Wie man Antisemiten erfindet
Replik auf „Der ewige Sündenbock“ von Henning Marmulla
Auf Henning Marmullas Leitartikel über neuere antisemitische Tendenzen (auch in Luxemburg) in forum 419 (Juli 2021) erschienen in forum 420 (September 2021) zwei Repliken von Hubert Hausemer und Michel Pauly. Marmulla reagierte in der Oktober-Ausgabe (forum 421). Henri Grün vom Comité pour une paix juste au proche-orient (CPJPO) schrieb uns im März dieses Jahres, dass das CPJPO in Marmullas zweitem Beitrag mehrfach erwähnt und ihm antisemitisches Gedankengut unterstellt werde. Lesen Sie im Folgenden nun seine Reaktion.
Um es gleich vorweg zu sagen: Das CPJPO distanziert sich von jeder Form von Rassismus, so auch dem antijüdischen Rassismus, dem Antisemitismus. Das CPJPO stellt auch das Existenzrecht Israels nicht in Frage: Ein Blick auf die Charta und die Veröffentlichungen des CPJPO kann das leicht bestätigen. Was die Hamas betrifft, so lehnen wir unmissverständlich alle antisemitischen Inhalte in deren Charta als Rassismus ab1, ebenso wie Gewalt gegen Zivilisten gemäß dem humanitären Völkerrecht, ob diese nun von der Hamas oder von Israel zu verantworten ist.
Antisemitismusdefinitionen
Zum Thema Antisemitismusdefinitionen (IHRA-Definition versus die sogenannte „Jerusalemer Erklärung“) sind bereits wichtige Argumente von beiden Seiten genannt worden, wobei wir in großen Linien der Argumentation der Autoren Hausemer und Pauly folgen. Allerdings möchten wir auf einen Aspekt eingehen, der uns besonders wichtig ist, da wir direkt in unserer Arbeit davon betroffen sind: Die IHRA-Definition wird heute im Wesentlichen dazu benutzt, Kritiker der Politik des israelischen Staates mundtot zu machen, der Antisemitismus-Vorwurf ist zum Herrschaftsinstrument im politischen Diskurs geworden. Dies wird von Marmulla bestritten und als „absolute Pappfigur“ abgetan.2 Nun ist es so, dass mit Hilfe der IHRA-Definition und dem in dieser Definition geförderten Konstrukt eines sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“ zunehmend Unsicherheit darüber geschürt wird, was gesagt werden darf und was nicht. Diese Unsicherheit, gepaart mit der Angst als Antisemit diffamiert zu werden, wird benutzt, um eine entsprechende Stimmung in der Öffentlichkeit, bei Veranstaltern und Politikern aufzubauen und israelkritische Veranstaltungen oder solche, die die Rechte der Palästinenser verteidigen, zu verhindern. Dazu einige Beispiele zur Erläuterung:
Die Vereinigung Recherche et information sur l’antisémitisme au Luxembourg (RIAL), auf deren Veröffentlichungen sich Marmulla in seinen beiden Beiträgen bezieht, hat mehrere ihrer Jahresberichte in beträchtlichem Umfang dazu verwendet, die Vereinigung CPJPO als antisemitisch zu diffamieren. Dies geschah mittels fragwürdiger, zum eigenen Zweck künstlich konstruierter Statistiken und auf Grundlage der auf Israel bezogenen Anwendungsbeispiele der IHRA-Definition. Diese Diffamierungen fanden ihren Weg bis ins luxemburgische Parlament, wo Rechtsaußen F. Kartheiser der Partei ADR sie gegenüber dem CPJPO in aller Öffentlichkeit wiederholte.3 Dabei wurde die Zielrichtung der Kampagne offen genannt: Den Kooperations- und Sensibilisierungsprojekten des CPJPO soll seitens des Kooperationsministeriums der Geldhahn zugedreht werden. Hier schließt sich der Kreis zwischen der Kritik an der Politik des Staates Israel, dem Antisemitismusvorwurf und handfesten Folgen.
