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Wie viele Menschen lesen das Luxemburger Wort?
Über Analysen zur weiterhin wichtigsten Tageszeitung des Landes
In forum 334 vom November 2013 erschien meine Untersuchung, wie das Luxemburger Wort (LW) über den Wahlkampf zu den Nationalwahlen berichtet hatte: So wurden in den letzten vier Wochen vor der Abstimmung 57 Fotos von Jean-Claude Juncker gezeigt, aber nur 8 Fotos von Xavier Bettel. Es gab sechs ganzseitige Berichterstattungen über Wahlkampfveranstaltungen der CSV, aber keinen einzigen Artikel in dieser Länge über die anderen Parteien. Die Überschriften der Artikel zur CSV lasen sich wie Formulierungen aus dem Politbüro der Partei, etwa: „Juncker begeistert wie eh und je“. Dass Juncker eben nicht begeisterte wie eh und je, ergab sich dann aus seiner Abwahl. Der Rückfall in die „presse amie“-Ära1 kostete der auf „Wahrheit und Recht“ verpflichteten Zeitung viel Renommee.
Doch in den letzten drei Jahren hat sich, unter dem neuen Chefredakteur Jean-Lou Siweck, viel getan. So distanzierte man sich inzwischen von der Berichterstattung während der Apartheid2; es wurden kesse Hochzeitsanzeigen von Lesben gedruckt und der luxemburgische Naturistenverein durfte auf seinen Tag der offenen Tür hinweisen. Sogar für das Ausländerwahlrecht hatte sich die Redaktion ausgesprochen und damit gegen 80% der Bevölkerung votiert. Und es gibt jetzt investigative Berichterstattung etwa zum Drogenhandel im städtischen Bahnhofsviertel, den Interessenkonflikten im Staatsrat oder dem fehlgeplanten Campus Belval – allerdings auch verstörende Jubelartikel zum Campus Belval. Ganz ohne Einfluss von außen scheint es noch immer nicht zu gehen, aber die Richtung stimmt.
Zwei Drittel der Luxemburger lesen das Wort, aber was heißt „lesen“?
Wie viele Menschen aber lesen all das im Luxemburger Wort? Bisher wurde dies in Reichweite gemessen, diese gibt den Anteil der Personen an, die durch ein Medium erreicht werden. Wie lange und wie oft das ausgewählte Medium genutzt wird, ist hierbei irrelevant, ausschlaggebend ist der einmalige Kontakt. Das heißt bei einem Druckerzeugnis, es wurde entweder mindestens zum Teil gelesen oder durchgeblättert. Das Luxemburger Wort hat seit Ende der Neunzigerjahre ein Drittel seiner Reichweite eingebüßt, stellte Romain Hilgert 2016 im Land fest.3 Diese Zahlen beziehen sich allerdings auf Eigenangaben in Umfragen, nicht auf gemessene Kontakte. Das Meinungsforschungsinstitut TNS Illres gab vor kurzem bekannt, dass 159500 Personen das Luxemburger Wort lesen (zusätzlich 14400 als E-Paper).4 Die Zeitung selbst teilte mit, dass sie von 231600 Personen „mindestens einmal pro Woche“ gelesen wird. Das wäre knapp die Hälfte der Einwohner Luxemburgs im lesefähigen Alter, bei den Luxemburgern sogar zwei Drittel. Die Verbreitung des LW ist also immer noch ganz beachtlich. Doch eine Zeitung im Briefkasten zu haben, sie durchzublättern, bedeutet noch nicht, sie auch zu lesen. Das LW gibt selbst an, dass jeder Leser täglich (nur) rund 25 Artikel liest. Damit liegt man zwar wohl über dem Durchschnitt in Deutschland, doch in jeder Ausgabe des LW finden sich über hundert Artikel. Wie viele „Leser“ lesen also einen, sagen wir, französischsprachigen Bericht im Kulturteil der Zeitung? Die Hälfte? Ein Zehntel?
