„Wir unterschätzen, dass in unserem Leben durch die Arbeit sehr viel geregelt ist, eben auch die Zeit der Nicht-Arbeit“
Das ganze Leben arbeitet man auf den wohlverdienten Ruhestand hin. Und wenn es dann soweit ist, ist es meist doch irgendwie anders als man es sich vorgestellt hat. forum hat mit Simon Groß, dem Direktor des RBS-Center fir Altersfroen darüber gesprochen, wieso der Abschied vom Arbeitsleben gut vorbereitet sein will.
Was bedeutet es heute „alt“ zu werden? Was hat sich verändert?
S.G.: Eines hat sich nicht verändert, auch wenn die Leute das nicht gerne hören: Die maximale Lebensspanne liegt immer noch bei +/- 115 Jahren. Die bekannteste älteste Frau wurde 122 Jahre alt, und für Wissenschaftler gilt nach wie vor der Richtwert von etwa 115 Jahren. Heute werden mehr Leute alt als früher, weil sich schlicht und ergreifend verschiedene Grundvoraussetzungen verbessert haben, die nicht einmal so spektakulär sind. Das Erste ist, dass wir heute flächendeckend eine hochwertige Ernährung haben, die wir so vor 150 Jahren noch nicht hatten. Das Zweite ist, dass wir eine andere medizinische Versorgung oder auch solche heutzutage selbstverständliche Bedingungen wie etwa eine geheizte Wohnung haben. Es sind also erst mal relativ banale Gründe, die dazu beigetragen haben, dass Menschen heute im Durchschnitt älter werden. Die Lebenserwartung liegt heute im Weltdurchschnitt bei 71 Jahren und das ist schon spektakulär, wenn man bedenkt, dass dort auch Länder miteinbezogen sind, in denen schwierige Lebenssituationen herrschen. Was sich also weltweit verändert hat, sind hauptsächlich die Versorgung, die medizinischen Bedingungen und die Lebensbedingungen insgesamt; die biologischen Grundbedingungen des Alter-ungsprozesses als solchem haben sich aber nicht verändert. Daneben muss man aber auch zwischen dem gefühlten und dem biologischen Alter unterscheiden. Ersteres hat sich auf jeden Fall ganz stark verschoben. Menschen fühlen sich in der Regel 10-20 Jahre jünger, als sie in Wirklichkeit sind. Biologisch gesehen, muss das nicht automatisch auch so sein. Heute wissen wir, dass eine große Unterschiedlichkeit beim Altern besteht. Es ist eigentlich ein bisschen so wie beim Sport. Es gibt den einen Teil der Bevölkerung, der ganz viel Sport macht und den anderen, der überhaupt keinen Sport macht. Im Durchschnitt sieht es also so aus, als ob wir alle viel Sport machen würden. Diese Teilung kann man auch beim Alter erkennen. Aus unterschiedlichen Untersuchungen wissen wir, dass materielle Bedingungen, sprich Armut, sieben bis zehn Jahre Lebenserwartung kosten können. Das heißt, wenn Sie arm sind, sterben Sie im Durchschnitt auch früher. Das wiederum ist natürlich einerseits darauf zurückzuführen, dass der Zugang zu den vorher genannten Grundbedingungen nur erschwert möglich ist, andererseits kann es aber auch damit zusammenhängen, dass eine entsprechende Bildung nicht vorliegt, so dass gesundheitsbezogene Informationen grundsätzlich auch weniger wahr- und aufgenommen werden. Das ist tatsächlich ein großes Problem, das inzwischen auch das Gesundheitsministerium erkannt hat und darüber nachdenkt, wie man vorgehen muss, damit mehr Leute gesundheitsbezogenes Wissen aufnehmen. Alter und Gesundheit sind unmittelbar aneinander gekoppelt. Eine relativ rezente Studie hat belegt, dass die Ausgaben für Gesundheit, die insgesamt enorm steigen, erst ab 65+ richtig gravierend werden. Man kann nicht sagen, dass das Alter die Krankheit bedingt, die Wahrscheinlichkeit, dass man im Alter krank wird, ist allerdings höher.
An welchen biologischen bzw. biographischen Faktoren machen die Menschen ihr eigenes „Altwerden“ fest? Ist es ein gradueller Prozess oder gibt es einschneidende Momente?
