Wir Glücklichen
Bad Vibes Only: Ein Plädoyer gegen „Toxic Positivity“ und für schlechte Laune
Als ich während des Lockdowns im Mai vergangenen Jahres einem Freund erzählte, dass ich bei der Corona-Hotline angerufen hatte, weil es mir zeitweise in der Enge meines damals schon halb in Umzugskartons verpackten WG-Zimmers – zwischen Arbeitslaptop, Kleiderstange und Bett – relativ beschissen ging, war seine Reaktion nicht: „Geht es dir denn jetzt besser?“ Nein, er wunderte sich. Nicht darüber, dass es mir nicht gut ging. Er sagte: „Krass, wie offen du damit umgehst.“ Er sagte, er habe selbst darüber nachgedacht, sich bei der Hotline zu melden – aber dann entschieden, dass es bestimmt Leute gibt, denen es noch schlechter gehe als ihm. Er wolle ihnen nicht den Platz wegnehmen und auch die überarbeiteten Menschen am Telefon nicht mit seinen Wehwehchen plagen.
Man kann ihm das sicher als Bescheidenheit auslegen, vielleicht sogar als Reflektiertheit. Denn natürlich ging es ihm – Single, U40, eigene Wohnung, fester Job – besser als dem überarbeiteten Krankenpfleger, den Eltern mit drei schulpflichtigen Kindern im Fernunterricht oder dem plötzlich arbeitslosen Gastwirt. Im Ausnahmezustand namens Pandemie gab und gibt es Leute, die wirklich harte Zeiten durchleben. Allen voran natürlich jene, die Freunde und Angehörige an die vermaledeite Seuche verloren haben. Dann jene, die um ihre wirtschaftliche Existenz bangen müssen. Und auch jene, die unter den neuen Bedingungen Übermenschliches leisten, um den Laden einigermaßen am Laufen zu halten. Verglichen mit all diesen Menschen geht es meinem Freund – und mir – verhältnismäßig gut. Aber was heißt verhältnismäßig? Oder anders gefragt: Welchen objektiven Kriterien entsprechend muss mein Leben den Bach runtergehen, damit ich auf die Frage nach meinem Befinden etwas anderes als „Alles super“ antworten darf?
Denn „Alles super“ ist nicht nur der Werbespruch einer Tankstellenkette jenes Konzerns, der 2010 den Golf von Mexiko mit 700 Millionen Litern Öl verpestete. „Alles super“ hat sich zum geheimen Mantra der Performance-Gesellschaft entwickelt, in der alle Probleme nur dornige Chancen sind und die Ursache von persönlichem Leid stets in der fehlenden winner-attitude liegt. Wem es schlecht geht, dem fehlt einfach das positive mindset. Oder er ist ganz einfach undankbar, immerhin gibt es Menschen, denen es viel schlechter geht – beschweren die sich etwa? Sogar die halb verhungerten Kinder in Somalia bringen für die Kamera des Elendsentwicklungshelfertouristen ein skorbutzerfressenes Lächeln zustande. Was fällt dir also ein, dich zu beschweren – hier, in der westeuropäischen Überflussgesellschaft. Die konventionelle Antwort auf die Frage nach dem Befinden lautet „Alles super“ – oder halt ein entsprechendes Derivat: „klappt“, „läuft“, „ça roule“. Als wäre man ein verdammtes Auto.
Verglüht im Wunsch, ständig zu strahlen
Toxic positivity nennen Psychologen das Phänomen – giftige Positivität. Sie beschreiben damit die Schattenseite jener Lebenseinstellung, die in allem stets nur das Gute sehen will, die selbst in der schwerwiegendsten persönlichen Katastrophe hauptsächlich Chancen zum „Wachsen“ sieht. Der Lebenslauf als Aktienkurs – nach jedem Crash geht es wieder bergauf. Die überpositive Haltung wirkt dabei in zwei Richtungen: Einerseits wird das Leid von anderen im persönlichen Gespräch mit einem „Das wird schon wieder“ oder „Anderen geht es noch schlimmer“ heruntergespielt – ein Umstand, der immerhin nicht mehr kritiklos hingenommen wird, seit das Tabu um die Volkskrankheit „Depression“ zu bröckeln beginnt. Andererseits wird der Zwang zu good vibes only aber auch verinnerlicht, mit der absurden Konsequenz, dass manch einer sich schuldig fühlt oder schämt, weil es ihm schlecht geht. Da sich garantiert stets jemand finden lässt, dem es noch schlechter geht, stellt man die Berechtigung des eigenen Leids infrage. Die Unfähigkeit, negative Gefühle wie Trauer, Wut oder Niedergeschlagenheit als zutiefst normale, menschliche Regungen zu begreifen, potenziert dabei zynischerweise ebendiese Gefühle. Das Resultat: Eine Abwärtsspirale, ein Strudel, auf dessen Grund der Selbsthass wartet.
