicht aus, Esch als Ort der europäischen Kultur zu prädestinieren. Wie soll Esch mit den wenigen, jedoch wunderbar funktionierenden und besetzten Kulturinstitutionen, wie dem städtischen Theater, dem Konservatorium, der Kulturfabrik, dieses Projekt angehen?

Der einzige Weg wird die Ausweitung auf den gesamten Süden des Landes sein. Und wenn man die Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahre betrachtet, so wird im Jahre 2022 fast die gesamte Fläche des Kantons Esch-sur-Alzette, die Ortsgrenzen verwischend, dicht besiedelt und bebaut sein. Die Bevölkerung wird weder die Stadtgrenzen noch die Landesgrenzen ahnen und dann wird es ein trefflicher Gedanke sein, dieses selbstverständliche Nebeneinander von multikulturell Schaffenden, von Menschen aus aller Welt, die sich über völlig unsinnigen und beim Stammtisch überbewerteten Sprachbarrieren hinweg und Reisepässen zum Trotz, (im Vorbeigehen) „Kulturhauptstadt“ zu nennen.
Dieser Dreiländersüden wird das Argument für die Kulturhauptstadt liefern: Eine ganze länderübergreifende, großflächige Region hat über Jahre hinweg gezeigt, wie man zusammen lebt und arbeitet in einer Selbstverständlichkeit, die nicht als Programm oder theoretisches Gebilde am Schreibtisch konstruiert und betitelt wurde, sondern die sich ergeben hat.

Und wenn man dann den kulturellen Beitrag dieser stets im Hintergrund funktionierenden Region schon heute an den jeweiligen Hauptstädten vorbei betrachtet und ihre Qualität verstanden hat und wenn es gelingen wird, auf einem kulturell weitgehend neutralen Terrain die Experimentierfreudigkeit und Innovation der Künstler anzuregen, damit auch nach Ende des Jahres etwas Beständiges übrigbleiben wird und die Organisatoren nicht nur mit großem finanziellen Aufwand eine noch bessere, blendende, mit Events vollbeladene, überbietende und glamouröse Kopie der vorhergehenden Kulturhauptstädte, sondern eine neue, der Region des Süden angepasste, bescheidene, qualitativ hochwertige und langfristige Investition ausdenken, dann könnte die Kulturhauptstadt Esch ein wahrer Glücksfall für Luxemburg, die Kultur und die europäische Idee von Freiheit sein.

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