„Wir müssen nur daran glauben“

Bei der jährlichen Rencontre participative pour l’inclusion sociale tauschen sich von Armut Betroffene mit Vertretenden aus der Politik aus. Ende Februar dieses Jahres stellten sich Henri Kox und Corinne Cahen den Fragen zum Thema Wohnungskrise. Der Auftritt? Ernüchternd.

Corinne Cahen radelt den Innenhof des Tennisclubs „Op der Schéiss“ so sportlich hoch, dass man denkt, sie sei unterwegs zu einer privaten Tennisstunde. Die DP-­Politikerin trägt ein magentafarbenes Anzugkleid, Turnschuhe in der gleichen Farbe und einen dicken Helm, der ihr Gesicht verdeckt, bis sie ihn absetzt. Doch Cahen ist heute nicht nach Belair geradelt, um ihre Rückhand zu trainieren. Die Familien- und Integrationsministerin will sich zusammen mit Henri Kox, dem grünen Minister für Wohnungsbau, den Fragen unzufriedener Bürger und Bürger­innen stellen.

Im anliegenden Kulturzentrum sitzen seit 8.30 Uhr Menschen, die von Armut betroffen oder in der Sozialarbeit tätig sind und in Tischgruppen darüber diskutieren, wie sie die Wohnungskrise in Luxemburg erleben. Auf pappfarbenen Wandplakaten hat jede der Gruppen ihre Probleme und Forderungen formuliert. 14 Fragen sollen Kox und Cahen bei ihrem anderthalbstündigen Besuch am Nachmittag beantworten. Eine undankbare Aufgabe, wenn man bedenkt, dass sie heute nur Stellvertretende für eine Krise sind, die ihre Ministerien nicht allein zu verantworten haben.

Die Konferenz der Rencontre participative pour l’inclusion sociale (REPIS) findet in diesem Jahr schon zum 15. Mal statt, das Motto der Diskussion ändert sich von Ausgabe zu Ausgabe. Die Organisierenden, das European Anti Poverty Network (EAPN), erhoffen sich von der Veranstaltung mehr Teilhabe für Menschen, die sonst eher am Rand der Gesellschaft leben.

Viele der Konferenz-Besuchenden leben in prekären Lebenssituationen

Tatsächlich dürften viele der Besuchenden zum ersten Mal die Möglichkeit haben, einen Entscheidungsträger und eine Entscheidungsträgerin der luxemburgischen Polit-Szene direkt zu sprechen. Die Teilnehmenden der REPIS haben unterschiedliche Hintergründe: Einige von ihnen sind eingewandert oder geflüchtet, andere in Luxemburg geboren. Die Menschen hier sind arbeitslos, arbeitssuchend, in befristeten Arbeitsverhältnissen oder im Niedriglohnsektor tätig. Jung, alt, mit sichtbaren Behinderungen oder ohne. Sie leben in Sozialwohnungen oder in Unterkünften für Geflüchtete. Und doch haben alle von ihnen eines gemeinsam: Sie sind oder waren von Armut betroffen. 

Die Fragen, die sie heute an Corinne Cahen und Henri Kox richten werden, sind für sie mitunter existenziell. Da ist die junge Mutter im befristeten Arbeitsverhältnis, die mit ihren drei Töchtern und ihrem Partner in einer von Schimmel und Ratten befallenen Sozial­wohnung lebt und deren Vermieter die Familie nun vor die Tür setzen will. Als die Frau das Mikro in der Hand hält und dem Minister und der Ministerin ihre Situation schildert, stockt ihr immer wieder die tränenerfüllte Stimme. Da ist die Frau mit dem Kinderwagen, die die Politik darum bittet, mögliche Menschenrechtsverletzungen in Unterkünften für Geflüchtete zu untersuchen. Da ist die Sozialarbeiterin, die voller Wut in der Stimme ihre Forderungen vorliest und beklagt, dass die Regierung und die Kommunen die ungelösten Probleme seit Jahren auf dem Rücken ihrer Branche abladen und statt konkreten Lösungen nur leere Ankündigungen anbieten.