Der angestrengte Blick auf die helle Seite des Lebens – the bright side of life – kann aber auch dazu führen, dass man negative Emotionen erfolgreich verdrängt. Verdrängung ist allerdings keine Aufarbeitung, der Stresspegel steigt, das bemühte Lächeln für die Außenwelt wird zur festgefrorenen Grimasse. Die Aufrechterhaltung des positiven Denkens verbrennt mentale und emotionale Ressourcen, die besser für die Konfrontation mit den negativen Gefühlen und ihren Ursachen eingesetzt wären. Sind die Ressourcen verbraucht, folgt der Zusammenbruch: Burn-Out. Verglüht im Wunsch, ständig zu strahlen.
Als Antidot zur toxic positivity bringen Experten den „tragischen Optimismus“ ins Spiel: Das vom österreichischen Psychiater und Holocaustüberlebenden Victor Frankl 1985 im Rahmen seiner Logotherapie vorgestellte Konzept postuliert, dass es Hoffnung und Sinn im Leben gibt, während gleichzeitig die Existenz von Verlust, Schmerz und Leid anerkannt wird. Eine aktuelle Vertreterin dieses Vorstoßes ist die US-amerikanische Journalistin und Autorin Emily Esfahani Smith, die in ihrem Buch The Power of Meaning dem allgemeinen Streben nach Glück die Sinnsuche entgegensetzt. Sie stützt sich in ihrer Argumentation neben Frankl vor allem auf Camus’ Sisyphos und rückt so die Suche nach einem individuellen Bedeutungshorizont im eigenen Handeln ins Zentrum ihres Denkens. Die These: Statt eines abstrakten „Glücklich-Seins“ soll eine sinnstiftende Beschäftigung und eine realistische Selbst- und Welteinschätzung Ziel unseres Strebens sein – Zufriedenheit entsteht als Nebenprodukt.
Selbstzentrierung als Kern des Problems
So weit, so offensichtlich, so funktionalistisch. Denn bei genauerer Betrachtung erweist sich der tragische Optimismus zwar als eine Erweiterung des zwanghaft positiven Tunnelblicks, der die Existenz von Trauer und Rückschlägen nicht leugnet, sie allerdings trotzdem primär als Gelegenheiten der individuellen Selbstevaluation und des persönlichen – Achtung – Wachstums betrachtet. Während diese Herangehensweise zweifellos dazu angetan ist, einem einzelnen Menschen eine bessere Perspektive zu ermöglichen, bleibt der Ansatz stumm im Angesicht der Bedingungen, die überhaupt erst die Entstehung von toxic positivity ermöglichen. Anders gesagt: Dem tragischen Optimismus fehlt die ideologiekritische Dimension.
Denn die toxic positivity ist nur der aus dem Meer ragende Tentakel eines Ungeheuers, das sich unter einer trügerisch ruhigen Wasseroberfläche verbirgt. Es hört auf den Namen „positive Psychologie“ und seine Einflüsterungen sickern seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts leise, aber eindringlich in unser Denken. Der Begründer der positiven Psychologie ist Abraham Maslow, den die meisten Menschen wegen der nach ihm benannten Bedürfnispyramide kennen dürften – dem bis heute wirkmächtigsten Versuch, auch die immateriellen Bedürfnisse des Menschen so zu kategorisieren, dass sie mittels Konsums erfüllbar scheinen. Das Erfolgsgeheimnis der positiven Psychologie ist ihr Komplementärcharakter zur freien Marktwirtschaft: Indem sie Erfolg, Zufriedenheit und Glück zu einer Sache der persönlichen Haltung macht, befreit sie privatwirtschaftliche Akteure von der Verantwortung für das kollektive Wohlbefinden. Wer leidet, ist letztlich irgendwie selbst schuld – und zwar ganz allein.