Ähnliche Reaktionen musste neulich auch Amnesty International (AI) in Luxemburg, anlässlich der Veröffentlichung ihres Berichts zur Menschenrechtslage in Israel und im besetzten Palästina, erfahren. Wie andere Menschenrechtsorganisationen zuvor – so u. a. Human Rights Watch und die israelische B’Tselem – gelangt AI in ihrem Bericht aufgrund eingehender Analyse der israelischen Gesetze, deren Anwendung und vieler nicht bestreitbarer Fakten zum Schluss, dass Israel laut internationalem Völkerrecht als Apartheid-Staat bezeichnet werden muss, was ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Die Reaktion des RIAL-Präsidenten auf der Antenne von RTL4 ist aufschlussreich: Er bedauert die Veröffentlichung, da sie ja den Antisemitismus fördere! Kein Wort zum Inhalt der Vorwürfe selber. Spätestens hier müsste sich doch selbst der größte Israelfreund eingestehen, dass der Antisemitismusvorwurf benutzt wird, um unliebsame Wahrheiten als unsagbar zu brandmarken. Ähnliche Reaktionen hat es übrigens auch von führenden israelischen Politikern gegeben, die ja prinzipiell alle unbequeme Kritik an der Politik des Staates Israel als Antisemitismus abtun – so auch die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofes, sich für die Untersuchung von möglichen Kriegsverbrechen Israels im besetzten Palästina zuständig zu erklären.
Marmulla bezieht sich, in eigener Sache argumentierend, auf den sogenannten BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages.5 Zum Thema BDS (Boycott, Divestment, Sanctions): Die sogenannte BDS-Kampagne wurde 2005 von 170 palästinensischen Gruppen gegründet, die dem bewaffneten Kampf abgeschworen hatten. Die BDS-Kampagne ist gewaltfrei, erklärtermaßen nicht antisemitisch, stellt das Existenzrecht Israels nicht in Frage und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat deren Verbot als inkompatibel mit Grundrechten abgelehnt. Die BDS-Kampagne ist nichts anderes als ein Versuch der Palästinenser, die Weltgemeinschaft für ihre Rechte zu mobilisieren, angesichts der weitgehenden Gleichgültigkeit der westlichen Staaten gegenüber der andauernden Besetzung ihres Landes. Der BDS-Beschluss des deutschen Bundestages von 2018, der diese Kampagne als antisemitisch erklärt, kam maßgeblich unter Bezugnahme auf die IHRA-Definition und auf Betreiben des israelischen Ministeriums für strategische Angelegenheiten zustande.6 Dieser Beschluss fordert dazu auf, Organisationen und Personen, die BDS unterstützen, nunmehr selber zu boykottieren. Der Beschluss wurde massiv kritisiert, so u. a. von der renommierten Bundesstiftung „Wissenschaft und Politik“, von der Heinrich-Böll-Stiftung und von 240 jüdischen und israelischen Wissenschaftlern, die sich in einem offenen Brief an das deutsche Parlament wandten und davor warnten, die Unterstützer der Menschenrechte der Palästinenser als antisemitisch zu bezeichnen.7 Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat schnell klargestellt, dass dieser Beschluss in keiner Weise über eine rechtliche Bindung verfügt. Wie der deutsch-jüdische Experte für Fragen des Antisemitismus, Micha Brumlik, überzeugend nachweist, entwickelte sich im Gefolge eine neue Art von McCarthyismus, ähnlich der Kommunistenjagd in den USA der 1950er Jahre, bestehend aus denunzierender Gesinnungsschnüffelei und paranoider Diffamierung.8 Es folgten die Kampagnen gegen den postkolonialen afrikanischen Philosophen Achille Mmembe anlässlich der Ruhrtriennale und der Rücktritt des weltweit geachteten Experten und Direktors des Jüdischen Museums in Berlin, Peter Schäfer, aufgrund einer erneuten Diffamierungskampagne. Jedes Mal mischte der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kräftig mit, immer mit der IHRA-Definition als schlagkräftigem Argument in der Hand. Nicht umsonst haben sich auch im letzten Fall wieder jüdische und israelische Wissenschaftler zu Wort gemeldet und den Rücktritt von Klein gefordert, da er dem Kampf gegen Antisemitismus mehr schade als nütze. Als Reaktion auf die Gesinnungshetze gründeten zahlreiche deutsche öffentliche Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die sich (im Sinne von Artikel 5 des Grundgesetzes) für die Wahrung der Meinungsfreiheit im Umgang mit der BDS-Kampagne ausspricht.9
Fazit: Durch die Vermischung des Begriffs Antisemitismus mit den Staatsinteressen Israels – wie es in der IHRA-Definition geschieht –, d. h. die Aufrechterhaltung der Besetzung der palästinensischen Gebiete (Grenzen von 1967) und des Apartheidsystems als Herrschaftsinstrument über die dort lebenden Palästinenser, wird ihm seine eigentliche Bedeutung genommen. Antisemitismus ist eine Form von Rassismus, antijüdischem Rassismus. Im Sinne der Philosophie der Menschenrechte darf dieser Begriff nicht zweckentfremdet werden und seine Benutzung zu einem strategischen Instrument im politischen Diskurs der Macht werden. Menschenrechte sind universell: Man kann diese nicht für eine Volksgruppe einfordern und deren Missachtung in Bezug auf eine andere Volksgruppe billigen – wie glaubwürdig wäre eine solche Position?