S.G.: Lange Zeit – und nach diesem Muster funktionieren wir eigentlich immer noch – ging man von einer Art „Normalbiografie“ aus, der Vorstellung also, wie normalerweise ein Leben abzulaufen hat. Tatsächlich ist die Berentung in dieser allgemeinen Vorstellung ein ganz konkreter Lebensabschnitt. Das Interessante daran ist, dass diese Zahlen nicht vom Einzelnen, sondern von der Gesellschaft definiert werden. Es gibt eigentlich keine gerontologische Erklärung dafür, warum Menschen mit 57 Jahren in die Rente gehen sollten. Das ist ein rein willkürlich gesetzter Zeitpunkt, der bestimmte Gründe hat, u.a. den, dass Arbeitsplätze für jüngere Menschen gebraucht werden, also schicken wir jemanden in die Frühpension. Oder weil wir glauben, dass Menschen ab einem gewissen Zeitpunkt für den Arbeitsmarkt nicht mehr geeignet seien. Das ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass jemand in einem gewissen Alter schon zu alt sei, um einen bestimmten Beruf auszuüben. Das heißt, wir haben zum einen normative Setzungen wie z.B. das Rentenalter, zum anderen aber auch Setzungen im Sprachgebrauch, die dazu führen, dass wir einen Mitarbeiter von 45 Jahren als „älteren Mitarbeiter“ bezeichnen. Es ist aber nach wie vor so, dass spätestens das 50. Lebensjahr für den Einzelnen immer noch einen großen Einschnitt darstellt – einfach nur, weil so viel darüber gesprochen wird. Ich habe pünktlich zu meinem 50. Geburtstag angefangen, ein Tagebuch zu schreiben und kann Ihnen nach dreieinhalb Jahren sagen, dass sich eigentlich gar nichts verändert hat. Ich esse dasselbe, ich fühle mich exakt gleich, aber um mich herum hat sich etwas verändert. Plötzlich fragen mich Leute: „Wie lange arbeiten Sie noch?“ – eine Frage, die ich mir mit 49 so eigentlich nie gestellt habe, mit der ich aber im Alter von 50 Jahren konfrontiert werde. Das ist das, was unter „biographischen Faktoren“ zu verstehen ist. Biologisch betrachtet, kann ich bei mir persönlich wenig feststellen, aber auch das ist sehr unterschiedlich. Es gibt eben auch große Untersuchungen zur Einschätzung des realen biologischen Alters, die z.T. gar nicht veröffentlicht werden, weil sie ergeben haben, dass 18-Jährige auf dem Stand von 50-Jährigen waren und umgekehrt eben 70-Jährige auf dem Stand von 40-Jährigen. Wir schauen natürlich mit Vorliebe auf Menschen, die mit 70 noch total jung aussehen, weil das einem Menschheitstraum entspricht, der aber alles andere als neu ist. Es gibt ein ganz bekanntes Bild vom Jungbrunnen, das vor 500 Jahren gemalt wurde – die Vorstellung jung zu bleiben und nicht alt werden zu müssen, ist fast so alt wie die Menschheit selbst.
Welche Bedeutung hat der Abschied vom Arbeitsleben?
S.G.: Die meisten Menschen gehen davon aus, dass die große Freiheit anfängt, wenn sie nicht mehr arbeiten müssen und dann viele tolle Sachen machen können, die sie vorher nicht tun konnten, weil sie von Druck und Fremdbestimmung befreit sind. Wenn dieser Moment dann näher rückt, ist es ganz oft so, dass man merkt, dass das Arbeitsleben eben nicht nur Druck und Stress war, sondern dass man durch die Arbeit ganz viele soziale Kontakte und eben auch einen Status, also eine bestimmte Bedeutung hatte. Die Frage „was machen Sie denn so?“, kann daher eine sehr zentrale sein. Student-, arbeitslos, oder Rentnersein wird nicht so sehr geachtet, als wenn man sich über seine Arbeit definieren kann. Der Abschied vom Arbeitsleben kommt dann mit Verzögerung.
