- Neuerscheinungen, Politik
Yanis Varoufakis: Adults in the Room
Die scharfe Europakritik eines überzeugten Europäers
Rechtzeitig zur Urlaubssaison ist der wahrscheinlich spannendste Politthriller des Jahres erschienen. Das Beste daran: er ist dokumentarisch. Mit Adults in the Room hat der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis seine Memoiren von 2010 bis 2015 publiziert. Was man als Rechtfertigung seiner Positionen lesen kann, ist vor allem ein faszinierender Blick hinter die Kulissen europäischer Politik.
Der griechische Staat braucht gerade wieder finanzielle „Hilfe“. Dem Land droht – wieder einmal – die Pleite. Die Eurogruppe einigte sich vor kurzem, mit einem neuen Milliardenpaket beizuspringen. Eine der im Norden dazu erzählten Geschichten geht folgendermaßen: Wir helfen den armen Griechen zum Erhalt der Einheit Europas und zwingen sie im Gegenzug, sich von Rückständigkeit und Korruption zu befreien. Das neue Buch von Yanis Varoufakis präsentiert eine alternative Geschichte, in der der Autor mit diesen selbstgefälligen Illusionen der Nordeuropäer aufräumt, gleichzeitig – und das ist noch viel spannender – zeigt es am Beispiel der Griechenlandkrise, wie europäische Politik hinter verschlossenen Türen abläuft.
Varoufakis Schilderung des Hergangs der Griechenlandkrise ist nicht neu: Das bankrotte Griechenland wird 2010 gestützt, um die Gläubiger zu schützen, d.h. den Fall deutscher und französischer Banken zu vermeiden. Ein erstes „Hilfspaket“ des Internatio-nalen Währungsfonds und der Europäischen Union ermöglicht dem Land, seine privaten Kredite zurückzuzahlen. Weitere „Hilfsmaßnahmen“ folgen, damit Griechenland eben jenen neuen Kreditzahlungen nachkommen kann. Varoufakis erklärt, warum dieser Plan finanzpolitisch nicht aufgeht: Die gewährten Kredite haben Auflagen, die den notwendigen Aufschwung verhindern, sie sind also nicht nachhaltig und Griechenland steckt seither in einem Teufelskreis aus Schulden und Austerität. Doch auch das sei Teil des Plans. Varoufakis zufolge wollen die europäischen Geldgeber, allen voran Deutschland, mit diesen Maßnahmen an Griechenland ein Exempel für weniger disziplinierte Euroländer wie Frankreich und Spanien statuieren. Der Kollateralschaden wird dabei in Kauf genommen: die immer tiefer werdende soziale und humanitäre Krise in Griechenland. Darüber hinaus verstärke diese Haltung der Eurogruppe die Imagekrise der Europäischen Union, indem sie sie als undemokratisches, unsolidarisches, neoliberales Monstrum erscheinen lasse.
Bekanntlich nahm der Autor direkt an den Geschehnissen teil. Das Buch schildert, wie der Wirtschaftsprofessor Varoufakis nach 2010 die unmögliche Lage seines Landes erkennt und als Parteiloser auf Wunsch der linken, pro-europäischen Syriza Partei einen Gegenplan ausarbeitet. Als Finanzminister setzt er ab Februar 2015 in den Verhandlungen die europäischen Partner unter Druck. Er möchte die Schulden nicht aufheben, sondern im Interesse aller nachhaltig gestalten. Eine Umschuldung gäbe Griechenland den notwendigen Auftrieb, um aus dem Teufelskreis herauszubrechen und die Schulden langfristig ohne weitere „Hilfspakete“ selbst tragen zu können. Für diese Maßnahmen, die in der Privatwirtschaft üblich sind, erhielt der links-außen Politiker sogar die Unterstützung der Wall Street, der Londoner City, sowie namhafter rechts-konservativer Politiker. Sollten jedoch die Geldgeber für diese Vorschläge nicht offen sein, wäre Griechenland bereit, aus dem Euro auszutreten.
Doch das Buch beschreibt die Geschichte eines mehrfachen Scheiterns. Varoufakis scheitert zuerst an den Gläubigern – der Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfond und Europäischer Kommission. Diese trifft sich regelmäßig mit Varoufakis in der Eurogruppe; dort jedoch haben die nationalen Finanzminister, und insbesondere Wolfgang Schäuble, das Sagen. In einem zweiten Schritt scheitert er an seinem Ministerpräsidenten, den – laut Varoufakis – der Mut verlässt, den gemeinsamen Plan durchzuziehen, und dem es am Ende mehr um die Sicherung der eigenen Macht, als um seine politischen Prinzipien ging. Doch so scheitert zuletzt auch Griechenland, dessen Politiker sich immer wieder von der Eurogruppe über den Tisch ziehen lassen.