Noch ein Wort zu BDS
Wenn man den BDS-Beschluss des Bundestags als legitim ansieht, wie steht es dann mit dem gerade aktuellen und massiven BDS gegen Russland anlässlich des Krieges gegen die Ukraine? Ist dieser womöglich eine Emanation einer rassistischen Russenfeindlichkeit? Auch hier geht es um die völkerrechtswidrige Besetzung eines fremden Landes. Wie es ein Artikel aus der israelischen Zeitschrift Haaretz10 treffend auf den Punkt bringt: Einige Wochen Ausschluss von Israel aus dem SWIFT-Zahlungssystem würden dazu führen, dass Israel – wenn auch unter Zwang, aber immerhin – die völkerrechtsverbindlichen Standards einhalten und sein Besatzungsregime nach Jahrzehnten beenden müsste.
Die ganze Wahrheit, ein Tabu?
Marmulla betont11, dass Deutschland eine besondere Beziehung zum Antisemitismus und zu Israel habe. Hier, wie in Israel auch, wird – mit den Worten des israelischen Philosophen Omri Boehm – die Shoah als Gründungsmythos des Staates Israel „sakralisiert“, der Staat Israel als Inbegriff jüdischer Auferstehung nach dem Massenmord verstanden.12 Damit verwandelt sich die Kritik an diesem Staat in ein Tabu. Nicht ohne Grund spricht Marmulla in seinem Beitrag davon, dass die „Jerusalemer Erklärung“ ein Versuch sei, die „Grenzen des Sagbaren“ zu verschieben.13 Heißt dies, dass es ein Sakrileg ist – der Bruch eines Tabus –, die Wahrheit über den Staat Israel zu sagen, und zwar die dunkle Seite dieser Wahrheit?
Anstatt die Beschreibung der Tatsachen und die Offenlegung der Wahrheit zu tabuisieren – womit ja auch im Umkehrschluss gesagt ist, dass die Verschleierung der Wahrheit eine gerechtfertigte Waffe im Kampf gegen den Antisemitismus sei –, sollte eher die naheliegende Frage gestellt werden, ob nicht die Tatsachen selbst, nämlich die Politik des Staates Israel und dessen Gleichsetzung mit dem Judentum, Förderer des Antisemitismus sind? Zu diesem Schluss kommen zumindest immer mehr liberale Juden weltweit, indem sie laut sagen: „Not in my name!“. Wer sich also um die Sicherheit der Juden sorgt, sollte auch den Mut aufbringen, aufzustehen und diese unglückselige Geiselnahme der Juden für die völkerrechtswidrige und menschenrechtsverachtende Politik des Staates Israel gegenüber dem palästinensischen Volk ablehnen.
Zwei-Staaten-Lösung, Apartheid, oder .…?