Erst ist die große Freude da, man nutzt die neue Freizeit, besucht noch alle Freunde oder erledigt etwa Arbeiten zuhause, aber spätestens nach zwei Jahren – das ist so die Faustregel – ist das aufgebraucht und dann irgendwann kommt das große Loch. Man weiß z.B., dass Männer noch lange nach der Pensionierung Kontakt zu ehemaligen Kollegen halten, die aber keine eigentlichen Freunde sind und diese ambivalente Beziehung dann sehr enttäuschend sein kann. Ich sehe sehr oft, dass sich Menschen am Anfang noch ausmalen, dass sie hier und da noch helfen könnten, plötzlich aber feststellen müssen, dass sie „raus sind“ und nicht mehr dazu gehören. Genau diese Situation wird etwa in dem Film About Schmidt sehr schön beschrieben. Es kommt natürlich aber auch immer darauf an, was jemand vorher gearbeitet hat. Wenn jemand vorher z.B. selbstständig war, kann es sein, dass dieser Mensch eigentlich gar keine Vorstellung von „Pensionierung“ hat. Menschen, die immer schon selbstbestimmt gearbeitet haben, werden sich auch im Alter selbstbestimmter verhalten. Menschen, die immer gemacht haben, was man ihnen gesagt hat, werden auch im Alter größere Schwierigkeiten haben, sich selbst eine Struktur zu geben.
Wie groß ist die Diskrepanz zwischen dem, was sich die Leute für ihre Pension vornehmen und den tatsächlichen Möglichkeiten?
S.G.: Das hängt natürlich immer davon ab, was der einzelne Mensch individuell machen will. In den letzten Jahren erleben wir immer häufiger, dass Menschen noch einmal arbeiten gehen wollen. Das klappt ganz oft nicht so, wie sie sich das vorgestellt haben, weil möglicherweise nicht jede Tätigkeit, die sie vor 30 oder 40 Jahren gemacht haben, heute noch wirklich gebraucht wird. Viele Leute haben sehr hohe Erwartungen, was für sie möglich ist. Selbst wenn man vorher beispielsweise einer Hilfstätigkeit nachgegangen ist, muss man oft feststellen, dass man heute mit vielen anderen darum konkurriert. Und für diejenigen Menschen, die möglichst viel konsumieren wollen (in Form von Reisen etwa), ist es schlichtweg eine Frage des Geldes. Es bleibt aber letztlich eine Frage der eigenen Motivation und des eigenen Antriebs – konsumieren allein macht nicht glücklich. Aus diesem Grund erleben wir auch immer häufiger, dass Leute überhaupt nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen und dann in eine Passivität verfallen. Viele Leute sind mit dieser Frage erst einmal überfordert.
Immer mehr Menschen kommen ins Alter und haben keine enge Familie mehr. Wie gestaltet sich deren Alltag?
S.G.: Das ist tatsächlich eine große Umwälzung in der Gesellschaft und zeigt natürlich, dass es kein Zufall ist, dass wir heute auch mehr Institutionen für ältere Menschen haben. Das war vor 25-30 Jahren noch überhaupt nicht so selbstverständlich, weil man noch davon ausging, dass die Familie als älteste und preiswerteste Institution der Altenversorgung den älteren Menschen auffängt. 1991 ist das erste nationale „Programme pour personnes âgées“ vom Familienministerium veröffentlicht worden und schon damals hat man einsehen müssen, dass sich die Familienstrukturen verändern. Man muss leider auch sagen, dass Pflege – und das ist z.T. auch heute noch so – überwiegend Frauensache war und an ein sehr klassisches Frauenbild geknüpft war. Ein weiterer Punkt, der statistisch enorm gestiegen ist, sind die Scheidungsquoten, die dazu führen, dass der Einzelne keinen direkten Familienangehörigen mehr hat. Das muss aber nicht zwangsläufig negativ werden. Auch gute Freunde können ein tragendes Netz bilden, so dass sie durchaus als Familienangehörige gewertet werden können. Dies wiederum führt dazu, dass sich Leute heute aktiver um ihr Sozialleben kümmern, so dass beispielsweise der Gedanke an eine Wohngemeinschaft immer häufiger kommt, um einer eventuellen Isolation vorzubeugen. Was sich bei älteren Menschen aber nicht verändert – und das ist bei jüngeren nicht anders – ist, dass über Telefon, digitale Medien usw. durchaus ein soziales Netz aufrechterhalten werden kann. Insofern würde ich nicht sagen, dass alleinstehende Menschen oder eben Menschen, die keine enge Familie haben, automatisch allein dastehen müssen.
Welche Bedeutung haben in Luxemburg Vereine und das gesellschaftliche Engagement?