Gelesen werden vor allem Todes- und Familienanzeigen
Das Luxemburger Wort hat 2016 sieben Monate lang die Nutzungsgewohnheiten seiner Leser aktiv gemessen. Knapp 200 Abonnenten haben so mit Hilfe kleiner Hand-Scanner, die mit einem Mobiltelefon verbunden waren, der Redaktion mitgeteilt, welche Artikel sie auch wirklich lesen. Zunächst: Jeder Leser schafft sich eine eigene Tageszeitung. Über die ganzen sieben Monate erreichte kein Artikel 100% (was bedeutet, dass 100% der Leser den Text bis zur letzten Zeile gelesen haben).5 Den höchsten Wert erreichte der Beitrag „Zwei mysteriöse Todesfälle in Bereldingen“ im September 2016 mit 65%. Auch Todes- und Familienanzeigen sowie Leserbriefe werden interessiert aufgenommen.6
Das Journalistenherz schmerzt, wenn man die geringe Leserschaft bei selbst verfassten Artikeln analysiert: Politik nur 16%! Allerdings handelt es sich dabei um den Gesamtdurchschnitt, das heißt, dass wenig gelesene Kurzmeldungen, Berichte über Pressekonferenzen oder französische Texte inbegriffen sind. Aufmacher hatten teilweise Werte von bis zu 40%, vor allem zur Finanzpolitik oder zur Trennung von Kirche und Staat. Ebenfalls häufig gelesen wurden das Porträt über Étienne Schneider, obwohl es zwei Seiten lang war. Ein Interview mit Jean Asselborn unter dem Titel „Bin ich erfolgreich?“ war der meistgelesene Artikel in der Rubrik „Politik & Gesellschaft“ über den gesamten Messzeitraum. Fazit: Selbst recherchierte Stories funktionieren, sogar wenn es lange Texte sind. Das Lokale erreicht einen Durchschnitt von 14%, Wirtschaft 8%, Reise und Auto je 7%, Sport 6%, Glaube & Leben 5% und Kultur 4%. Deutschsprachige Artikel werden – relativ – doppelt so gut gelesen wie Artikel in französischer Sprache. Wenn wir zur Ausgangsfrage zurückkommen, wie viele Leser einen französischsprachigen Bericht im Kulturteil lesen, wird man es wohl zunächst auf 4% taxieren müssen (Kultur) und dann auf 2% reduzieren (wegen Französisch).
Andere Tageszeitungen haben weniger Leser.Viel, viel weniger.
Wenn 2% beim Wort aber noch 3200 Leser bedeuten7, sind 2% beim gedruckten Tageblatt 880 Leser, beim Journal 134 Leser und bei der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek 46 Leser. Somit bleibt das Luxemburger Wort das publizistische Leitmedium im Land, natürlich nach RTL. Das Tageblatt hat in den letzten Jahren noch mehr Reichweite als das Wort verloren, obwohl ein mutiger Roger Infalt kürzlich den Unsinn Passivhaus und Wärmedämmung treffend angeprangert hat8 (was sich das LW nicht so recht traut). Dem vor einigen Jahren runderneuerten Lëtzebuerger Journal dagegen bleibt seine verdiente große Leserschaft bislang verwehrt. Hier entsteht eine qualitätsvolle, gut gestaltete, nicht zu dicke und weitestgehend deutschsprachige Tageszeitung mit Niveau – wie gemacht für eine (junge) Leserschaft. Oder nur für die „blaue“ Leserschaft? Die „Politmonitor“-Umfrageergebnisse vom Januar 2017 z.B. werden hier in einen anderen Bezugsrahmen gesetzt: Die DP gewinnt im Zentrum zwei Sitze dazu, während das Wort einen Verlust im Vergleich zur letzten Nationalwahl vermeldet. Beide Sichtweisen sind methodisch richtig, doch im LW kommt die DP schlecht weg („Desaster“), im Journal besser („Trendwende“).
