- Geschichte, Gesellschaft
Where do we go from here?
Wie sich die Demokratie trotz allem auch in Luxemburg weiter entwickeln könnte
Zwei Überlegungen motivierten die neue Regierung, als sie 2013 in ihrem Koalitionsprogramm ein Referendum zur Reform des Wahlrechts ankündigte. Einerseits sah sie den Zeitpunkt näherrücken, wo weniger als die Hälfte der Einwohner des Landes über das Wahlrecht verfügt. Ab diesem Moment wäre, wenn nichts geschieht, die Legitimität der hiesigen Demokratie ernsthaft in Frage gestellt, eine Minderheit würde dann in Luxemburg eine Mehrheit regieren.
Sie war aber auch (wie praktisch alle politischen Instanzen in Luxemburg) in Sorge angesichts der eigenen Wählerschaft: Diese wirkte in den letzten 10 Jahren der Juncker-Regierungen auf die politisch-wirtschaftliche Führungsschicht wie eine Versammlung unreifer Kinder, die sich immer neue Spielsachen wünschten. Insbesondere die gewerkschaftlich organisierten Beamten und Lehrer sollten implizit durch eine Verbreiterung der Wählerbasis ein Gegengewicht erhalten und mit der „Realität“ in der Privatwirtschaft konfrontiert werden. Notwendige Reformen, etwa im Schulwesen oder im Pensionsrecht, würden dann einfacher durchzusetzen sein, so das Kalkül.
Der Wunsch nach einer demokratischen Öffnung einerseits und einer besseren Abbildung der gesellschaftlichen Realitäten andererseits führte im Vorfeld der Wahlen zu einer überraschenden Koalition aus Zivilgesellschaft, Ausländervereinigungen und Unternehmerverbänden. Es gelang, einen Großteil der Parteien (DP, LSAP, déi gréng und Déi Lenk) dazu zu bewegen, sich das „Ausländerwahlrecht“ auf die Fahnen zu schreiben. Die Entscheidung der neuen Regierung, dieses Vorhaben über ein Referendum und nicht über ein Gesetz durchzusetzen, stellte sich dann jedoch als katastrophaler Fehler heraus: Rund 80% der Wähler lehnten am 7. Juni 2015 die Reform ab.
Wahlrechtsreform über Umwege
In der Debatte im Vorfeld des Referendums hatte die CSV alternative Vorschläge eingebracht. Sie schlug statt der Ausweitung des Wahlrechtes auf ansässige Ausländer eine weitere Vereinfachung des Zugangs zur Nationalität vor mit dem Argument, dass das Wahlrecht nur am Ende einer erfolgreichen „Integration“ stehen könne und diese über die Erlangung der Nationalität führen müsse. Sofort nach dem gescheiterten Referendum nahm die Dreier-Koalition die CSV beim Wort und setzte gemeinsam mit ihr eine weitreichende Reform des Nationalitätengesetzes um, das nun zu den liberalsten in ganz Europa gehört (siehe den Beitrag von Alex Bodry in dieser Ausgabe auf Seite 39).
Die instabile Lage in unseren Nachbarländern, aber auch die Unwägbarkeiten des Brexit lassen gleichzeitig das Interesse an der luxemburgischen Nationalität in neue Höhen schnellen. Hunderte Menschen lernen zurzeit die kleinste unserer drei Nationalsprachen, deren ungefähre Kenntnis als Beweis für eine erfolgreiche „Integration“ dienen soll.
Daneben konnten über die Regelungen zur Wiedererlangung der Nationalität („Recouvrement“) seit 2009 einige Tausend Menschen weltweit die luxemburgische Nationalität erlangen und – wenn sie das wollten – nebenbei in die luxemburgischen Wahllisten aufgenommen werden. Diese Menschen, die im Ausland leben und ansonsten die US-amerikanische, brasilianische, deutsche, französische oder belgische Nationalität besitzen, müssen direkte Vorfahren in Luxemburg für das Jahr 1900 belegen. Hier gelten nicht die Sprachkenntnisse oder die Verweildauer als entscheidende Bedingung für die Staatsbürgerschaft, sondern der Anteil Luxemburger Ur-DNA.Der Einfluss dieser Menschen auf den Ausgang der nächsten Chamberwahlen wird sicherlich für interessante Diskussionen in den Parteizentralen sorgen (siehe den Beitrag von Pierre Lorang auf Seite 42 und das Interview mit Josy Arens, dem Bürger-
meister von Attert (BE) auf Seite 44).