S.G.: Das ist meiner Meinung nach sehr wichtig, und ich würde auch jedem empfehlen, sich in einem Verein zu engagieren, wenn er denn kann. Gerade in kleinen Vereinen, wo man wirklich gebraucht wird, kann man sich etwas aufbauen. Das gesellschaftliche Engagement hat einen großen Stellenwert und es ärgert mich manchmal, dass leichtfertig behauptet wird, in Luxemburg würde nicht viel Ehrenamt ausgeübt werden. Wir haben tausende Vereine, dann Gemeinden, Kommissionen, Verwaltungsräte usw. – wenn man das einmal proportional zur Bevölkerungszahl betrachtet, scheint mir diese Beurteilung unfair. Was mich dabei noch ärgert, ist, dass man mit dem Begriff des Ehrenamts eigentlich nicht erfasst, dass sich ältere Menschen heute vor allen Dingen sehr viel für die Enkel engagieren, teilweise Erziehungsarbeit mit übernehmen und dafür sehr viel Zeit und auch Geld investieren. Oft wird das überhaupt nicht erwähnt, so als ob das überhaupt nicht der Rede wert sei. Ich weiß nicht, ob alle Elternpaare in diesem Land so gut arbeiten könnten, wenn da nicht auch manche Oma, mancher Opa wäre, die sich stark engagieren.
Ziehen sich die Menschen aus biologischen Gründen zurück, wenn sie älter werden, oder interessiert sich die Gesellschaft dann einfach nicht mehr für sie bzw. braucht sie nicht mehr?
Das was Sie gerade beschreiben, ist im Grunde das, was man das „Defizit-Modell“ nennt, d.h. die Annahme, dass sich jemand im Alter natürlicherweise zurückzieht. Biologisch gesehen, gibt es aber keinerlei Gründe, wieso sich Menschen ab einem gewissen Alter zurückziehen sollten. Inzwischen haben wir seit vielen Jahren Angebote für „active ageing“ nach dem Motto „Du kannst mehr, wenn du willst“ , und das hat Früchte getragen. Heute können die Leute mit diesem Konzept mehr anfangen, was man z.B. an der steigenden Zahl der Betriebsgründungen bei Älteren nachvollziehen kann. Was viele nicht wissen, ist, dass ein großer Anteil von Patenten, die in Deutschland angemeldet werden, von über 65-Jährigen stammen. Dass ältere Menschen einer Passivität verfallen, gibt es zwar immer mal wieder, eine biologisch nachvollziehbare Ursache dafür gibt es aber nicht.
Wird das Erfahrungswissen der Alten durch die technologische Entwicklung heute nicht mehr benötigt?
S.G.: Natürlich ist es klar, dass wenn ich im mechanischen Zeitalter ausgebildet wurde und gelernt habe, wie man ein bestimmtes Objekt mechanisch herstellt, mein Erfahrungswissen mir nicht weiterhilft, wenn dasselbe Objekt heute durch einen Computer produziert wird. Wo mir mein Erfahrungswissen aber weiterhilft – und das ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Aufgaben für die ältere Generation der Zukunft – ist der Umgang mit Menschen. Für mich ist es ein Fehler in der Erziehung, dass wir parallel zur Technologisierung versäumt haben, den Umgang von Mensch zu Mensch genügend zu üben. Dadurch haben die Alten in der Zukunft einen ganz entscheidenden Auftrag. Das sehen Sie schon daran, wie Menschen E-Mails schreiben. Ein älterer Mensch wird schreiben: „Hallo, wie geht es Ihnen? Lange nichts mehr von Ihnen gehört“ und dann irgendwann beschreiben, worum es geht und vielleicht mit einem „Bis dann, freue mich auf Ihre Rückantwort“ abschließen. Der jüngere Mensch wird tendenziell die Beziehungsebene einsparen, da er durch eine Überdigitalisierung und eine endlose Summierung von Informationen gelernt hat, möglichst zu reduzieren. Daher glaube ich, dass es absolut wichtig ist, dass das Erfahrungswissen der Älteren im Umgang mit Menschen an die Jüngeren weitergegeben wird und dass man dies überhaupt thematisiert. Was wir auch brauchen, ist die Erfahrung der Älteren im Umgang mit kritischen Situationen. Einige Zukunftsforscher meinen, dass die ältere Generation dazu beitragen muss, dass die Jugend nicht ins Burnout fällt, da man erst ab einem bestimmten Alter erkennen kann, dass es im Leben verschiedene Entwicklungsschleifen mit unterschiedlichen Aufs und Abs gibt, die einem wiederum erlauben, aktuelle ggf. negative Ereignisse zu relativieren. Dieses Erfahrungswissen kann man an die Jüngeren weitergeben und ich glaube, dass diese es auch gerne in Anspruch nehmen würden.