Zur Debatte steht nicht das Existenzrecht Israels, sondern: Welche Politik macht dieser Staat? Als Vereinigung, die in den besetzten Gebieten Entwicklungshilfeprojekte durchführt, ist das CPJPO hiervon direkt betroffen. Dass dieser Staat ungestraft die Menschenrechte der Palästinenser verletzt und deren Land seit über 50 Jahren völkerrechtswidrig besetzt, Annexionen durchführt, Einheimische vertreibt, ihre Häuser zerstört, Angehörige der eigenen Volksgruppe dort ansiedelt, kollektive Bestrafung praktiziert usw., kann doch wohl unter vernünftigen Menschen nicht bestritten werden, ebenso wenig die Tatsache, dass durch die fortschreitende und strategisch geplante Siedlungspolitik die Zwei-Staaten-Lösung zur leeren Floskel geworden ist. De facto gibt es heute bereits die Ein-Staaten-„Lösung“: Israel beherrscht militärisch das gesamte Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, allerdings leben in diesem Gebiet ungefähr zur Hälfte Menschen, die keine Juden sind. Da Israel aber erklärtermaßen ein jüdischer Staat sein will14 – und nicht ein demokratischer Staat, in dem alle Bürger per Definition dieselben Rechte haben – bleibt als „Lösung“ nur ein duales Rechtssystem, das den jüdischen Bürgern die Vorherrschaft sichert, nämlich Apartheid. Die derart strukturell verankerte Ungleichheit, gepaart mit dem Raub von Land und Ressourcen und täglicher Demütigung durch ein brutales Besatzungsregime, schafft eine Situation, in der Gewalt vorprogrammiert ist.
Boehm versucht, einen dritten Weg zu zeigen, im Respekt des Selbstbestimmungsrechts der beiden Völker, wobei er sich auch auf frühe Zionisten beruft, die sich des demografischen Problems durchaus bewusst waren: eine binationale Föderation, also ein Staat, in dem beide Volksgruppen weitgehende Autonomie und gleiche Rechte und Pflichten haben, sich im ganzen Land frei bewegen können und der gleichen Verfassung der binationalen Föderation unterliegen. Doch über diese Frage müssen die Betroffenen vor Ort selbst entscheiden.
- Die Hamas hat sich 2017 in einem öffentlichen Dokument neu positioniert, sowohl in Bezug auf den Antisemitismus, den sie nunmehr ablehnt als auch auf eine Friedenslösung mit Israel (Rückzug von Israel auf die Grenzen von 1967, wie es auch von der UNO gefordert wird und ein Ende der Blockade des Gaza-Streifens). Indem die Hamas sich auf die Rechtmäßigkeit der Grenzen von 1967 beruft, erkennt sie auch implizit das Existenzrecht Israels an. Israel hat sich allerdings bis heute geweigert, einen palästinensischen Staat anzuerkennen.
- Henning Marmulla, „Der ewige Sündenbock“, in: forum 419 (Juli 2021), S. 6, https://www.forum.lu/article/der-ewige-suendenbock (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 22. April 2021 aufgerufen).
- Chambre des députés Luxemburg, Sitzung vom 5. Dezember 2017 über Kooperationspolitik.
- Diana Hoffmann, „Israel gëtt Verbrieche géint Mënschlechkeet virgehäit“, auf: rtl.lu am 2. Februar 2022, https://www.rtl.lu/news/international/a/1856342.html: „Et ass e Rapport dee just à charge ass, kritiséiert dann de President vu RIAL, enger ASBL, déi sech zu Lëtzebuerg ëm d’Recherche an d’Informatioun vun Antisemitismus këmmert. De Bernard Gottlieb seet, dat Dokument wier eng Accusatioun vu vir bis hannen a géif den Antisemitismus zu Lëtzebuerg fërderen“.
- Henning Marmulla, „Der ewige Sündenbock (Teil 2)“, in: forum 421 (Oktober 2021), S. 13, https://www.forum.lu/article/der-ewige-suendenbock-teil-2.
- Micha Brumlik, Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger, Hamburg, VSA-Verlag, 2021, S. 21ff.
- Ebd.
- Ebd.
- Beteiligt an der Redaktion des Plädoyers der Initiative waren u. a. die deutsch-israelische Philosophin Prof. Dr. Susan Neiman, Leiterin des Einstein-Forums und die Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum.
- Gideon Levy, „One swift motion and the occupation is over“, auf: haaretz.com am 5. März 2022, https://tinyurl.com/2u2sz2zj
- Marmulla, Der ewige Sündenbock, a. a. O., S. 6.
- Omri Boehm, Israel – eine Utopie, Berlin, Ullstein Verlag, 2020 (Original: Haifa Republic: A Democratic Future for Israel, New York, New York Review Books, 2020).
- Es sei erwähnt, dass die „Jerusalemer Erklärung“ von bekannten und bedeutenden, auch vielen jüdischen Intellektuellen und Experten unterschrieben wurde.
- Siehe das Nationalstaatsgesetz von 2018.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