Heilsamer Zorn
Der 2017 verstorbene britische Kulturwissenschaftler Marc Fisher betrachtete Depressionen und psychische Erkrankungen als Folge der „atomistischen Individualisierung“. Durch die zunehmende Auflösung gesellschaftlicher Bezugsgruppen – etwa Gewerkschaften – einerseits, durch die metaphysische Obdachlosigkeit angesichts absterbender Religiosität andererseits entsteht ein Vakuum an Sinnstiftung, welches der individuelle Mensch mit Selbstverwirklichung zu füllen versucht. Selbstverwirklichung ist nicht zufällig die Spitze der Maslowschen Bedürfnispyramide – und sie ist käuflich, auch wenn ihre Proponenten nicht müde werden, das Gegenteil zu suggerieren. Sie steht in der Form ungezählter Lebensratgeber in den Regalen der Buchhandlungen, sie ist die lang ersehnte Weltreise, die Yacht, der gefüllte Weinkeller, die steile Karriere oder das renovierte Bauernhaus. Selbstverwirklichung ist nichts Schlechtes an sich. Durch ihr Augenmerk auf das „Selbst“ verliert sie allerdings aus dem Blick, dass „die Anderen“ mehr sein können als nur weitere „Selbsts“. Die „Verwirklichung“ verrät ihrerseits bereits die Konstruktion einer komfortablen, eigenen Wirklichkeit, die sich höchst selektiv an einer Realität bedient, welche kollektiv kaum mehr erfahren wird.
Selbstverwirklichung funktioniert durch Realitätsverleugnung plus Konsum – der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno spräche von einem Verblendungszusammenhang, da der Fokus auf den Einzelnen den Blick auf gesellschaftliche Herrschaftsmechanismen versperrt und sie als naturgegeben akzeptiert. Die positive Psychologie liefert dieser Verblendung nicht nur ihre Rechtfertigung, sie leiht ihr auch das Vokabular – wir erinnern uns an das „Alles super“ von Aral, das „Nichts ist unmöglich“ von Toyota. Und auch wenn man gewisse Dinge angeblich nicht kaufen kann, „für alles andere gibt es Mastercard“. Die Sprache der Werbung ist die Sprache der Start-Ups, ist die Sprache der Gewinner, ist die Sprache der positiven Psychologie. Sie arbeitet hauptsächlich mit sinnentleerten Universalbegriffen wie „Alles“ oder „Nichts“, mit Euphemismen, mit Autoritätsfiguren, mit Slogans. Durch die Digitalisierung und die sozialen Medien sind wir von Rezipienten selbst zu den Produzenten dieser Sprache geworden – von motivierenden Zitaten über rührselige Anekdoten und Tiervideos hin zu den Beweisfotos für die scheinbar perfekten Momente unseres Lebens. Was wir damit all unseren Mitmenschen suggerieren, ist Folgendes: „Das Leben ist schön. Du kannst es schaffen. Lach doch mal! Schau, wie gut ich es habe – du kannst das auch!“ In anderen Worten: Wir erschaffen einen konstanten Druck auf andere Menschen, ihr Glück sichtbar zu performen. Toxic positivity ist kein individuelles Phänomen, es ist eine Kollektivpsychose.
Was kann man dagegen tun? Nun, man kann damit anfangen, sein Unglück und sein Leid zu thematisieren. Man kann damit anfangen, die eigene, systembedingte miese Laune mit seinen Freunden zu teilen und ihre kleinen Seifenblasen des Glücks mit spitzer Nadel penetrant zum Platzen zu bringen. Zugegeben, mit dem Vorgehen wird man nicht zum großen Liebling auf Partys, man zieht vielleicht sogar ein wenig heilsamen Zorn auf sich. Aber man erschafft damit einen Raum, in dem es anderen Menschen leichter fällt, ihr mühsam aufrechterhaltenes Lächeln einmal fallen zu lassen, Druck abzulassen, sich zu ärgern, vielleicht zu weinen. Der Volksmund sagt, geteiltes Leid sei halbes Leid. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber gemeinsames Leid verbindet und kann Kraft schenken, jene Dinge zu ändern, die das Leid verursachen – seien es jetzt Ausgangsbeschränkungen im Rahmen einer Pandemie, ein gewalttätiger Partner, ein mobbender Vorgesetzter oder der Kapitalismus. Deswegen: Seid schlecht gelaunt, seid traurig, wütend und niedergeschlagen. Es könnte der Anfang von etwas Schönem sein.
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