Schimmern hier schon wieder die Eigentümerstrukturen durch, zumal das Journal seit einigen Monaten die städtische Bürgermeisterin bei jedem Termin ablichtet und auch blaue Minister verdächtig häufig fotografiert sind? Dabei wagt man in der täglichen Rubrik „Kloertext“ die Meinungsvielfalt, wie es das LW auf den samstäglichen „Analyse und Meinung“-Seiten tut: Es schreiben konservative, liberale, linke, besorgte, gebildete und selbstverliebte Fremdautoren einträglich nebeneinander, dass es eine intellektuelle Freude ist. Klug, wer diese Bühne nützt, wie der Nord-Abgeordnete André Bauler (DP) oder der Historiker Ben Fayot (LSAP), die dem Premierminis-ter subtile Nadelstiche verpassen. Immerhin 12% der Leser, was 19200 Menschen bedeutet, wollen genau das im LW lesen. Diese offene Debatte ist attraktiver als das „presse amie“-System des letzten Jahrhunderts. Hoffen wir, dass der noch junge Meinungspluralismus den bald folgenden Wahlkampf unbeschadet übersteht. Eines ist immerhin sicher: 57 Fotos vom Premierminister wird es diesmal im Luxemburger Wort nicht mehr geben. Schauen wir aber kritisch ins Journal.
1 Der Begriff „presse amie“ stand lange Jahre in den Statuten der CSV, welche einem Vertreter dieser „presse amie“ die Mitgliedschaft in einem ihrer Gremien zugestand. Vgl. Pierre Lorang, forum 339, April 2014, 34ff.
2 Dies geschah indirekt in einem lobenswerten Artikel von Marc Thill über eine Konferenz zu dem Thema Apartheid in Südafrika. Die- sen Aspekt der LW-Geschichte erwähnten auch Serge Kollwelter und Michel Pauly, in: „Diskussionsforum Luxemburger Wort?“, in: forum 355, Oktober 2015, 43f.
3 Romain Hilgert, „Die Zukunft der Tageszeitungen“, in: d’Lëtzebuerger Land, 8.4.2016.
4 Komplette Zahlen abrufbar unter: http://paperjam.lu/sites/ default/files/communique_de_presse_etudeplurimedia_2016.pdf
5 Die Berechnung der Prozentwerte ist im Detail etwas kompli- ziert. Das LW bezeichnet den Prozentwert als den „Lesewert“, und dieser ergibt sich aus der Anzahl der Scans in einem Artikel (in % vom gesamten Panel) in Verbindung mit der Stelle dieses Scans (in % der Gesamtlänge des Textes). So kann 30% sowohl bedeuten, 30% der Leser haben den Artikel ganz gelesen, wie auch, 60% haben im Schnitt die Hälfte des Artikels gelesen.
6 Jean-Lou Siweck: „Was wird im ‚Wort‘ gelesen?“, LW vom 7./8. Januar 2017, 20; sowie E-Mail von LW-Chefredakteur Jean-Lou Siweck an forum vom 23. Januar 2017.
7 Oder: 6400 Leser, die die Hälfte des Artikel gelesen haben.
8 Roger Infalt: „Alles Algengrün“, Tageblatt vom 10. Januar 2017:
„Gedämmte Fassaden werden tagsüber bis 80°C heiß, dafür kühlen sie nächtlich um 15 und mehr °C unter die Lufttemperatur runter. Mangels Speicherfähigkeit. Das macht sie nass (Taupunktunter- schreitung) und kaputt (Wärmedehnung, Aufnässung, Frost). Mit viel Gift in der Fassadenbeschichtung (Putz, Anstrich) kann man das Versauen etwas hinauszögern, mit Armierung die Reißerei. Am Ende kostet es ca. 10 EUR/qm im Jahr mehr Instandhaltungsrücklage als Massiv, so das Institut für Bauforschung aus Hannover. Ob all das den Leuten von den Dämmberatungen gesagt wird?“
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