Eine Hälfte der Bevölkerung ohne politische Stimme?
Trotz des positiven Einflusses von „Recouvrement“ und Einbürgerung auf die absoluten Zahlen der Wahlberechtigten wird sich das Demokratie-Dilemma des Landes nicht so einfach lösen lassen. Mit über 10000 neuen Bürgern pro Jahr wächst das relative Gewicht der ausländischen Bevölkerung weiter. Die fortgesetzte Nicht-Beteiligung einer Hälfte der Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen kann sich dabei leicht zu einem systemischen Risiko für das Land auswachsen, denn in der Tat besteht die Gefahr, dass das politische System für wichtige Interessen in der Bevölkerung blind bleibt (in der Schulpolitik ist genau dies geschehen). Die Alternative ist, dass diese Interessen andere Wege finden, um sich außer-halb der formalen politischen Arena in die Entscheidungsprozesse einzubringen.
Zumindest den Unternehmen gelingt es sehr wohl, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Akteure wie AmCham, PWC, Arendt & Medernach oder IOWEI dienen als sehr effiziente Vermittler von Interessen nicht nur ihrer jeweiligen Organisationen sondern darüber hinaus ganzer Branchen und ihrer Mitarbeiter. Daneben obliegt es zurzeit einzig der Zivilgesellschaft (den Gewerkschaften, der Kirche und den Umweltschutz- und Kulturvereinen) die Interessen auch jener Bürger zu vertreten, die nicht über das Wahlrecht verfügen.
Die Demokratie gerät unter Druck
Nicht nur in Luxemburg wird über die Weiterentwicklung der Demokratie nachgedacht. Bei vielen politischen Denkern ist im Zuge der jüngsten Wahlergebnisse (Polen, Ungarn, Spanien, Griechenland, Italien, aber auch Schweiz, Niederlande und Belgien) das Vertrauen in Wahlen als geeignetes Instrument zur Ermittlung von politischem Führungspersonal gesunken. Insbesondere der Ausgang des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten haben eine Diskussion befeuert, wie man die Demokratie besser vor ihren Gegnern schützen könne. Das Zusammenspiel von sozialen Medien, Wahlen und/oder direkter Demokratie hat in den USA und in vielen Ländern Europas dem Rechtspopulismus und ihrem Anti-Eliten-Diskurs in die Hände gespielt. Die Leitmedien, die früher die politische Debatte in einem hohen Maße bündeln konnten, haben ihren regulierenden Einfluss verloren. Hinzu kommt, dass das Wahlvolk von einer gewissen Demokratie-Müdigkeit ergriffen ist.
Alle Umfragen (Eurostat, World Value Study, …) weisen darauf hin, dass in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung die Unsicherheit über die eigene Zukunft in einen Zweifel an der Lösungsfähigkeit des demokratischen Systems umgeschlagen ist. Die Welt wird mehr und mehr als Chaos wahrgenommen, und immer lauter wird der Ruf nach autoritären Lösungen. In den USA mündete diese Tendenz jetzt in eine von Donald Trump angeführte Revolte gegen die liberale, parlamentarische Demokratie. Man kann darauf vertrauen, dass die amerikanische Zivilgesellschaft und die starken Institutionen des Landes alles tun werden, um diese Revolte in den kommenden vier Jahren klein zu halten. Doch die Beispiele Türkei und Ungarn zeigen, wie dieser Versuch scheitern kann und wie sich ein autoritäres Regime (Viktor Orban spricht von der „illiberalen Demokratie“) verankert, indem systematisch alle anderen Institutionen (Parlament, Justiz, Presse, Zivilgesellschaft und Wissenschaft) entmachtet werden. Wahlen dienen dann nur noch der plebiszitären Bestätigung von Herrschaft.
