Dieser Tage erscheinen sie überall: die „Ein-Jahr-Corona“-Artikel. Gerade erinnerte man sich an den ersten Corona-Infizierten in Luxemburg, noch ein paar Tage, dann jährt sich der erste Lockdown. Leider können diese „Jubiläumsartikel“ – coronabedingt – keine Nachrufe auf das Virus, sondern lediglich Zwischenberichte, Reflexionen, Momentaufnahmen sein. Es wird auf die Entbehrungen eingegangen, die die Bevölkerung seit nun schon einem Jahr ertragen muss, gleichzeitig wird gelobt, wie solidarisch man miteinander war und wie schnell und flexibel man sich auf die neue Herausforderung eingestellt habe. Die Regierung wird mal für einen zu laschen, mal für einen zu strengen Kurs, und immer für die Missachtung des Parlaments kritisiert. Der Impf-Start wird als planlos und schleppend beschrieben, und für Handel, Gastronomie und auch die Bürger*innen werden – einmal mehr – ein klarer Plan, klare Perspektiven und klare Ansagen gefordert, wann es denn nun endlich zurückgehe zur Normalität. Ich warte noch auf den Tag, an dem es aus der stets freundlichen Paulette Lenert herausplatzt und sie schreit: Dann zeige mir einer die Glaskugel, aus der ich diesen Stufenplan ablesen soll!
Etwas, das auffällt bei der täglichen Lektüre zu Corona, auch in dieser Zeitschrift, auch in Artikeln dieses Autors, ist ein irgendwie merkwürdiges „Wir“, das bemüht wird, um die Situation zu beschreiben, in der „wir“ uns befinden. Vielleicht lässt es sich mit dem Wunsch und der Sehnsucht nach Nähe erklären, die man im wahren Leben nur noch mit dem eigenen Haushalt teilen darf, sodass man sie über die sprachliche Konstruktion einer Wir-Identität zumindest im Text herstellt. Vielleicht ist dieses Wir, so wie der Philosoph Tristan Garcia meint, sowieso immer ein politischer Akt und damit nicht nur inkludierend nach innen, sondern erfüllt auch eine ausgrenzende Funktion nach außen: Wir gegen das Virus! Oder aber: Wir gegen Impfdrängler, wir gegen Impfstoffaufkäufer, wir gegen Impfleugnerinnen. Und man ist, wenn man das „Wir“ benutzt, ja auch nicht gerade in schlechtester Gesellschaft. Die Publizistin Carolin Emcke, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, schreibt in jeder ihrer SZ-Kolumnen mindestens 20 Mal „wir“ und 30 Mal „unser“. Erst neulich wieder so ein Kolumnenanfangssatz: „Vielleicht werden wir irgendwann einmal dankbar sein“.
Aber: Wer soll denn das sein: „Wir“? Wir Luxemburger, wir Zugereisten, wir Grenzgängerinnen? Wir Französinnen, wir Belgier, wir „Wir“ schreibenden Journalist*innen oder Bürgermediumleitartikler? Wir, die wir den halben langen Tag Socken stricken, oder wir, die wir drei Schichten hintereinander durcharbeiten? Wir Krankenschwestern und Pflegekräfte, oder wir von Dividenden lebenden Aktienhalter? Wir Obdachlosen oder wir Eigenheimbesitzer*innen? Wir Kultur- oder wir auf dem Bau Schaffenden? Wir Fröhlichen oder wir um die Toten Trauernden? Jetzt mal im Ernst und in aller gebotenen Selbstkritik: Wie schrecklich muss es gewesen sein für die vielen in Vollzeit und manchmal in doppelter Vollzeit Arbeitenden, die unzähligen „Tipps für die Zeit im Lockdown“ oder – hier bei forum – die „Klausur-Kultur“ zu lesen, weil – im letzten Falle – „wir“ dachten, jetzt hätten plötzlich alle viel mehr Zeit für Kultur. Das Arbeitsleben ging ja weiter! Für viele Selbstständige erst recht und auch noch mit der Sorge verbunden, die nächste Miete nicht mehr zahlen zu können.
Nein, wenn „uns“ Corona eines gelernt hat, dann, dass es kein „Wir“ und kein „Uns“ in der subjektiven Wahrnehmung der Corona-Zeit gibt. Dass es über 600.000 (plus Grenzgänger*innen) verschiedene Wahrnehmungen von Corona im Großherzogtum gibt. Dass der eine sich langweilt und die andere sich zu Tode arbeitet, dass die eine leidet unter dem Lockdown und der andere sich freut, dass der Sozialdruck weg ist, sich jeden Abend mit Freund*innen treffen zu müssen. Dass die eine seit März 2020 im Home Office arbeitet, nebenbei Homeschooling organisiert und das Home sauber hält, und der andere nach Biarritz fliegt. Dass die einen gegen Corona impfen, und die anderen Texte über Corona schreiben. Jeder erlebt Corona anders.
Und weil das so ist und wenn man sich das einmal klar gemacht hat, dann kann man vielleicht auch mehr Verständnis für die empfinden, denen es eben anders geht als einem selbst. Dann kann man vielleicht Empathie walten lassen und auch Solidarität leben, aus der dann vielleicht doch ein „Wir“ entsteht. Eines, das aus lauter unterschiedlichen Corona-Wahrnehmungen besteht, aber aus einem geteilten Ziel: Endlich diese Krise überwinden zu wollen. „Vielleicht werden wir irgendwann einmal dankbar sein“, so setzte Emcke in ihrer oben genannten Kolumne an. Der Text geht weiter: „Weil wir eines gelernt haben: Die Ethik des vorausschauenden Denkens.“ Wenn solch eine Ethik etabliert werden könnte, und dazu zählt auch, sich vorausschauend für zukünftige Krisen resilienter aufzustellen, als Gesellschaft und als politisches Gemeinwesen, dann wäre etwas gelernt aus dieser Krise und wir (!) könnten tatsächlich dankbar sein.
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