Inwiefern ist es für Ältere wichtig, sich mit Technologie auseinanderzusetzen? Kann man nicht auch gut ohne den elektronischen Kram leben?
S.G.: Man kann sicherlich ohne die allerneueste App leben, aber man kann nicht langfristig auf eine Reihe von Internetseiten verzichten oder eben auch auf gewisse Apps, die wesentliche Informationen liefern. Unsere Verwaltung – und das ist nicht nur in Luxemburg so – bietet viele Dienste, sei es um Papier oder Personal zu sparen, nur noch online an. Man muss Formulare herunterladen oder etwas in sie eintragen können, und darauf kann man als Älterer in der Zukunft immer weniger verzichten oder man muss es sehr teuer bezahlen. Das ist jetzt schon ein großes Thema bei Überweisungen. Wir neigen zur Annahme, dass „technische Ferne“ eine Alterssache ist. Das stimmt so nicht. Es gibt einfach bestimmte Bevölkerungsgruppen, die dieses Angebot weniger nutzen und wenn man es nicht nutzt, beherrscht man es halt nicht. Nur um das einmal vor Augen zu führen: Um einen Touchscreen zu bedienen, wenn Sie vorher nie einen benutzt haben, müssen erst einmal neue Gehirnzellen entstehen. Wenn Sie auf etwas drücken, erwarten Sie einen Widerstand und wenn Sie diesen plötzlich nicht mehr spüren, ist das für das Gehirn erst einmal eine Herausforderung. Das muss man erst erlernen, und das ist kein angenehmer Prozess, da es am Anfang keinen Spaß macht, neue Herausforderungen zu überwinden. Das Problem ist tatsächlich, dass wir keine endlose Wahlfreiheit mehr haben und ich muss auch zugeben, dass ich mich darüber wundere, dass das nicht mehr reflektiert und infrage gestellt wird. Eine Technik-Skepsis wie die der 80er Jahre, in der symbolisch Computer zum Fenster hinaus geworfen wurden, gibt es nicht mehr, da die Maschine und ihre Bedeutung nicht mehr infrage gestellt werden. Aus dieser Perspektive ist es für mich ganz klar, dass Ältere diese Kompetenz nicht nur aus alltags-praktischen Gründen benötigen, sondern zunehmend auch mit Hinblick auf das soziale Leben und die eigene Gesundheit. Sie werden wahrscheinlich nicht so sehr am Leben Ihrer Enkel teilnehmen können, wenn diese Ihnen nicht einfach mal eben ein Foto schicken können, weil Sie nur das Festnetz-Telefon und auch den alten Computer nur rudimentär benutzen. Wir werden auch immer mehr körperbezogene Daten von uns selbst erfassen, um sie beispielsweise am nächsten Tag an unseren Arzt zu übermitteln.
Wieso raten Sie jedem, sich gut auf die Rente vorzubereiten und die gleiche Selbstdisziplin und die gleiche Zielstrebigkeit im Ruhestand aufzubringen wie im Arbeitsleben?
S.G.: Ich rate das eigentlich, weil man keine 30 Jahre Urlaub machen kann und der Mensch nicht dazu gemacht ist, ziellos und ohne Aufgabe und Rhythmus zu leben. Wir unterschätzen eigentlich, dass in unserem Leben durch die Arbeit sehr viel geregelt ist, eben auch die Zeit der Nicht-Arbeit. Menschen in der Rente sagen ganz oft: „Früher hatte ich wenigstens noch ein Wochenende“, im Ruhestand hört sich das irgendwie lächerlich an, wenn jemand einem ein „schönes Wochenende“ wünscht. Man denkt oft nur an die ganzen Verpflichtungen, die mit der Arbeit verbunden sind, aber nicht daran, dass man alleine dadurch, dass man zu seinem Arbeitsplatz geht, sozusagen „gratis“ soziale Kontakte bekommt, ohne dass man Anstrengungen dafür unternehmen müsste. Man hat auch immer etwas zu erzählen, und wenn man nur über die Arbeit redet oder den Chef, der mal wieder blöd war. Und genau das ist in der Rente nicht mehr der Fall. Wenn man dann keine Ziele hat, verliert man irgendwann die Orientierung und kriegt gar nichts mehr geregelt, obwohl man doch eigentlich Zeit hätte. Das ist tatsächlich ein ganz häufiges Phänomen, das wir immer wieder aus Berichten hören. Disziplin und das Streben nach einem Ziel sind anscheinend auch das Geheimnis der sogenannten „Super-Ager“, also von Menschen ab 80+, denen es gesundheitlich eigentlich noch gut geht. Man hat festgestellt, dass diese Menschen sich immer wieder neue Ziele setzen, auf die sie systematisch hinarbeiten. Das ist sogar daran messbar, dass bestimmte Areale des Gehirns vergrößert waren. Sie kennen das vielleicht auch aus Ihrer Studienzeit, in der man wochenlang gelernt hat und dann plötzlich acht Wochen lang Ferien hatte. Am Anfang freut man sich noch, aber irgendwann werden die einfachsten Sachen schwerfällig, und genau diese Ziellosigkeit ist der Grund dafür.