Mittlerweile stellen sich viele Autoren die Frage, ob der globalisierte Kapitalismus überhaupt noch den liberalen, demokratischen Rahmen braucht, der seinen Siegeszug erst ermöglicht hatte. Russland, China und Indien, aber auch kleine Staaten wie Singapur, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate zeigen eindrücklich, wie der globalisierte Kapitalismus Hand in Hand mit autoritären und nationalistischen Regimen zusammenarbeitet. Diese Regime haben verstanden, dass sie im Zeitalter der Globalisierung ihren Bevölkerungen keinen ökonomischen Schutz mehr bieten können. Als Ersatz versprechen sie auf der imaginären Ebene kulturelle Souveränität, Abschottung und einen heroischen Kampf gegen die Wertesysteme der „Anderen“.
Bürgerkonvente zur Stärkung der Demokratie
Unter anderem der belgische Publizist und Historiker David Van Reybrouk, Autor des Buches Against Elections: The Case for Democracy, fordert vor dem Hintergrund der populistischen Revolte dazu auf, den Akzent langsam von den Wahlen weg zu anderen Verfahren der demokratischen Willensäußerung zu legen. Wahlen wären in den heutigen Zusammenhängen eine ungeeignete, zumindest ungenügende Form für die demokratische Entscheidungsfindung. Er plädiert insbesondere für über Losverfahren zusammengesetzte Bürgerforen, die den Parlamenten zuarbeiten. Diese hätten den Vorteil, die Bürger in eine kontinuierliche, über den Wahleinsatz hinausgehende, politische Beteiligung einzubinden und sie mitverantwortlich zu machen für große gesellschaftliche Weichenstellungen.
Irland hat (neben Island) in dieser Hinsicht bislang die größten Erfahrungen gesammelt. Zwischen 2012 und 2014 war ein Bürgerkonvent mit der Behandlung einer Reihe von Verfassungsfragen betraut. Der Konvent bestand aus 100 Mitgliedern: einem Vorsitzenden, 29 Abgeordneten und Senatsmitgliedern, vier Vertretern nordirischer Parteien und 66 über Los ausgewählten Bürgern. Diese 66 Teilnehmer waren von einem Wahlforschungsinstitut ausgewählt worden und repräsentierten die irische Wahlbevölkerung in ihrem Alters-, Regionen- und Geschlechterprofil. Die Ergebnisse der Versammlung, die öffentlich tagte und zu ihren Beratungen Experten einlud, waren exzellent motiviert und genießen eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Regierung und Parlament waren nicht gezwungen, die Vorschläge des Konventes umzusetzen, haben aber auf die meisten Punkte reagiert (durch Referendum oder die Verabschiedung eines Gesetzes). So ist in Irland per Referendum die gleichgeschlechtliche Ehe angenommen und die Absenkung des Alters des Präsidenten von der Bevölkerung abgelehnt worden (ohne dass dies der Regierung geschadet hätte). An diese Initiative schloss sich seit Ende 2016 ein Bürgerforum an, in dem weitere gesellschaftlich relevante Themen behandelt werden, z.B. die Überalterung der Gesellschaft, die Verantwortung
Irlands im Zuge des Klimawandels, die Reform der Abtreibungsgesetzgebung…
Man sieht sofort, welche Möglichkeiten ein solches Vorgehen für ein Land wie Luxemburg haben könnte, das durch die restriktive Zusammensetzung seiner Wählerschaft riskiert, in eine politische Falle zu geraten. Nicht nur könnte über Bürgerkonvente die nicht-luxemburgische Wohnbevölkerung politisch eingebunden werden, sondern auch die Grenzgänger, die großen Abwesenden im politischen Diskurs, könnten hier ihren Platz finden (beim irischen Beispiel waren vier Abgesandte aus Nordirland vertreten). Die Grenzgänger zahlen Steuern, ermöglichen Wachstum, halten das System am Laufen und sind dabei täglich von den politischen Entscheidungen betroffen. Wären sie in irgendeiner Form politisch eingebunden, hätte Luxemburg längst erkannt, dass es eine Verantwortung über seine territorialen Grenzen hinaus trägt.
