Ich forsche seit mehreren Jahren im Bereich der virtuellen Realität (VR), einer nicht reellen, simulierten Realität, wie beispielsweise in VR-Headsets oder Videospielen. Als medienpsychologische Wissenschaftlerin untersuche ich dabei weniger die technischen Komponenten, sondern befasse mich damit, wie Menschen VR erleben und wahrnehmen. Seit April 2018 bin ich Doktorandin an der Universität Luxemburg und erforsche, ob und wenn ja, warum sich VR häufig so real „anfühlt“. Konkret beobachte ich unter anderem, wie sich Menschen verhalten, die in einer (virtuellen) moralischen Zwickmühle stecken.
Die „klassische“ Moralpsychologie nutzt bei ihren Untersuchungen von Wertvorstellungen und moralischem Verhalten überwiegend Beispieltexte, um Menschen zu ihrer Moralität zu befragen. Ein prominentes moralisches Dilemma ist zum Beispiel das Trolley-Problem: Stellen Sie sich vor, Sie beobachten einen außer Kontrolle geratenen Wagon, welcher auf eine Gruppe von fünf Personen zufährt. Würden Sie eine Weiche per Hebel umstellen, damit statt der fünf nur eine Person überfahren wird? Oder würden Sie eine sehr dicke Person auf die Gleise stoßen, die stattdessen überfahren, der Wagen dadurch aber gestoppt wird, sodass die fünf Personen gerettet werden? Obwohl in beiden Szenarien eine ähnliche Entscheidung gefällt werden muss (eine Person versus fünf Personen), bedienen Menschen lieber einen Hebel, um die eine Person zu „opfern“, anstatt jemanden aktiv auf die Gleise zu stoßen.
Trotz der spannenden, daraus gewonnenen Erkenntnisse wirken solche Textvignetten eher abstrakt und konstruiert. Daher präsentiere ich in meinen Studien moralische Dilemmata virtuell, so dass sich Teilnehmer*innen besser in die Situation hineinversetzen können. Die Ergebnisse, die ich dadurch erhalte, sind also unter Umständen lebensnäher. Somit können wir besser erklären, wie sich Personen verhalten würden, wenn sie in der echten Welt mit einer moralischen Entscheidung konfrontiert werden.
Beispielsweise habe ich in meiner aktuellen Studie Teilnehmer*innen ein sehr filmisch-narratives Videospiel (Detroit: Become Human) spielen lassen, das Spieler*innen mit mehreren moralischen Entscheidungen konfrontiert. Obwohl es sich in diesem Spiel um virtuelle Charaktere handelt, empfanden die Teilnehmer*innen Empathie, verhielten sich überwiegend prosozial und fühlten sich schlecht, wenn ihre Entscheidung im Spiel negative Konsequenzen hatte.
Mit Forschungen wie dieser möchte ich auch zeigen, dass virtuelle Realität und Videospiele ein enormes Potenzial haben, spannende und emotionale Geschichten erzählen und Emotionen und Empathie wecken zu können. Ältere Medien wie Film und Fernsehen sind schon länger dafür bekannt, dass sie mehr auslösen können als lediglich Spaß und Unterhaltung. Pendants zu Film-Dramen wie Schindlers Liste, die tragische und berührende Geschichten erzählen, finden sich immer öfter auch im Gaming-Bereich (z.B.: Life is Strange, Limbo, Through the Darkest of Times).
Forschungen zu moralischen Entscheidungen in VR und Videospielen können außerdem neue Impulse in der andauernden Debatte um gewalthaltige Videospiele geben. Unter welchen Umständen ist virtuelle Gewalt ertragbar, akzeptabel oder sogar unterhaltsam? In welchen Situationen würden selbst alteingesessene Gamer*innen Schuldgefühle entwickeln oder sogar ablehnen? Und welche Persönlichkeitsmerkmale spielen dabei eine wichtige Rolle?
Dass Videospiele immersive Welten kreieren können, die Nutzer*innen vereinnahmen, konnte ich auch in einem anderen, interdisziplinären Projekt zum Thema Schmerzwahrnehmung feststellen. Zusammen mit Kolleginnen der Universität Luxemburg fanden wir in einer Laborstudie heraus, dass Personen, die in ein forderndes VR-Spiel vertieft waren, weniger Schmerz empfanden. Dieser Ablenkungseffekt ist eine vielversprechende Möglichkeit zur akuten Schmerzbehandlung und wird teilweise bereits im medizinischen Bereich genutzt, da diese Methode weniger Nebenwirkungen hat als eine klassisch pharmakologische Behandlung.
Am meisten fasziniert mich an meiner Forschung die Vielseitigkeit von VR. Mittlerweile gibt es zahlreiche Anwendungsfelder im Bereich der Unterhaltung, Medizin, Training, Tourismus, Architektur oder Pädagogik. Ich hoffe also auf viele weitere, spannende Forschungsjahre mit interdisziplinären Projekten, die uns helfen zu verstehen, wie und warum VR funktioniert.
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