- Geschichte, Gesellschaft, Politik
Wie hältst du’s mit der Information?
Obschon die Weitergabe und Veröffentlichung vertraulicher Daten keineswegs neu ist, scheint dem sogenannten „Whistleblowing“ im Laufe des letzten Jahrzehnts eine besondere Bedeutung zugekommen zu sein. Dies könnte unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass die rezenten Enthüllungen nicht örtlich begrenzt sind, sondern zu großen Teilen weltweite Netzwerke und die Implikation zahlreicher Staaten aufgedeckt haben. Die im Rahmen des aktuellen LuxLeaks-Prozesses oftmals getätigte Aussage, Luxemburg habe stets legal gehandelt, während die Whistleblower durch die Daten-Leaks das Gesetz gebrochen hätten, wird hierzulande vermehrt angefochten. Konsensfähig ist die Thematik dementsprechend nicht. Der Akt des Whistleblowings spaltet gegenwärtig die Gemüter und stellt unsere Gesellschaft vor interessante Herausforderungen. Wie Luxemburg, so müssen sich auch viele weitere Länder die datenbezogene Gretchenfrage stellen: „Wie hältst du’s mit der Information?“.
In einem Land, in dem mehr als 70% der Gesamtbevölkerung soziale Netzwerke nutzen, also unter anderem Mark Zuckerberg mit persönlichen Daten mästen und man fast schon unter Generalverdacht gerät, wenn man keine „Cactus-Clientskaart“ möchte, ist der Satz „Ich habe nichts zu verbergen“ für viele Bürger zu einem unreflektierten Leitspruch geworden. Dass es weitaus passender wäre, wenn Unternehmen sich dies auf die Fahnen schreiben würden, scheint viele nicht zu interessieren. Dies wird wohl einer der Gründe dafür sein, dass die Antworten auf die oben gestellte Frage sehr unterschiedlich ausfallen: Während Antoine Deltour vom Europäischen Parlament zum Europäer des Jahres ernannt wurde, statuierte der Steuerrechtsexperte Alain Steichen im vergangenen Jahr in Bezug auf „Mister Taxruling“: „Den Här Kohl misst all Medaille kréien, déi mir zu Lëtzebuerg opdreiwe kënnen“. Diese grundverschiedenen Interpretationen zeugen davon, dass man sich auch über das Bild des „modernen Helden“ nicht einig ist.
Die derzeitige Situation weist auf Spannungen zwischen verschiedenen Interessengruppen hin: Hat Kohl oder doch Deltour mehr für das Großherzogtum getan? Die Unterstützer Deltours weisen unermüdlich darauf hin, dass Deltour im öffentlichen Interesse gehandelt habe. Auch die Verteidigung Deltours plädiert für den „intérêt général“. Jedoch stellt sich die Frage nach der eigentlichen Bedeutung dieses abstrakten Begriffes. Im Larousse steht unter dem Stichwort „intérêt général“: „Conception de ce qui est bénéfique à l’ensemble des membres d’une communauté.“ Hier kann man sich fragen, ob sich alle Betroffenen (sofern sich überhaupt alle Bürger und Bürgerinnen betroffen fühlen) als Teil ein und derselben Gemeinschaft wahrnehmen. Wenn ja, wer oder was ist diese Gemeinschaft? Gehören Privatunternehmen auch dazu? Könnte es sich hier um ein Konstrukt handeln, das je nach Belieben eingegrenzt werden kann? Wie lässt sich bestimmen, was das Interesse der Allgemeinheit ist und wer darf darüber entscheiden? Wie werden diese Konzepte derzeit verhandelt und wo? Solange diese Fragen unbeantwortet bleiben, werden auch weiterhin Spannungen bestehen.
Mehr Aufschluss geben die weiteren Erläuterungen im Larousse, denn sie weisen auf den politischen Charakter des Konzeptes hin: „La notion d’intérêt général n’a de sens que pour un groupe d’individus membres d’une communauté, telle une collectivité, à laquelle ils ont conscience d’appartenir. Il est du ressort de l’État de poursuivre des fins d’intérêt général – c’est-à-dire d’entreprendre des actions qui présentent une valeur ou une utilité pour tous ceux sur lesquels s’exerce son autorité– et de les faire prévaloir sur certains intérêts particuliers.“ Es wird also konkret auf die Aufgabe des Staats hingewiesen, die darin besteht, das Allgemeininteresse seiner Bürger zu verfolgen.
Es ist diese politische Dimension, die der Richter derzeit im Verfahren tunlichst zu vermeiden sucht. Er setzt alles daran, kein Politikum aus dem Fall zu machen und somit stellt er unablässlig die „Pertinenz“ der Interventionen der Verteidigung in Frage. Wie sehr er selbst aber damit eine dezidiert politische Haltung einnimmt, offenbarte er, als er bei der Befragung des Polizeibeamten nicht eingriff, als dieser von der angeblich anti-kapitalistischen Haltung des Angeklagten Deltour sprach, weil er unter anderem einen grünen Newsletter abonniert hat, als sei das ein Indiz für illegale Praktiken.
Sowohl bei den Unterstützern als auch bei den Kritikern fallen immer wieder die gleichen Schlagworte, die alle schwer fassbar sind und letzten Endes von einem Richter durch seinen Rechtsspruch definiert werden. Stellt ein Whistleblower demnach ein moralisches Vorbild dar, das trotz der erheblichen Gefahren seine ethische Pflicht erfüllt und im Interesse der Allgemeinheit Tätigkeiten aufdeckt, die er als illegal und schädlich erachtet? Oder bringt er durch die Verbreitung privater oder geheimer Informationen Menschen und Institutionen in Gefahr?
Dieser enorme Zwiespalt lässt sich ebenfalls am Beispiel des US-amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden beobachten, der 2013 die Welt über die globalen Überwachungspraktiken der NSA aufklärte. Während er außerhalb der USA mehrheitlich für seine Enthüllungen gelobt und sogar für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, erließ das Justizministerium der Vereinigten Staaten unter dem Espionage Act (1917) einen Haftbefehl gegen den landesflüchtigen Amerikaner, welcher nunmehr in seiner Heimat als Landesverräter und Spion gilt. Es mutet absurd an, dass ein Whistleblower sich wegen Spionage verantworten muss, weil er ein weltweites Überwachungs- und Spionagenetzwerk offengelegt hat.
Die Clearstream-Affäre, die NSA-Enthüllungen, der LuxLeaks-Skandal, die Panama Papers sowie weitere weniger bekannte Beispiele werfen wichtige Fragen über die Rolle und die Wahrnehmung von Whistleblowern in unserer globalisierten Welt auf. Wenn Taxrulings und Überwachung durch den Staat legal sind, während Whistleblowing als illegal gilt, dann muss man sich die Frage stellen, in wessen Interesse und von welchen Mandatsträgern eigentlich die Gesetze in Luxemburg und auch anderswo geschaffen werden. Welche Möglichkeiten hat der Bürger hier, um die Rechenschaftspflicht des Staates einzufordern? Diese Fragen können also nicht weiter ignoriert werden, denn der nächste Whistleblowing-Skandal kommt bestimmt. Als die EU-Spezialkommission „TAXE“ im vergangenen Mai in Luxemburg war, sagte Eugène Berger: „Mir hunn hei wierklech gewisen, dass mir eigentlech net en Deel vum Problem sinn, mee en Deel vun der Solutioun.“ Ob dies zutrifft, muss sich erst zeigen.
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