Erfahrungen in Luxemburg
Auch in Luxemburg konnte man sich in den letzten Jahren punktuell vom Potential solcher Gremien ein Bild machen. Im Vorfeld des Klimagipfels in Kopenhagen veranstalteten ASTM, Greenpeace und Caritas die Aktion 180Grad. Vorgesehen war, dass die 20 von TNS-Ilres ausgesuchten Teilnehmer drei Vorträge hören und eine Reise nach Grönland bzw. Bangladesch unternehmen, um (vor laufenden Kameras) mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert zu werden. Die Gruppe gewann jedoch an Eigendynamik und arbeitete fast ein Jahr zusammen, lud im Wochenrhythmus Experten zu Vorträgen ein und lieferte ein Schlussdokument ab, das jedem Parlament zu Ehren gereicht hätte.
Im Vorfeld der letzten Nationalwahlen organisierte die Handelskammer eine „partizipative“ Veranstaltungsreihe und eine interaktive Internetseite, um Ideen für ein Luxemburg von morgen zu sammeln. Angesprochen von der Initiative 2030.lu waren gerade nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern ebenso ausländische Arbeitnehmer aus der Privatwirtschaft sowie Grenzgänger. Das Angebot, nachhaltige Zukunftskonzepte für das Land zu entwickeln, wurde mit Begeisterung aufgenommen. In eine ähnliche Richtung wollte auch der Rifkin-Prozess gehen, der sowohl anerkannte Fachleute als auch Bürger unabhängig von ihrer Herkunft zusammenbrachte.
Im Herbst wird das MDDI mehrere regionale Bürgerkonferenzen einberufen, um im Rahmen der Neuauflage des „Programme directeur d’aménagement du territoire“ die Frage nach den Wachstumsfolgen und die zukünftige territoriale Organisation des Landes kontro-vers zu diskutieren. Ziel ist es, in einem klar gesteckten Rahmen einen Teil der Analyse und der Orientierung in die Hände von 200 Bürgern zu legen. Ob das gelingen wird, dürfte u.a. von der Lesbarkeit des Konzeptes abhängen. Das Risiko besteht, dass die Arbeit in einem vielschichtigen Dickicht von gesteuerten Arbeitsgruppen verloren geht, und Inhalte und Eingaben nur mühsam an den Rapporteuren und Moderatoren vorbei nach oben wandern.
Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Luxemburg schon jahrzehntelange Erfahrungen mit politischen Gremien im vorparlamentarischen Raum gesammelt hat. Die Tripartite war eine Instanz, in der sich die Sozialpartner (Unternehmerverbände und Gewerkschaften) gemeinsam mit der Regierung trafen und die großen finanz- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen trafen. Dem Parlament blieb im Nachhinein nichts anderes übrig, als den dort ausgehandelten Kompromiss abzunicken und in Gesetzesform zu bringen. Niemand will heute zu einem derartig undemokratischen Verfahren zurück, wo eine Gruppe von Eingeweihten an der Öffentlichkeit vorbei die Dinge unter sich ausmacht. Doch die Tripartite ist ein his-torischer Anknüpfungspunkt, der zeigt, dass die Arbeit des Parlamentes sehr wohl aus der Gesellschaft heraus bereichert werden kann.
Denn es ist gerade das Parlament, das durch eine zusätzliche Einbindung der Bürger gewinnen würde. Zurzeit beschränkt es sich auf eine einzige Funktion: Es dient im Anschluss an Wahlen als Mehrheitsbeschaffer. Weitere Impulse gehen von diesem Gremium nicht aus, und im Unterschied zu allen anderen Ins-titutionen des Landes (Regierung, Verwaltung, Staatsrat, Justiz und Presse) hat das Parlament den Bruch von 2013 nicht genutzt, um eine Erneuerung einzuleiten.
So wird eine der Herausforderungen der nächsten Jahre darin bestehen, die luxemburgische Demokratie weiter zu öffnen und Instrumente zu entwickeln, die geeignet sind, die bislang ausgeschlossenen Teile der Bevölkerung in den politischen Prozess mit einzubinden.
Where do we go from here – Chaos or Community? lautet der Titel des letzten Buches von Martin Luther King. Auch heute noch unbedingt lesenswert.
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