Auch wenn diese Geschichte als solche nicht neu ist, wird sie kohärent und detailreich geschildert. Spannender noch ist der Blick hinter die Kulissen: Wie funktioniert europäische Politik? Wer zieht die Strippen? Was wird im Verborgenen besprochen und wie nach außen präsentiert? Varoufakis beschreibt, wie individuelle Vorgespräche oft im herzlichen Einvernehmen stattfinden, die Treffen in erweiterter Runde mit harten Bandagen ausgetragen werden, bei der nachfolgenden Pressekonferenz die Situation aber fälschlich beschönigt oder mit überzogener Kritik dargestellt wird. Was das Buch eher wie Belletristik lesen lässt, ist die regelmäßige Verwendung von Dialog. Dieser basiert nicht nur auf Erinnerungen und persönlichen Notizen, sondern auch auf Aufnahmen, die der Autor heimlich mit seinem Mobiltelefon machte.
Die Protagonisten zeichnet Varoufakis mit Liebe zum Detail und fast schon mit Sympathie für ihre, doch zumeist tragischen Rollen. Hochkarätig sind sie allemal. Sie reichen von der politischen Klasse in Athen, über den IWF, die EZB und die Eurogruppe bis zu den Regierungen in Großbritannien und den USA. Selten greift Varoufakis seine Gegenspieler persönlich an, versteht er doch meist ihre Lage und Beweggründe sehr gut. Vor allem deren Mangel an Rückgrat stößt ihm regelmäßig auf, gelegentlich auch deren blinde Starrsinnigkeit. Varoufakis skizziert das Bild einer Verschwörung ohne Verschwörer: Das vereinigte Europa scheitert an den guten Absichten einer neoliberalen Hegemonie. Seine Abrechnung schreibt er bewusst als Tragödie und verweist selbst auf literarische Parallelen bei antiken Dichtern oder bei Shakespeares King Lear.
Doch nicht alle Protagonisten erscheinen in Grautönen. Der Autor selbst ist eine Ausnahme: Er ist ein Zuhörer, Tag und Nacht im Einsatz, immer freundlich, immer kompromissbereit. Seine Modelle sind immer die besseren. Am Ende opfert er sich dem Allgemeinwohl. Vielleicht soll dies nur die Tragik der eigenen Rolle zum Ausdruck bringen, aber einseitig erscheint es schon. Varoufakis Scheitern scheint nämlich nicht nur an der Haltung anderer zu liegen, sondern zum Teil auch an seiner eigenen. Er legt den Habitus des rebellischen Professors nie ab, überträgt auf die Politik die Spielregeln und Gepflogenheiten der Universität. Zu spät merkt er, dass es in der Politik nicht um die gemeinsame Suche nach Wahrheit geht und dass seine Direktheit und sein Auftreten ohne Krawatte als Provokationen wahrgenommen werden.
Dennoch handelt es sich um ein wichtiges Buch für unsere Zeit, da es einige zentrale Probleme Europas auf den Punkt bringt.
Erstens, das europäische Demokratiedefizit: Die eigentliche finanzpolitische Macht der EU liegt bei der Eurogruppe, einem Gremium, dessen Arbeit nicht öffentlich ist und, da es nirgends rechtlich verankert ist, auch keinem Regelwerk unterliegt. Dieses im Buch genannte Beispiel ist nur eins von mehreren.
Zweitens, der Mangel an europäischer Solidarität: Der Norden dominiert den Süden wirtschaftlich und finanzpolitisch, nicht zum allgemeinen Wohl, sondern meist aus Eigeninteresse. Der Norden ist bereit, ein Mitgliedland in eine soziale Krise zu stürzen und ihm anschließend einen Teil seiner Souveränität zu nehmen, so z.B. als die griechische Steuerverwaltung teilweise direkt der Troika unterstellt wurde.
Drittens, die Währungsunion: Die Griechenlandkrise zeigt wie die strukturellen Mängel des Euros, wie etwa eine fehlende gemeinsame Steuerpolitik, zu einer fundamentalen politischen Krise der gesamten politischen Union führen können.
Viertens, der Mangel an politischen Visionen für Europa: Seit den gescheiterten Referenden zur EU-Verfassung 2005 und der Finanzkrise von 2008 sucht Europa weiterhin nach einem neuen Leitbild. Der Vertiefungsprozess stockt, das Europa der Nationen riskiert, das Rad zurück zu drehen, der neoliberale Status-quo verstärkt den sozialen Unmut.
Varoufakis selbst drängt darauf, diese multiple Krise zu lösen. Denn ohne politische Lösung, ohne den Respekt vor demokratischen Prinzipien, ohne das Wiedererstarken des Sozialstaats prophezeit er den weiteren Aufstieg von Rechtsextremismus und tribalistischem Populismus. Um seinen eigenen Beitrag zu leisten, hat Varoufakis kürzlich die Plattform DiEM25 (https://diem25.org/) als europaweite Bewegung progressiver Parteien gegründet.
Adults in the Room: My Battle With Europe’s Deep Establishment ist im Mai bei Bodley Head auf Englisch erschienen. Die deutsche Übersetzung erscheint als Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment voraussichtlich Ende September.
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