Woran forschen Sie?

Harry Lehmann

Mein Weg zur Kunstphilosophie nahm mit einem Physik­studium seinen Anfang. Aufgewachsen in Ostdeutschland, machte ich zunächst mein Abitur an einer Spezialschule für Mathematik und Physik in Dresden. Obwohl ich mich bereits damals stark für Philo­sophie und Kunst interessierte, kam für mich ein Philosophie­studium in der DDR nicht infrage. Das Studium war zu dieser Zeit ideologisch hochgradig aufgeladen und lief praktisch auf ein Studium des Marxismus-Leninismus hinaus. Unter diesen Umständen studierte ich zunächst Physik, und als es während meines Studiums plötzlich zum „Fall der Mauer“ kam, habe ich mein Physikstudium abgeschlossen und anschließend ein Zweitstudium der Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin begonnen. 

Nach Abschluss meiner kunstphilosophischen Dissertation Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann (2006) konnte ich mich in Berlin als freier Autor in verschiedenen Kunstszenen etablieren und schrieb eine Vielzahl von Katalogtexten für bildende Künstler und Programmhefttexte für Komponisten. Inzwischen habe ich sechs Bücher über Kunst- und Musikphilosophie publiziert, wobei zu meinen beiden wichtigsten Veröffentlichungen Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie (2012) und Gehaltsästhetik. Eine Kunst­philosophie (2016) zählen. Gerade in der letzten Woche ist der Band Musik und Wirklichkeit. Musikphilosophische Modelle (2023) erschienen. Er belegt Hypothesen aus der „Digitalen Revolution“ mit konkreten Werkanalysen aus der Kunstmusik, die in den letzten Jahren uraufgeführt wurden. Ich entwickele in dem Band auch eine Reihe von Theorie­modellen, welche die von der digitalen Revolution getriggerten Transformationsprozesse in der Kunstmusik anschaulich vermitteln sollen – wobei meine Vorliebe für solche Modelle sicherlich auf meine erste Ausbildung als Physiker zurückgeht.

Mein gegenwärtiges kunstphilosophisches Interesse gilt den Auswirkungen der künstlichen Intelligenz (KI) auf die Künste. 

Ein Credo meiner Arbeit lautet, dass die Kunst- und Musik­philosophie auf einen direkten Kontakt zu Künstlern und Komponisten angewiesen ist und ihren Anfang in der konkreten überraschenden oder sogar verstörenden ästhetischen Erfahrung nehmen muss. Die philosophische Ästhetik ist vor allem dann produktiv, wenn sich ein komplementäres Verhältnis zwischen Anschauung und Begriffen herausbildet. Ich entwickele entsprechend nicht nur philosophische Theorien über Kunst und Musik, sondern baue parallel dazu immer auch Werkanalysen in die Texte ein.

Mein gegenwärtiges kunstphilosophisches Interesse gilt den Auswirkungen der künstlichen Intelligenz (KI) auf die Künste. Man kann geradezu in Echtzeit beobachten, wie sich heute neue Genres der KI-Kunst und KI-Musik ausbilden, was erhebliche Auswirkungen auf die Künste haben wird. So entsteht eine Überfülle von KI-generierter Kunst und Musik. Diese lässt sich auch von Laien herstellen, die sich dann wiederum selbst als Künstler oder Komponisten bezeichnen. Entsprechend stellen sich die alt­bekannten Fragen zur Autorschaft, zur Vermarktbarkeit oder zum Copyright von Kunst in einer nie dagewesenen Vehemenz. Das tangiert nicht nur Geschäftsmodelle, sondern auch die Selbst­bilder von Künstlern und Komponisten. Zudem verändern sich die Rezeptionsweisen und das Publikum von Kunst und Musik.

Man hat es mit einer genuin „philosophischen Situation“ zu tun, weil sich nicht nur die künstlerische Praxis verändert, sondern – so meine Arbeitshypothese für einen eben gestellten Core-Antrag über „KI-Ästhetik“ –, weil die KI-getriebene Innovation auch die Bedeutung von grundlegenden ästhetischen Kategorien verändert. Dazu gehören „Kreativität“, „Authentizität“, „Werk“, „Originalität“ und selbst „Kunst“ und „Musik“. 

Genau hier eröffnet sich ein genuines Aufgabenfeld für die Kunst- und Musikphilosophie, welche diese Umbruchprozesse nicht nur reflektiert, sondern für diese Reflexion auch die entsprechenden Beschreibungsmittel entwickelt. Es wird in dem Projekt „KI-Ästhetik“ also vor allem darum gehen, neue Begriffe zu prägen (wie übrigens auch den der „KI-Ästhetik“ selbst), die Bedeutung alter Begriffe im Lichte der neuesten Phänomene der KI-Künste neu zu bestimmen und mithilfe von Theorie und Modellen das Verhältnis der KI-generierten Kunst zu den kanonischen Werken der „analogen“ Kunst und Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu überdenken.  


Harry Lehmann ist Philosoph mit dem Schwerpunkt Kunstphilosophie, Musik-philosophie, Systemtheorie, philosophische Ästhetik und KI-Ästhetik.

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