Wie schwer ist es, bildungsferne Menschen und Migranten nicht nur an digitaler Bildung teilnehmen zu lassen, sondern sie auch wirklich einzubeziehen?
S.G.: Wer mit einfachen Menschen arbeiten will, sollte einfach sprechen. Ich glaube nicht, dass bildungsferne Menschen das Problem sind, sondern die bildungsfernen Angebote. Wir haben eine bestimmte Vorstellung von Bildung und Kultur und ohne dass wir das reflektieren, setzen wir einen bestimmten Gast oder Kunden – den Bildungsbürger – voraus, der eine bestimmte Schulbildung und eine gewisse Grundkenntnis hat. Und dann wundern wir uns, dass es eben auch Leute gibt, die mit dem Angebot nichts anfangen können. Was heißt eigentlich „bildungsfern“? Das bedeutet erst einmal, dass jemand keine entsprechende Sozialisation hatte, in der Bildung und die Investition in Bildung einen größeren Zeitrahmen eingenommen haben. Man ist es also gar nicht gewohnt, irgendwo zu sitzen oder sich vorzubereiten. Dann ist auch naheliegend, dass Leute, die den größten Teil ihres Lebens manuell gearbeitet haben, a) nicht zwangsläufig einen Nutzen in Bildung sehen und b) sich unsicher fühlen. Es können dann ganz komische Ursachen sein, wie beispielsweise die Frage, ob sie gut genug angezogen sind, die den bildungsfernen Menschen abhalten, einen Kurs zu besuchen. Ich habe einmal einen früheren Präsidenten gefragt, ob er denn mit seiner Putzfrau in einem Life Long Learning-Kurs sitzen möchte oder auch umgekehrt, ob er denn glaube, dass seine Putzfrau Lust hätte, mit ihm einen solchen zu besuchen. Und genau darüber wird nicht nachgedacht. Was man aber machen kann, ist den Betreffenden den konkreten Nutzen klarzumachen. Und eben der wird oft gar nicht klar, wenn Sie erst einmal eine Grundeinführung in den Sinn und Unsinn eines Computers kriegen. Wenn dieser Mensch aber sieht, dass er seinem Enkel etwas schreiben oder irgendwo reinsprechen kann, weil er eben nicht so gut schreiben kann und dieser Nutzen durchgängig ersichtlich ist, sieht das schon anders aus.
Was werden Sie persönlich machen, wenn Sie aus dem Arbeitsleben ausscheiden?
S.G.: Ich darf das wahrscheinlich gar nicht sagen, aber mein Traum ist es eigentlich, nicht aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. Ich möchte das, was viele andere auch möchten, nämlich nebenbei noch etwas weiterarbeiten. Am liebsten als Psychologe, weil ich glaube, dass gerade in meinem Bereich Erfahrung tatsächlich etwas sehr Wertvolles ist. Daneben denke ich, so wie wir das auch propagieren, darüber nach, wie ich meine Wohnsituation verändern soll. Gerade weil ich weiß, dass der richtige Wohnort darüber entscheidet, ob ich mit 80+ viel oder wenig zu Fuß gehen werde. Das alles ist aber gar nicht so einfach – gerade mit dem ganzen Wissen. Wenn ich ganz ehrlich bin, befürchte ich, dass ich, trotz aller Vorbereitungen, auch erst einmal in ein Loch fallen werde.
Und dabei müssten Sie es doch besser wissen…
S.G.: Ja, das stimmt. Aber letztendlich ist die Erfahrung durch nichts zu ersetzen. Wenn es mir gelingt, bis 65 zu arbeiten, dann habe ich die Statistik hier im Land schon sehr gesprengt.
Ein schönes Schlusswort! Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview wurde am 26.03.18 geführt. (SC)
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