Unter all diesen Berichten stehen Cahen und Kox in ihren Anzügen zwischen den Tischen und wirken mitunter so nüchtern, als hätte man ihnen gerade einen Vortrag über Steuerberechnungen gehalten. Mantraartig wiederholen sie ihre politischen Parolen: Sie wollen mehr bezahlbaren Wohnraum und mehr Sozialwohnungen in öffentlicher Hand schaffen. „Der Staat muss Verantwortung übernehmen“, stellt Kox fest. Nur: Wie das konkret aussehen soll, erklären er und seine Regierungs­kollegin an diesem Tag nur selten.

Die Besuchenden der REPIS-Konferenz diskutieren, wie sie die Wohnungskrise in Luxemburg erleben.
© Philippe Reuter / forum

Cahen und Kox wirken mitunter teilnahmslos

Der Eindruck, der dabei entsteht, mag Cahen und Kox gegenüber unfair sein. Man darf nicht die Grenzen ihrer eigenen Wirkungskraft vergessen. Der Eindruck mag auch Zeugnis von Politikverdrossenheit, von Unverständnis gegenüber vollen Terminkalendern und den Regeln des luxemburgischen Wahlkampfs geschuldet sein. Doch während die Besuchenden der REPIS sich an diesem Tag Hilfe für existenzielle Fragen erhoffen, scheint die Konfrontation für den Politiker und die Politikerin ein Termin zu sein, wie jeder andere auch. 

Nur so lässt es sich erklären, dass Kox seine 30 Minuten Verspätung zu dem Termin damit rechtfertigt, dass er gerade von einer Table Ronde komme, „die man heute Abend auch im Fernsehen sehen kann“; dass Cahen reflexartig behauptet, bei der Vergabe des sozialen Wohnraums seien „alle Menschen gleich“, während Menschen in extrem prekären Lebenssituationen von den Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche berichten; oder dass sie ihren Besuch am Ende mit einem erstaunlich realitätsfernen Kalenderspruch abmoderiert: „Wenn wir fest daran glauben und hart daran arbeiten, wird alles besser.“ 

Besonders deutlich wird die House of Cardshaftigkeit des Termins aber durch die fast bemerkenswerte Emotionslosigkeit, mit der Minister und Ministerin den Graben zwischen sich und dem Publikum an diesem Tag füllen. „Was würden Sie Ihrem siebenjährigen Sohn sagen, wenn er fragt, wann wir in ein schönes Haus ziehen?“, fragt eine afrikanische Frau mit Kopftuch die DP-Politikerin Cahen. Sie bewohne mit ihrem Mann und ihren Kindern eine Einzimmerwohnung, erzählt die Frau. Die Kinder teilten sich ein Bett. 

Cahen versucht es mit Nahbarkeit: Sie habe selbst Kinder, erklärt sie lächelnd, die Schwierigkeit der Situation könne sie nachvollziehen. „Aber ich muss auch Gegenfragen stellen“, entgegnet sie. Statt der Mutter Corinne Cahen tritt nun wieder die DP-Politikerin ans Mikrofon. Hat oder sucht die Frau einen Job? Was verdient ihr Mann? Seit wann ist die Familie in Luxemburg? Mit welchem Status? Am wichtigsten sei, dass beide in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis seien, referiert die Liberale weiter: „Denn es wird niemand zu Ihnen kommen und Ihnen einfach so ein Haus anbieten.“ Auch Kox schreitet zum Mikro: „Eigentlich gibt es in Ihrer Gemeinde viele Sozialwohnungen.“ Dann darf die nächste Person ihre Frage stellen. 

Alle sind gleich, aber manche sind gleicher

In einer idealen Welt wäre es so, wie Cahen und Kox sich das vielleicht vorstellen: Alle Menschen hätten die gleichen Chancen bei der Wohnungssuche, und die Gemeinden stellten ausreichend Wohnraum für Ärmere zur Verfügung. In der Realität ist es leider anders: Besonders von Armut Betroffene oder Menschen mit Armutsrisiko stoßen auf zahlreiche bürokratische und unflexible Hürden. Dabei kommen gleich mehrere Aspekte zusammen: der Aufenthaltsstatus, die Nationalität, die Anzahl der Kinder, das Arbeitsverhältnis, das monatliche Einkommen. Hinzu kommen Stigmatisierungen auf dem privaten Wohnungsmarkt und unkooperative Gemeinden. Diese fühlen sich dagegen von der Regierung alleine gelassen. Auch das ist Teil der unbeugsamen Bürokratie: Verantwortlich, das sind immer die anderen. 

Da hilft es auch nicht, dass die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum größer ist als das Angebot: Nur 2 % der sogenannten erschwinglichen Wohnungen liegen laut Kox in öffentlicher Hand. Dem STATEC zufolge1 lebten 2021 allerdings mehr als 115.000 Menschen in Luxemburg unter der Armutsgrenze. Menschen in Gemeinschaftsunterkünften, etwa für Geflüchtete oder Obdachlose, sind in der Berechnung dieser Statistik noch nicht einmal inbegriffen. Dabei suchen sie genauso nach Wohnungen wie andere Menschen auch. Schlimmer noch: Wie Cahen berichtet, habe sich durch den Wohnungsmangel mittlerweile ein Rückstau in den Unterkünften gebildet. Denn wer keine Wohnung findet, kann nicht aus der Unterkunft ausziehen – und wer nicht ausziehen kann, kann keinen Platz für neue Bedürftige schaffen. 

Henri Kox, Minister für Wohnungsbau, und Corinne Cahen, Ministerin für Familie und Integration.
© Philippe Reuter / forum

Parallel zu diesem Ungleichgewicht stehen zahlreiche Immobilien in Luxemburg leer. Die 2008 auf freiwilliger Basis eingeführte Leerstandssteuer für Gemeinden war erwartungsgemäß wenig erfolgreich. Eine Reform – und damit die nationale Leerstandssteuer – kündigten Kox, Finanzministerin Yuri Backes (DP) und Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) erst im vergangenen Oktober an. Doch selbst wenn der Leerraum im Privatbesitz dadurch wieder auf dem freien Markt landen würde: Auf dem freien Mietmarkt haben viele der Menschen, die heute an der REPIS teilnehmen, kaum eine Chance. 

Diese Frau sucht nach wie vor dringend nach einer Unterkunft für sich und ihre Familie.
© Philippe Reuter / forum

Dieser Umstand verleitet Kox zu einer der wenigen konkreten Aussagen der Konferenz: Statt wie bisher 200 Millionen Euro will der Minister für Wohnungsbau jährlich eine halbe Milliarde in die Bereitstellung bezahlbarer Wohnräume investieren. Das dürfte aber auch davon abhängen, wie erfolgreich er und seine Partei bei den diesjährigen Wahlen abschneiden. Zeit, die viele der Besuchenden auf der REPIS-Konferenz nicht haben. 

„Ich weiß nicht, wo meine Töchter und ich hinsollen“, sagt die Frau aus der schimmelbefallenen Wohnung. Sie ist so verzweifelt, dass sie unserer Redaktion noch am Tag nach der Konferenz eine Nachricht schickt und um dringende Hilfe bittet. In der Politik, so schreibt sie, hätte ihr bisher niemand zugehört. Und dieses Gefühl scheint sich auch nach dem Austausch mit Kox und Cahen nicht geändert zu haben.  

1 https://statistiques.public.lu/en/actualites/2022/stn47-tcs.html (letzter Aufruf: 25. Februar 2023)

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